Wolf L. Sinak

Ich locke dich


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zu ziehen.

      Als die Schnüre den Druck erhöhten, wuchs die Zwangsvorstellung von dem, was sich auf seinem Rücken abspielte, wie durch ein Vergrößerungsglas. Ein Arsenal von Reibeisen und aufgerolltem Stacheldraht beackerte seine Haut, grub von Honig und Marmelade triefende Stacheln hinein und hinterließ ein Muster blutiger Furchen, in denen entwurzelte Härchen schwammen. Ein offenes Krebsgeschwür, das so fürchterlich kratzte, dass nur der Sprung von einem Hochhaus die Erlösung brächte. Wie einfach, dachte Jens. Es war zum Lachen. Und er keckerte ungehemmt die hohen Töne, die hinter den Türen von Irrenhäusern zu hören sind.

      Bis eine unsichtbare Zeitschaltung das Lachen abrupt beendete. Er erblickte einen anderen Menschen als seine Peiniger.

      Die Tür des Studios war verschlossen. Und Marlies’ Schlüssel scheiterte an Jens’ Schlüssel, der innen ansteckte.

      Ihr war es gelungen, gegen die genierlichen Rückzugsfedern in ihrem Denken anzugehen und zum Studio zurückgefahren. Einen Vorwand hatte sie, sie würde ihm sagen, dass sie ein Gefühl der Unruhe in sich trug, weil er wegen des Mercedes auf dem Hof so eigenartig reagiert hatte. Wenigstens sehen wollte sie ihn. Also trat sie auf die Kiste mit Streusand vor dem linken Fenster und schaute in den ungewöhnlich hell erleuchteten Raum. Kein Jens weit und breit. Bestimmt duschte er gerade oder war in der Sauna. Sie kicherte und machte sich auf den Weg hinters Haus. Jenseits der Parkplatzmauer und des Gehweges wurde es uneben, die Betonplatten endeten im Gelände. Auch dunkel war es hier weitab der Straßenbeleuchtung, und sie fragte sich, wer wohl mehr in Gefahr schwebte, er oder sie. Hinter einer Baumgruppe wurde es heller. Die Elster floss nach abfallendem Gelände silbrig getüpfelt vorbei und die Saunafenster projizierten Lichtflecke auf die Grasfläche.

      Sie trat an ein Fenster. Zuerst sah sie die komfortablen Liegen im Ruheraum. Am Tag war es herrlich, drinnen zu liegen, nach draußen zu schauen und sich vom Wasser des Flusses beruhigen zu lassen. Dann nahm sie einen kleinen dicken Mann wahr, der sich über etwas beugte, dann einen anderen Mann auf einer Liege sitzend. Er sah dem Dicken bei irgendeiner Arbeit zu. Marlies stellte sich auf die Zehenspitzen und entdeckte unter dem dicken Mann eine Gestalt auf der Pritsche. Mit roten Haaren, nass zusammengeklebt.

      Jens lag dort auf dem Bauch!

      Ihre Skelettmuskeln schalteten auf starr. Außerstande, dem, was sie sah, logische Fakten zuzuordnen, überfiel Marlies die Vorstellung vom zusammengerollten Teppich, in dem man eine Leiche entsorgt. Jens stand kurz vor dem Abtransport. Der Mann band resolut die Schnüre zusammen. Aber dass der Teppich viel zu klein war, ihn komplett einzuhüllen, entging ihrer dezimierten Auffassungsgabe.

      Und das Gesicht von Jens: eine in rotes Wachs geritzte Fratze, die das Ganze auch noch komisch fand. Aber er lebte. Erstmals war Marlies fähig zurückzuzucken, sie schaute sich um, ob sie mit diesem ungeheuerlichen Vorfall alleine war. Niemand zu sehen. Nur die schwarze Weite der Freiheit. Ihr Blick suchte noch einmal Jens, und jetzt trafen ihre Blicke aufeinander. Erst die Verbrecher, die das bemerkt hatten und zur Tür hinaus in den Gang stürmten, rissen sie aus ihrer Lethargie. Sie rannte entlang des Pfades, den sie getreten hatte, kam in der Dunkelheit davon ab, stieß schmerzhaft gegen eine Schubkarre oder einen Handwagen und bremste ab, als sie durch das kümmerliche Hell des Weges einen Schatten sich bewegen sah. Langsam trabte sie zurück, steigerte das Tempo kraft ihrer gedrillten Beine, bis der Wind um ihre Ohren pfiff und das Gras schneidend wurde. Sie gelangte die Böschung hinab zu hohen Sträuchern und kauerte sich dazwischen. Nach einer Weile hörte sie das Rascheln durchstreifender Beine. Der schwenkende Lichtstrahl, der zu einer Taschenlampe gehörte, tauchte auf und kam ausgerechnet in ihre Richtung. Lauer Wind, der aus derselben Richtung wehte, hatte die Frische von Menthol.

      Marlies presste die Muskelpakete ihrer Oberschenkel an die Brust; kaum, dass sie noch atmete. Von dem Schatten, der die Taschenlampe hielt, löste sich ein Teil und fächerte sich vor ihren Augen in kurze, kräftige Finger auf. Sie sprang seitlich weg wie ein Reh in Todesangst, stolperte über ein Hindernis und fiel in einen harten Strauch; es war der Fuß des Mannes, der ihre Flucht verhindert hatte. Die Taschenlampe erlosch.

