Leon Lichtenberg

Hey Joe


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meinte Jens, der sich dabei auf die Kenntnisse seines Vaters bezog. Die anderen konnten mit dieser Aussage nicht viel anfangen. Jens ergänzte: „Die hat sich mit einem Neger von den Ami-Soldaten eingelassen, versteht ihr das nicht.“

      In der großen Pause war das dunkelhäutige Mädchen dann der Hingucker. Yvonne hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihr die Einführung in der Schule etwas zu erleichtern und sich um sie zu kümmern. Da hatte der Wunsch ihres Vaters sicherlich auch eine Rolle gespielt. Zusammen mit Jule hatten sie Clarissa in die Mitte genommen und untergehakt. So hatten sie dann auf dem Schulhof ihre Runden gedreht. Es war auffällig, dass an diesem Tag besonders viele Gruppen, vor allem der Jungs, ihre Runden in entgegengesetzter Richtung machten, um so einen Blick auf das fremdartige Wesen zu werfen.

      Dazu muss erwähnt werden, dass man in Lüdecke praktisch keine Erfahrungen mit Negern hatte. Wenn die Tommies Manöver machten, sah man schon mal unter den englischen Soldaten einen Dunkelhäutigen. Jo hatte mal einen gesehen, der war so richtig schwarzbraun wie er das überhaupt nicht für möglich gehalten hatte. Clarissa aber war gar nicht so dunkel, eher so milchschokoladenbraun, eben ein Mischling. Es war klar, dass sie auf jeder Runde von allen angegafft wurde. Sie nahm das scheinbar gar nicht mehr wahr. Die drei Mädchen waren in ein Gespräch vertieft und lachten dabei. Jo fand es eigentlich auch blöd, sie anzustarren. Er redete mit seinen Klassenkameraden, und als sie auf die Mädchengruppe trafen, schaute er im letzten Augenblick nur einmal ganz kurz auf, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Sie war groß und schlank gewachsen. In der engen Jeans und einer kurzen Jacke sah sie knackig aus, da hatte Jens nicht zu viel versprochen. Das Besondere aber war ihre Frisur. Sie hatte so viele Haare auf dem Kopf wie Jo es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte, jedenfalls nicht lebendig vor sich. In der ´pardon´ (vielleicht war es aber auch die Konkret) hatte er ein Bild von Angela Davis gesehen, einer amerikanischen Frau, die gegen die Rassentrennung in den USA kämpfte und jetzt in Frankfurt studierte. Die hatte auch so einen Ballon aus schwarzen, krausen Haaren auf dem Kopf.

      In der zweiten Pause kam dann Manuela zu Jo. Sie hatte sich mittlerweile wieder etwas beruhigt. Sie erzählte ihm, dass Studienrat Päffken im Geographieunterricht gemeint habe, dass neue Mädchen würde sicherlich nicht lange an der Schule bleiben. „Für negroide Menschen ist das mitteleuropäische Klima völlig ungeeignet, außerdem bringen sie in den seltensten Fällen genügend Intelligenz für ein deutsches Abitur mit“, war seine Begründung dafür. Manuela hielt das für eine gewagte Aussage; Jo hatte keine Meinung dazu.

      Am Nachmittag war er noch einmal von zu Hause aus nach Lüdecke in einen Blumenladen gefahren. Er wusste nicht genau, was ein angemessenes Präsent für Manuelas Mutter sein könne, um den Ärger etwas verfliegen zu lassen. Die Verkäuferin hatte ihm den Zweig einer Orchidee empfohlen. Der hatte mindestens zehn lila Blüten und sah sehr exklusiv aus. Er bekam gegen Austrocknung ein mit Wasser gefülltes Plastikröhrchen übergesteckt. Dann wurde er in eine durchsichtige Schachtel auf weißes Seidenpapier gelegt. Das kostete Jo die für ihn nicht unbeträchtliche Summe von sechs Mark fünfzig. Damit fuhr er dann nach Langenheide.

      Vorsichtshalber ließ er seinen Wagen an der Straße auf einem Grünstreifen stehen und ging den Rest zu Manuelas Haus zu Fuß. Natürlich sah er sofort die hellere Platte auf der Garageneinfahrt. Dramatisch schlimm sah es seiner Meinung nach nicht aus. Nach ein paar Regenschauern wäre vermutlich kein Unterschied zu den anderen Platten mehr zu sehen. Er machte einen Bogen um die neue Platte und klingelte. Manuelas Mutter öffnete die Tür. Sie sah aus wie immer, so als ob sie gerade vom Friseur gekommen wäre. „Wie die deutsche Sparausgabe von Doris Day“, dachte er kurz.

