Wolf L. Sinak

Ich locke dich


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Steffi kannte. Jetzt konnten die Holzlatten zu seinem Totenbett werden. Neu bewertet war das, was das Leben vorantrieb, nicht der Hang am Dasein, sondern die Angst vor dem schrecklichsten aller Tode, dem schmerzhaften und langsamen. Nach einer Ewigkeit öffneten sie ihm die Tür.

      „Duschen verboten“, feixte Jurek.

      Jens setzte sich schweißnass auf eine Pritsche und schaute im Pulsschlag der Hitze zu, wie Jureks dicke Hand ein Stück groben Strick von einer Rolle schnitt. „Hände auf Rücken.“

      Die herausspießenden harten Fasern besaßen ein enormes Kratzpotential auf nasser Haut, erkannte Jens sofort und vergrub die Hände in den Schoß.

      Augenblicklich bekam er gezeigt, dass man mit einer Pistole nicht nur schießen konnte. Der Lauf knallte gegen seinen Nacken, dass er aufschrie und eine Zeit lang benebelt umherblickte. Zwischen dem Beifügen von ein paar Sekunden Bewusstlosigkeit mittels definierten Schlags und einem Schädelbruch lagen etliche Jahre Praktikum in der Unterwelt, nahm Jens an, als er wieder klar denken konnte und seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Derweil leerte Jurek die mitgebrachte Reisetasche. Eine Tube Sonnenschutzmittel mit Faktor fünfzig, ein Glas Honig und ein Glas Marmelade, mehr konnte Jens nicht sehen.

      „Beste kommt noch“, sagte der feiste Ausländer und ging zum Kühlschrank, dem er eine Wolldecke entnahm. Jens erspähte ihre Stacheln aus zehn Meter Entfernung – Kennzeichen der kratzbürstigsten aller Schafe, die es je gegeben hatte, der Urschafe. Rückzüchtungen mit besonderer Wertschätzung grober Grannenhaare. Jurek strich mit der Hand über die Decke und tat, als piesackte sie ihn. Er schüttelte sich. „Huuuu!“

      Jens schüttelte sich auch. Jetzt, da er erkannte, worum es Jurek ging, berührten sich zwei Drähte in ihm. Er konnte nicht auseinanderhalten, was zuerst funkte, der Stich in seinem Herzen oder der Blitz auf dem Rücken, wo Gänsehaut aufschoss. Nur nichts zugeben, entschied er, die nutzten jede Schwäche aus. Er tat so, als wunderte er sich über diesen Mumpitz. Auf einmal hob Jurek die Videokamera, die sie ihm in seiner Wohnung abgenommen hatten, aus der Tasche. Jens fiel die Kinnlade herunter. Steffi hatte ihn gefilmt, als er freimütig über seine klebrig kratzende Macke geplaudert hatte. Der Blonde steckte ein neues Streichholz zwischen die Lippen und setzte sich neben Jens. Sein leiser Ton in der Stimme machte alles nur noch schlimmer. „Am besten bekämpft man seine Marotten, indem man sich ihnen stellt.“

      Es gab bestimmt nur wenig Menschen, die bei einem Gedanken wahnsinnig werden konnten. Jens war der Vorsteher dieser kleinen Gruppe. Hinter den Gefängnisstäben seiner Besessenheit war es ohne Bedeutung, dass die Vorstellung den physikalischen Beweis schuldete, eiskalte Wolle und Honig ergänzten sich zu einem Reibeisen, wenn seine Haut ins Spiel kam.

      Jurek drückte ihn auf die Pritsche. Seinen Körper und die Holzlatten umwickelte er mehrfach mit diesem beschissenen Strick. Alles tat weh, verblasste aber angesichts der verbrannten Haut, die unter Spannung stand wie eine festgezurrte Plane. Unterbewusst hörte er, wie draußen das Telefon klingelte.

      „Können mehr als nur eure Autos klauen, wirst gleich sehen“, flüsterte Jurek ihm ins Ohr. Jetzt wusste Jens, dass Jurek ein polnischer Name war. Der Blonde klappte eine Liege hoch und machte es sich darauf bequem. Aus der ausgebreiteten Decke spießten Haare wie kalte Igelstacheln. Sie dampfte vor Kälte.

      „Igitt, klebt ja“, sagte der dralle Henker und strich mit dem Finger Honig an der Decke ab. Das Arschgesicht konnte sich gar nicht wieder beruhigen vor igittigitt! Jens zügelte seine Spuckmuskeln, ihm etwas ins Gesicht zu geben.

      „Habe Video studiert“, sagte Jurek. „Und Leckerli für dich. Dachte, bisschen Sonnencreme kann nicht schaden, schön zäh.“ Er schraubte den Deckel von der Tube und hielt sie hoch über Jens’ verschwitzten Rücken, der in seiner Ziegelröte unregelmäßig gemustert sein musste, so wie es seine gesamte Haut war. Die Komposition aus Sonnenbrand und gestauter Hitze erinnerte Jens an Leichenflecke. In ständigem Kampf mit den sinnlosen Gefühlen seiner Manie hatte er es gelernt, mit ihr auszukommen. Dass der schlimmste seiner Alpträume jemals wahr werden würde, war so unwahrscheinlich gewesen wie der Fall, dass eines Tages vor der Tür eines Schizophrenen körperhaft sein zweites Ich dastünde. Jetzt war alles ungültig, und der Dicke lag nicht falsch mit seiner Annahme, mehrere Einreibemittel würden die Qual noch steigern. Da half Jens die akademische Einsicht nichts, dass etwas Gleitmittelweiches wie Sonnenmilch Borsten zähmte, statt sie noch härter zu machen.

