Leon Lichtenberg

Hey Joe


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mit Steinen, Sand und Kies und einer Lagerhalle, auf der anderen Seite stand ein nagelneuer weißer Bungalow. Und daneben standen der schwarze zweihunderter Mercedes von Manuelas Vater und ein weißes Karmann-Ghia-Cabriolet. Vor dem Benz hatten zwei Männer jeweils ein Bein auf die chromblinkende Stoßstange gestellt. Mit einer Bierflasche in der Hand stützten sie sich auf dem Oberschenkel ab und unterhielten sich angeregt. Wie sich herausstellte, war der Linke mit Lederjacke und Pepita-Hut Manuelas Vater. „Oh Kindchen, gerade als ich losfahren wollte, kam der August und wollte noch was bestellen. Und dann haben wir uns verquatscht. Ich wäre aber sofort losgefahren“, wandte sich der Baustoffhändler an seine Tochter. „Ist nicht so schlimm, Hans-Joachim hat mich mitgenommen, der fuhr hier sowieso lang“, säuselte Manuela. „Nett von dir, Junge! Willst du auch ein Bier?“ Er hielt Jo seine große Pranke hin und zerdrückte seine Hand fast, solch einen festen Griff hatte er. „Nein danke, ich muss jetzt auch nach Hause fahren“, beeilte sich Jo, der keine Lust auf ein Elterngespräch hatte. „Hallo Mutti.“ Manuelas Mutter erschien in der Haustür. Sie sah ein wenig aus wie eine Ärztin, mit hochhackigen Schuhen, einem dunklen Rock, von dem man nur die unteren zehn Zentimeter sah und darüber einem weißen Kittel. Mit ihrer blonden Dauerwelle sah sie aus wie die Schwester von Doris Day. Sie wirkte sehr gepflegt im Gegensatz zu dem Vater, der gut auf den Bau passte. Jo gab ihr die Hand zur Begrüßung und verabschiedete sich auch sofort. „Wir sehen uns ja morgen in der Schule“, sagte er noch zu Manuela und brauste dann ab. Mit Verwunderung hatte er registriert, dass sie ihrem Vater gegenüber seinen Namen genannt hatte. Sie schien doch mehr über ihn zu wissen als er vermutet hatte.

      VI

      Am nächsten Tag in der großen Pause waren sie sich natürlich wieder begegnet. Manuela hatte ihn in der ersten Runde tatsächlich angelächelt. Bei den weiteren Aufeinandertreffen war sie allerdings in Gespräche mit ihren Freundinnen vertieft und hatte ihn nicht weiter beachtet. Dann war Jens noch angekommen: „Na, mein Lieber, läuft da was mit der Süßen. Das ist mir gestern Abend doch nicht entgangen. Willst mir doch nicht etwa in die Quere kommen?“ Jo ging nicht darauf ein. Vermutlich war Jens mit seiner großen Klappe nur etwas geschockt, dass ausgerechnet er sich eine gute Ausgangsposition bei Manuela verschafft hatte.

      Die neuesten persönlichen Entwicklungen nahmen jetzt Einfluss auf seine mittelfristige Planung. Er hatte sich vorgenommen, mit den Jungs aus dem Dorf nicht mehr so häufig und so brutal zu saufen. Er wollte auch nichts mit Mädchen anfangen, erst recht nicht mehr mit Ingrid. Vielmehr sollten für das nächste halbe Jahr alle Kräfte auf das Abi konzentriert werden. Andererseits schien sich plötzlich eine einmalige Gelegenheit zu bieten, ein echt tolles Mädchen aufzureißen und eine feste Freundin zu haben.

      Bei den Frauen schien er im Augenblick erstaunlicherweise insgesamt auf größere Aufmerksamkeit zu stoßen. Manchmal war es vielleicht besser, Dinge einfach so auf sich zukommen zu lassen als krampfhaft danach zu suchen. Die große Yvonne hatte tatsächlich ihr Versprechen wahr gemacht und ihm ihre Nachhilfe in Latein angeboten. Er war schon drei oder vier Mal nachmittags zu ihr nach Hause gefahren, und sie hatte ihm die Grundlagen der Grammatik verklickert. Das hatte ihn wirklich weiter gebracht, so dass er selbst in Latein noch etwas Licht am Ende des Tunnels sah. Das Faszinierendste an diesen Nachhilfestunden war aber das Haus von Vonnes Eltern. So etwas hatte er noch nie von innen gesehen. Die hatten eine riesige Villa an einem Hang. Die Tür wurde von einer Haushälterin geöffnet, so richtig klassisch mit einem kleinen weißen Schürzchen, die ihnen dann auch noch Tee ins Zimmer brachte. Der Hammer aber war das Wohnzimmer, das wohl größer war als das gesamte Haus von Jo´s Eltern. Und daneben befand sich noch eine Bibliothek, rund herum mit Regalen bis unter die Decke vollgestopft mit Büchern. Ihr eigenes Zimmer hatte sogar eine Sitzgruppe und einen eigenen Balkon. Und irgendwie taten alle in dem Haus so, als ob solche Verhältnisse das Selbstverständlichste wären.

