Wolf L. Sinak

Ich locke dich


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mal durch die Modeabteilungen der Kaufhäuser. Aus den Umkleidekabinen stöhnt es wie aus Folterkammern. Dort sollten wir Flyer verteilen mit dem Slogan: Weiche Masse gegen harte Euros. Wie findest du das?“ Ihre Augen leuchteten mit den Strahlern über der Theke um die Wette. „Ich weiß, das klingt komisch, aber man wird nachfragen, wie das gemeint ist, und wir kommen in ein Gespräch.“

      Wenngleich ihr Enthusiasmus offenbar dem Leitgedanken geschuldet war, über alles, nur nicht über ihre beider Affäre zu sprechen, war Jens erstaunt. Er durfte nicht versäumen, Werner darauf aufmerksam zu machen, welch geistvolle Beraterin in Marlies schlummerte.

      Voll von ihrem Feuer ergriffen, hörte er zu, was sie anders machen würde, wenn ihr das Studio gehörte. Und ihre Sympathie für ihn leuchtete über allem wie ein Reklameschild. Während er dem Umstand zürnte, dass Marlies’ und nicht Steffis Herz für ihn schlug, warf ein auf den Parkplatz auffahrendes Auto einen schwachen Lichtstrahl an die Wand hinter dem Tresen. Von Jens und Marlies unbemerkt.

      7

      Der Döner in seiner Hand war zu heiß, als dass Werner aufs Geratewohl hineinbeißen konnte. Er stand am Bordstein neben seinem Omega Kombi und wartete, bis die Kühle des Abends, die durch die Wiesestraße zog wie ein sanfter Propellerwind, ihn genießbar machte. Von seinem Standort bis zu Möllers Frühstückspension waren es einhundert Meter, wodurch er den Eingangsbereich und das Straßenstück, auf dem geparkt werden durfte, in einer Blickrichtung vereinte.

      Es war ein Vorbote des Untergangs, war er überzeugt, dass er jetzt hier stand und nicht bei seinen Sportlern, ihnen Hilfestellung leistete, ihre Rücken beobachtete und auf ihre Fragen einging. Denn so heiß wie der Döner war die Lage: Ein neues Fitnessstudio, eine Arena der Superlative wurde in seine Nachbarschaft gesetzt. Als er vor vierzehn Jahren sein Studio eröffnete, gab es drei weitere in Gera, jetzt waren es sechs, und bald würden es sieben sein, immer größer, immer praller und immer mehr Lügen. Werner wusste, wovon er sprach, ehemaliger Leistungssportler, Kanute wie Jens, Sportlehrer und thüringisches Urgestein mit authentischen Genen, welche für die sportlichen Welterfolge der Thüringer verantwortlich zeichneten. Trotzdem hatte er verloren. Gewinner waren die Lifestylisten.

      Er spuckte aus. Sie waren auf dem Vormarsch gegen ihn. Ihn, der angetreten war, dieser Kaugummi kauenden Clique von Modepüppchen seine Sportler entgegenzustellen: Gesunde Frauen und Männer mit saftigem Knorpel an den Gelenken und ausstaffiert mit Herzen, die präzise wie Schweizer Uhren tickten. Das war seine Mission. Wer Jahrzehnte in der DDR klein gehalten wurde, sprang nach seiner Befreiung wie mit Sprungfedern umher.

      Und? Teilten seine Schützlinge den Triumph mit ihm? Den Triumph über die etlichen Kilo Fett, die jetzt wieder im Kreislauf der Natur waren und nicht mehr an ihren Hüften? Nein! Dieser Triumph bedeutete vielen weniger als die Cafeteria im neuen Supertempel. Halsstarrig forderten sie neumodische Kulissen. Ein Lauffeuer ging um: Drüben im neuen Studio wird es Badminton und Squash geben und eine Spielecke, aus der die Kinder mit Gewalt geholt werden müssen. Und Hypoxi-Trainer und Vacunauten – Hightech-Geräte, um der Cellulitis auf den Pelz zu rücken. Zum Lachen!

      Sollten sie doch in die potemkinschen Tempel der Fitness ziehen und sich ruinieren lassen. Dort, wo man keine Trainer sah und sich selbst überlassen blieb. Irgendwann würden sie an ihn denken, an Werner, der ihre Wirbelsäulen in die optimale Stellung gedrückt hatte, damit sie keine Schäden nahmen. Er dirigierte kein Orchester, er stellte sich zu jedem Solisten.

      Er spuckte wieder aus, und es fehlte nicht viel, da hätte er den Döner getroffen. Nein, er wollte nichts Besonderes sein, er wollte bloß seine Überzeugung vertreten, dass ein Fitnessstudio der Gesundheit zu dienen hat und nicht dem marodierenden Zeitgeist. Er selbst hatte Arrhythmien und scheußliches Herzklopfen, als hinge das Herz an einer stotternden Batterie, die jeden Moment den Geist aufgibt. Die Hände, in die er sich in jungen Jahren begeben hatte, hatten Funktionären gehört, die mit spitzem Bleistift jeden abhakten, dessen sportlicher Erfolg ausblieb oder der die beschissenen Dopingtabletten ablehnte. Einen Dreck scherten die sich um die jungen Herzen, die mit Sorgfalt hätten abtrainiert werden müssen.