      Er reckte seinen Hals zur Seite und sah am Rand seines Gesichtsfeldes mit Tellerminen von Augen, wie eine lange weiße Wurst die Tube verließ und sich ihm entgegenschlängelte.

      Doktor Jens Klemmer fing an zu schreien.

      Sein breiter Rücken war wie geschaffen für eine halbe Tube zähe Sonnenschutzcreme. Der Handballen des dicken Henkers verrieb sie in großen Kreisen, bis die Vermischung mit dem Schweiß eine emulsionsartige, glitschig dicke Flüssigkeit ergab. Der Blonde steuerte große Kleckse Honig und Marmelade bei.

      „Nicht in deiner Haut stecken möchte ich, ganz bestimmt nicht“, sagte Jurek schnaufend. Jens machte sich eine lebhafte Vorstellung von den Zutaten auf seinem Rücken und der bevorstehenden Mutter aller Foltern. Auf seiner Gänsehaut hätte man rohe Kartoffeln reiben können.

      „Wie fühlt sich Pasta an?“ Jurek war außer Atem. „Ist wie Leim. Hab Angst, Haut von dir wird an Wolldecke kleben bleiben, wenn ich herunterziehe. Und das muss ich. Decke ist Erbe von Großvater. Darin war Silber eingewickelt im Kofferraum auf Fahrt von Polen nach Deutschland.“

      Der Blonde sah fasziniert zu. Beinahe hätte er ein zweites Streichholz an seine Lippen gehängt.

      „Wegen Kratzer auf Silber, weißt du“, fuhr Jurek fort und bearbeitete den Rücken wie ein schwatzhafter Masseur, „habe ich nur halben Preis für Silber bekommen. Hätte weiche Decke nehmen sollen …“

      „Steck dir deine Decke in den Arsch“, schrie Jens, dass ihm fast die Halsvenen platzten. Daraufhin eröffnete Jurek das Finale, indem er Jens die Decke kurz an die Wange hielt. Kälte umgab sie wie eine Aura, und als wäre sie eine hypnotische Pinnwand, heftete sich Jens’ Blick an sie.

      Seine Großmutter meldete sich zu Wort. Ihre fast vergessene Stimme durchdrang ihn wie in seiner Kindheit, als sie ihm die Einbildungskraft ausmerzen wollte und Wolle und Marmelade in die Hände nahm. ‚Wir schwitzen alle einmal, Jensilein, dadurch wird die Wolle nur weicher. Fühle, wie dieser Pullover von der Marmelade gebändigt wird.‘

      Danke für den Versuch Oma. Ihm wurde schlecht.

      Unablässig quasselte die Akzentstimme von Jurek weiter: „War gute Idee von mir. Wo sonst außer in Wüste schwitzt und bratet man? In Sauna und Solarium.“ Den letzten Satz formte er zu einer langgezogenen Melodie.

      Oma, sprich weiter, bat Jens hinter geschlossenen Augen. Sie war eine einfache Frau gewesen, fest in ihrer Liebe. Jens verspürte sie wie einen Rüssel aus dem Jenseits, an dem er saugen sollte.

      Aber nicht sie sprach weiter, sondern Jurek. „So, bin so weit. Werde Decke wickeln um dich und Schnur straff darum, bis Luft wegbleibt … War nur Scherz, sollst genießen, worauf lange gewartet.“

      Jens’ Kraft war verpulvert. Er ergab sich dem, was ihm aschgrau vor Augen flackerte wie der Schatten des Todes, ließ seine Muskeln erschlaffen und dem Drehen in seinem Kopf freien Lauf. Seine linke Wange klebte auf dem Holz der Pritsche. Noch zu früh, um ohnmächtig zu werden. Jens Klemmer war Sportler gewesen. Die Befähigung zu einer kurzen physischen Erholungsphase steckte in ihm wie zu seinen Glanzzeiten. Er würde fit sein und nicht ohnmächtig, wenn die graue Decke pikend Rücken und Beine bedeckte. Er würde den Höhepunkt erleben: die widerwärtige Vereinigung von seiner klebrig konditionierten Haut und von Wollborsten, die über Jahrzehnte ihre Robustheit beibehalten hatten, weil der Großvater des irren Polen sie gewartet hatte wie Sägeblätter.

      Kaum zu Ende gedacht, drückte flächendeckend etwas Eiskaltes und Hartes auf seine Rückseite. Die Gänsehaut explodierte. Dann stopften Hände die Decke rabiat unter seinen Bauch und führten einen Strick herum. Ein Riss durchfuhr Jens und trennte jedwede Vernunft von ihm ab. Was übrig blieb, waren Zuckungen eines Versuchsfrosches – der nervale