      Jo hatte keine Ahnung, warum Vonne sich auf diese Weise mit ihm abgab. An ihm als Mann hatte sie sicherlich kein Interesse. Am Wochenende sah er sie hin und wieder mit ihrem Freund, dem Medizinstudenten aus Münster, in der Stadt. Da kam sie ihm dann schon sehr erwachsen vor, wie von einem anderen Stern. Vielleicht wollte sie ihr soziales Gewissen beruhigen, das schien in der Familie zu liegen. In der Zeitung hatte Jo gelesen, dass ihr Vater der Präsident vom örtlichen Lions-Club war. Präsident klang auch schon sehr bedeutend. Das schien auch so ein Verein zu sein, in dem reiche Leute sich zusammenfinden, um Gutes in der Welt zu tun und sich dabei selbst auch gut finden. Den Vater hatte er allerdings noch nie im Haus angetroffen.

      Jo bewunderte sie alle insgeheim, Vonne und Jule, Jürgen, Jens, Uwe und die anderen aus seiner Klasse. Die hatten alle bisher ein völlig anderes Leben geführt als er. Das hatte schon damit begonnen, dass sie im Kindergarten gewesen waren und sich schon von klein auf kannten. Wahrscheinlich hatten sie in den großen Stadthäusern schon gemeinsam ihre Kindergeburtstage gefeiert. Später hatten sie dann nachmittags Blockflöte oder Klavierspielen gelernt. Und die meisten von ihnen waren im Tennisclub. Da traf sich alles, was in Lüdecke Rang und Namen hatten, so hatte Jo´s Mutter jedenfalls behauptet.

      Er wohnte höchstens fünfzehn Kilometer entfernt und war doch in einer ganz anderen Welt aufgewachsen. Jo konnte keine Blockflöte spielen geschweige denn Klavier. Er konnte nicht mal Noten lesen, was ihm im Musikunterricht häufig das mitleidige Lächeln der Anderen eingebracht hatte. In Langhorst hatte es keinen Kindergarten gegeben; da waren sie auf den Bauernhöfen mit den Tieren und den Indianerspielen im Wald groß geworden. In der Volksschule hatte es dann zwei Klassenräume gegeben und zwei Lehrer. Im ersten waren die Kleinen der Schuljahre eins bis vier und im zweiten die Größeren bis zur Abschlussklasse acht. Da musste der Lehrer schon ein Multitalent gewesen sein, das parallel vier verschiedenen Gruppen etwas Sinnvolles beigebracht hatte. Für ein Jahr war er auch mal mit seiner Schwester in einem Klassenraum gewesen. Aber die hatte dann immer so getan als würde sie ihn gar nicht kennen.

      Am Gymnasium hatte er dann später gehört, dass man so etwas Zwergschule nannte. Ein wenig kam er sich auch vor wie ein Zwerg in diesem System. Er hieß nicht nur Bauer, er fühlte sich auch so. Vor diesem Hintergrund war es überhaupt schon erstaunlich, dass er jetzt kurz vor dem Abi stand. Aber am Gymnasium hatte er schon einen Minderwertigkeitskomplex, und das war ihm durchaus bewusst. Ihm fehlte da einfach der Stil, das was man so die bürgerliche Attitüde nannte. Und dazu schien nun mal Latein zu gehören, obwohl ihm auch nicht im Geringsten einleuchtete, warum man diese tote Sprache rein praktisch beherrschen sollte, also außer zum Zitieren überflüssiger Sprüche wie „quod erat demonstrandum“. Das hätte man seiner Meinung nach auch einfacher sagen können. Er fühlte sich als schüchternes Kerlchen in dieser Umgebung, aber in Langhorst wuchs er auch langsam aus den engen Beziehungen heraus. Dabei wusste er nicht im Entferntesten, was er wirklich mit seiner Zukunft anfangen wollte. Seine Schwester war ihm jedenfalls kein Vorbild, auch wenn es die Mutter gerne so gehabt hätte. Aber es wurde jetzt mal Zeit, sich ernsthafte Gedanken über das weitere Leben zu machen. Er hatte nur niemanden, der ihm dabei Ratschläge geben konnte.

      Ein Grundproblem war, dass er sich eigentlich für keines der Abi-Fächer wirklich und echt interessierte. Gut, Erdkunde hatte er ganz interessant gefunden, aber das war nach der Ober-Sekunda abgeschlossen worden. Dafür hatten sie jetzt Gemeinschaftskunde. Das war ein Sammelsurium, in dem man im Prinzip alles machen konnte. Hotzenplotz hatte sich ohne Rücksprache mit den Schülern für Geschichte entschieden, nicht für Erdkunde, konnte er wohl am besten, war aber ziemlich langweilig. Dann gab es auch noch Religion. Jo war mit sechzehn aus der Kirche ausgetreten, ohne seinen Eltern etwas davon zu erzählen. Er hatte keine Lust mehr auf diese blumigen Bibelgeschichten gehabt.

      Mit Oberstudienrat Steinkamp hatten sie in der Unterprima aber einen außergewöhnlichen Religionslehrer bekommen. Steinkamp war ein Feingeist. Man sah es ihm schon an. Er hatte im Gegensatz zu den anderen Lehrern mit ihren immer etwas zu klein geratenen Anzügen und ihrem militärischen Faconschnitt eine mächtige, lockige Mähne, die weit über den Kragen reichte. Dazu trug er elegante zweireihige Anzüge, die nach viel Geld aussahen. Und er fuhr ein Cabriolet, einen DKW AU 1000 SP Roadster mit roten Ledersitzen. Und wenn es nicht gerade heftig regnete, fuhr er offen. Dabei trug er eine graue Autofahrerkappe wie früher Rudolf Caracciola. So war sonst kein Lehrer. Steinkamp wirkte neben den akademischen Spießern wie ein lässiger Dandy. Er wohnte auch