      „Guten Tag Frau Bölling. Ich habe von Manuela gehört, dass ich Ihnen am Wochenende viel Ärger bereitet habe. Das tut mir aufrichtig leid. Ich versichere Ihnen, dass das bestimmt auch nie wieder vorkommen wird. Ich würde mich freuen, wenn sie diese kleine Aufmerksamkeit zur Entschuldigung annehmen würden. Ich weiß schon, dass ich den Schaden damit natürlich nicht ungeschehen machen kann. Wenn ich sonst noch irgendetwas in dieser Angelegenheit zur Wiedergutmachung tun kann, dann lassen sie es mich bitte wissen“. Jo hatte ein solches Feuerwerk abgeschossen, dass die Mutter dagegen natürlich auf verlorenem Posten stand. „Oh was für eine schöne Orchidee“, flötete sie, „so schlimm war es nun auch wieder nicht. Aber gerade im letzten Jahr haben wir hier die neuen Platten bekommen.“

      Manuela war nicht zu sehen. Mittlerweile hatte sich Frau Bölling wieder gefangen. Eigentlich hatte sie Jo nicht so freundlich begegnen wollen. „Herr Bauer, ich weiß nicht so recht, ob für Manuela der Umgang mit Ihnen das Richtige ist. Sie hat mir erzählt, sie sei mit Ihnen Samstag im Jazz-Club gewesen. Das ist eigentlich nicht die Musik, die wir für angemessen halten. In unserem Haus wird eher die ernste Musik gepflegt. Außerdem muss ich Ihnen sagen, dass Manuela mit ihren siebzehn Jahren für ein flüchtiges Abenteuer zu jung ist. Da müssen wir unsere schützende Hand über sie halten.“

      Er hatte es doch gewusst. Die Alte wollte sie beide auseinander haben. „Das weiß ich doch, und Sie können ganz sicher sein, dass ich das in jedem Fall respektiere.“ Jo wollte sich hier keine Blöße geben. Da Manuela immer noch nicht aufgetaucht war, verabschiedete er sich höflich von ihrer Mutter. „Frau Bölling, Sie können sich ganz sicher auf mich verlassen!“ Das hieß erst einmal nicht viel, aber hinterließ dennoch einen beruhigenden Eindruck, wie er glaubte. Auf dem Weg zurück zu seinem Auto sah er Manuelas Vater, wie er gerade in einen Baulaster steigen wollte. Der winkte ihm fröhlich zu. Das Problem schien nur die Mutter zu sein.

      XI

      Es war Ende Mai, und die schriftlichen Abiturprüfungen standen vor der Tür. Das war schon ein Hammer, in einer Woche mussten vier fünfstündige Klausuren geschrieben werden. Aber wie schon nach der Versetzung in die Oberprima vermutet wurde, waren die höchsten Hürden scheinbar schon genommen. Bei dem letzten Zwischenzeugnis Anfang April hatte Jo jedenfalls keine Fünf bekommen. Sogar in Latein hatte er mit der gütigen Hilfe von Vonne und eine paar Spickzetteln eine Vier ergattert. Da Latein kein schriftliches Abi-Fach war, hatte er jetzt sogar schon vorweg das große Latinum. Damit hätte er im Prinzip sogar Theologie oder Medizin studieren können. Aber das waren wirklich nur theoretische Überlegungen.

      Die Prüfungen begannen mit Mathe. Das war kein sonderlich großes Problem für ihn. Er rechnete mit einer soliden Drei. Danach war Französisch dran. Das war schon schwieriger, aber Jo hatte sich in den letzten Monaten einen begrenzten Grundwortschatz angeeignet, mit dem er auch kompliziertere Sachverhalte geschickt umschreiben konnte. Das klang dann zwar nicht besonders elegant, führte aber dazu, dass unter dem Strich nur wenige Fehler standen. Die Zahl der Fehler war aber der entscheidende Maßstab zur Bewertung. Das war so simpel. Auch da war also nicht mit einem Abrutschen zu rechnen. Dann kam Deutsch. Davor hatte er echten Bammel. Zwar gab es eine Auswahl zwischen drei verschiedenen Aufgaben, aber bei Hotzenplotz wusste man nie, was er sich so ausgedacht hatte.

      Es kam dann auch schlimm. Die Auswahl bestand zwischen der Interpretation eines Gedichtes von Wolfgang Borchert, einer saublöden und völlig unbekannten Kurzgeschichte von Kafka sowie einem Textauszug eines Werkes von Ortega Y Gasset. Den letzten Namen hatte Jo noch nie gehört. In dem Text von fast zwei Seiten ging es um das Individuum in der Masse. Die Vorstellung, über eines der Themen den ganzen Vormittag etwas Sinnvolles zu schreiben, lähmte ihn. Er saß eine halbe Stunde vor den Blättern, ohne sich entscheiden zu können.

      Dann nahm er die Textanalyse in dem Glauben, er könne ein paar Seiten damit füllen, den Inhalt zunächst mit eigenen Worten wiederzugeben. Bei der Interpretation suchte er dann Bezüge zur Geschichte des Dritten Reiches. Er kam zu der These, dass Massenphänomene die individuellen Sicht- und Verhaltensweisen überdeckten und den einzelnen gefügig machten. Nur die ganz starken Charaktere könnten sich dem entziehen. So waren die Deutschen zu einem Volk von begeisterten Mitläufern geworden. Als er dann die immerhin neun gefüllten Seiten am Ende noch einmal durchlas, waren ihm doch erhebliche Zweifel an seinem Geschreibe gekommen. Bei Hotzenplotz war im Unterricht nie so richtig dessen gesellschaftlich-politischer Standpunkt durchgekommen. Gut, er war noch ziemlich jung und hatte Nazi-Deutschland nur als Kind und Jugendlicher erlebt. Ihn eines unreflektierten Mitläufertums zu bezichtigen, würde ihn deshalb wohl nicht treffen. Bei den älteren Lehrern wäre er da sicherlich vorsichtiger