      Er sah hinüber zur Pension und gähnte ungeniert. Das Haus mit dem vertikalen Schild, auf dem der Name der Pension stand, fiel kaum auf. Außer dem Herandonnern einer Straßenbahn tat sich nichts.

      Es gab eine Grenze, dachte Werner, die mit ihm nicht zu überschreiten war. Um eine Nachrüstung des Studios kam er nicht herum, aber er würde nie in einem Kasperletheater Regie führen. Wenn das einer verstand, dann war es Jens. Ginge er, Werner, zur Bank, schenkte man ihm nicht mal ein Lächeln, geschweige denn einen Kredit. Anders bei Jens.

      Der Döner war reif zum Hineinbeißen, aber der Hunger hatte sich verflüchtigt. Werner schaute das Ding aus Semmel, Salat und Fleischgeschnetzeltem an, als konnte er sich nicht erinnern, weshalb er es gekauft hatte. Er ging ein paar Meter die Straße entlang und blieb vor einem Abfallbehälter stehen. Zwei letzte Bissen, dann landete der Döner darin. Ein Klecks Marinade wollte nicht mit hinein und platschte auf seinen linken Schuh.

      Ein Omen, gewiss.

      8

      „Es wird Zeit für mich“, sagte Marlies in hoffnungsvollem Ton, der zu erkennen gab, dass ihre Unterhaltung Auftakt für weitere Begegnungen sein möge. Jens begleitete sie vor die Tür, nicht ihretwegen, sondern um die Lage zu checken. Im trüben Restlicht der Straßenbeleuchtung brachte die Mauer des Studios das Maß Optimismus hervor, das eine Friedhofsmauer ausstrahlt. Hier im Viertel wohnten zumeist ältere Menschen, die sich um neun Uhr abends in ihren Häusern verbarrikadierten und die Jalousien nur hochzogen, wenn draußen die Welt unterging.

      Jens fiel der E-Klasse-Mercedes auf, der in einer anderen Ecke parkte als Marlies’ Fiat Bravo und sein BMW.

      „Warum bleibst du stehen?“, fragte Marlies. „Gut, ich finde allein das Schlüsselloch meines Wagens.“ Sie ging weiter.

      Jens strengte die Augen an. In dem Mercedes saß niemand. Aber er rechnete damit, dass jeden Augenblick zwei Oberkörper langsam aus der Liegeposition nach oben gingen wie Frankensteins Monster beim Verlassen des Tisches, auf dem es geschaffen wurde, und dass die Autotür sich öffnete und ein Streichholz davonflog.

      Marlies hielt ihre Autotür in der Hand. „Ist was mit dem Mercedes? Manchmal stellen Nachbarn ihre Fahrzeuge hier ab, obwohl sie das nicht dürfen … Tschüss dann.“ Sie stieg ein, setzte zurück und durchfuhr das Tor. Jens hörte nur unterschwellig, dass ihr Auspuff eine Verstimmung hatte. Lungerten die Verbrecher hier irgendwo, würde er keine Macht besitzen, ihnen zu entkommen. Er ging rasch zurück ins Haus und schloss sich ein. Die nächsten fünf Minuten stand er bei ausgeschaltetem Licht am Fenster. Als er der Meinung war, dass die längst ausgestiegen sein müssten, drehte er das Licht voll auf – jede Lampe, für die er einen Schalter fand. Dann ging er das Studio nach Türen und Fenstern ab, die geöffnet sein konnten, und übersah dabei nicht die Unordnung. Werner war ein mustergültiger Trainer, außer Zweifel, aber er irrte in einer Welt der Existenzangst umher und übersah die vielen kleinen Notausstiege. Ihm musste klargemacht werden, dass er keine abgeschnittenen Muskeln trainierte, sondern Geschöpfe, die von Sinnen geleitet werden, auch jenen, die sich an Unordnung stören. Und Marlies müsste mehr Freiheiten bekommen. Brillant, ihre Idee, in den Einkaufszentren Flyer an Leute mit prallen Lebensmitteltaschen zu verteilen, um das Studio ins Spiel zu bringen, wo sie das Zeug wieder abtrainieren konnten. Sie hatte gesagt, ein schlechtes Gewissen bekämpfe man am besten, wenn es noch warm ist. Das hätte von ihm stammen können. Warum nicht zwanzig Euro für jedes abgenommene Kilo Fett kassieren? Und Werner? Dessen typische Gegenmeinung hörte Jens bereits jetzt: Die würden sich beim Nachwiegen Eisenstücke in den Arsch stecken, um nicht bezahlen zu müssen.

      Wieder auf der Hantelbank, nahm er die mit sechzig Kilogramm bestückte Stange von der Gabel und drückte sie in die Höhe, ließ sie langsam herunter bis zur Berührung seines Brustkorbes, wieder hoch und runter, bis die Bewegung harte Arbeit wurde und er die Augen zusammenkniff. Höchstens noch eine Wiederholung, danach rechnete er damit, die Hantel zurück in die Gabel setzen zu müssen, wollte