      „Nicht eilig sein, junge Frau. Hier draußen allerlei Getier … deshalb bleiben hier.“ Die Stimme ging in ein gedrosseltes Lachen über. Der Mann drückte sie noch tiefer in den Busch und tätschelte ihren Hintern. „Wenn Schrei, kleine Hure, dann dein letzter!“

      Ein besonderer Antrieb, den Sportler besaßen, davon war sie später überzeugt, hatte seinen Ursprung in den hochgezüchteten Muskeln, die wie scharrende Hufe in Startlöschern saßen – ein autonomes, aufmüpfiges Element, das Auslauf forderte. In diesem Sinne zog Marlies sich noch tiefer in den Busch, um Freiraum für eine Drehung zu gewinnen. Bei dem anschließenden Wälzer zur Seite gelang es ihr, das rechte Bein nach außen zu strecken und es mit einem mächtigen Schlag in die Flanke des Mannes zu hauen. Gleich darauf vollführte sie eine weitere halbe Drehung und legte dem Mann, der aus seinem Konzept geraten war, ihre Beine um den Hals. Gerade das zu machen war sporadisch von ihren Oberschenkeln gelenkt, dieser gewaltigen Anhäufung von Muskeln, so umfassend und komplex, dass sie den Anschein erweckten, eine eigenständige Intelligenz entwickelt zu haben. Halb zog sie den Mann zu sich heran, halb hangelte sie sich an ihm hoch, bis sein bulliger Kopf nahe der Stelle war, wo Jens ihn hatte, als sie von seiner Frau erwischt wurden. Mit den Oberschenkeln drückte sie die Seelen aus den Leibern. Ihrem und seinem. Es war zu dunkel und von der Seite nicht möglich, in das verzerrte Gesicht des Mannes zu blicken, dessen Hals in der Mangel einer Anakonda steckt. Aber sie stellte sich vor, was mit seinen Augen passierte, die auf einem Treibsatz saßen. Darauf konzentrierte sie sich, nicht auf seine Faustschläge, die ihre Beine bearbeiteten und am Stahl ihrer Muskeln abprallten wie Querschläger und die daraufhin versuchten, rücklings zu schlagen, aber am Lattenrost ihrer Arme scheiterten und den Unterleib verfehlten. Der Mann erhob sich und probierte, den weiblichen Schraubstock von sich wegzuschleudern. Marlies hing an ihm wie ein siamesischer Zwilling, schleifte durch das Gebüsch, hinterließ Fetzen ihrer Jacke an den Ästen. Das dauerte nicht lange, er sackte zu Boden mit schläfrigen Bewegungen, die an ein Fortkommen im Wasser erinnerten. Marlies wurde bewusst, dass Mund und Nase des Mannes Opfer ihres Oberschenkelumfanges waren. Darauf fixiert, spürte sie ein kaum merkliches Nagen an der Innenseite ihres rechten Beines. Es musste der Todeskampf sein, in dem der Mann versuchte sie zu beißen. Sie drückte noch eine Weile, dann löste sie langsam die Spannung und beobachtete jede seiner zuckenden Bewegungen, die sich gegen den nicht so dunklen Himmel abzeichneten. Ohne die beinerne Halskrause sackte der Mann zusammen und hustete wie nach einem Wohnungsbrand. Das Röhren von Mageninhalt ertönte. Sie kannte die Situation aus Filmen, in denen man die Gefahr als gebannt glaubte und dann blitzschnell am Knöchel gepackt wurde. Abrupt trat sie von ihm weg und lief gebückt bergauf, so schnell es ging, einer anderen Route folgend, als sie gekommen war, getrieben von Todesangst und dem Drang, Jens zurückzubekommen, wo sie ihn doch nie besessen hatte. Das Gestrüpp wurde dichter und spickte sie mit Dornen und Ästen. Sie rannte gegen etwas und federte zurück. Ein Maschendrahtzaun, der in der dunklen Umgebung der Büsche nicht zu sehen war, ein zwei Meter hohes Überbleibsel der alten Fabrik. Beflügelt durch die Vorstellung, der Dicke hätte sich erholt und sei ihr auf den Fersen, bedurfte es nur ein paar Griffe in die Maschen und Marlies’ linkes Bein schwang wie eine Wurfschleuder über das Hindernis und zog den Körper mit. Sie rannte vor zur Straße und hörte ein Auto starten. Im Schutze eins Baumes erwartete sie, den Mercedes mit quietschenden Reifen vom Parkplatz brausen zu sehen, wurde aber von der Gemächlichkeit überrascht, mit der das Fahrzeug aus dem Tor bog und die Straße bis zur Kreuzung fuhr, wo es sich in den Verkehr einfädelte.

      Sie fand Jens an derselben Stelle, an der sie ihn durch die Scheibe gesehen hatte. Er lag gefesselt und in eine hässliche Decke gewickelt auf einer Pritsche, deren Holz dunkel vom Schweiß war. So hatte sie noch keinen Menschen schwitzen sehen.

      „Marlies, du Retter! Meine Oma lag falsch, es kratzt nicht nur, es tut sogar weh …“ Er schaute sie mit flehentlichen Augen an. „Zieh mir die Stacheln aus der Haut.“

      „Was haben die mit dir gemacht?“

      „Du musst die Decke entfernen, sofort.“

      „Soll ich nicht zuerst die Polizei verständigen, die Typen sind getürmt …“

      „Nein, verflucht. Zuerst losbinden.“