„Ich habe letzte Woche Andrej getroffen. Kannst du dich noch an ihn erinnern? Er hat mir erzählt, dass er jemanden kennt, der über eine seriöse Agentur Aupair-Mädchen ins Ausland vermittelt. Das wär` doch was für dich. Du bist hier ja am Versauern. Wäre doch die Gelegenheit, eine fremde Sprache perfekt zu lernen. Ein Sprungbrett in tolle Jobs. Mit guten Sprachkenntnissen hast du überall viel bessere Chancen. Wenn du willst, kann ich für dich ja mal die Telefonnummer rausfinden.“
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Wenige Wochen später saß sie — sie konnte es noch gar nicht richtig fassen — zitternd vor Anspannung im Flugzeug neben Karel und blickte hinunter auf die unheimlich schnell schrumpfende graue Stadt. Sah mit einem Kloß im Hals die kleinen Katen und die Dörfchen verschwinden. Der vertraute Fluss begleitete sie noch ein Stück weit durch immer winzigere Felder, dann durchbrach das Flugzeug die Wolkendecke, und die aufstrahlende Sonne schien mit ihr ihrem Ziel entgegenzufiebern.
Nicht mal die Frage ihres Begleiters, betont mit einem nach oben gerichteten, nicht gerade amüsierten Blick über einer gerümpften Nase: „Sag mal, hast du die ganze Jahresknoblauchwurstproduktion des Dorfs im Gepäck?“, konnte ihre freudige Erwartung dämpfen.
Es roch schon etwas kräftig aus dem Fach über ihnen, das musste sie zugeben, aber sie hätte es nicht fertiggebracht, auch nur eine einzige der gut gemeinten Gaben abzuweisen. Und so beherbergte ihr Handgepäck neben ein paar nahrhaften, von Sirup triefenden Baclavas und fettigen Banizas eben auch diese stark gewürzte Wurst, deren Duft durch die Flugzeugkabine waberte. Da halfen anscheinend auch nicht die Lagen dicker Plastikfolie und die selbst genähte handbestickte Weste von Baba Dora, in die sie eingewickelt war.
Es war alles so schnell gegangen. Sie schaute zu Karel hinüber. Abgesehen davon, dass er sie gerade hatte merken lassen, dass er den streng riechenden Reiseproviant nicht so angenehm fand, hatte er sich bisher rührend um sie gekümmert. Elisaveta, die den Absprung aus dem Dorf auch noch nicht geschafft hatte, hatte neidvoll gemeint: „So ein Mann, diese Figur, so elegant gekleidet und so charmant, so einer verirrt sich sicher nicht noch mal in unser Kaff. Und die helle Strähne in seinem dunklen Haar, damit sieht er doch göttlich aus. Pass nur auf, dass der dir nicht durch die Lappen geht!“
„Ach, Lisa, ich hab im Moment gar keinen Nerv für einen Gedanken an eine Affäre.“
„Na, er irgendwie schon. So, wie er dich ansieht.“
„Ach Quatsch, er ist einfach nur nett. In Deutschland gibt es sicher was Besseres für ihn als uns Landpomeranzen.“
Er hatte sich nur wenige Tage später gemeldet, nachdem Marek sich, natürlich schwungvoll und leider wieder viel zu schnell, von ihr verabschiedet hatte. Er hatte sich dafür sogar auf den Weg in ihr entlegenes Dorf gemacht und ihr einen unglaublich interessanten Vorschlag unterbreitet.
„Es ist etwas dringend. Nachdem was ihr Freund mir von Ihnen erzählt hat, wären Sie ideal für diese Stelle.“
„Wieso denn das?“ Sie hatte versucht, nicht gar zu eifrig zu klingen.
„Nun, diese bulgarische Familie wurde gerade erst nach Deutschland versetzt. Der Mann ist im diplomatischen Dienst, und das bedeutet, dass seine Frau auch viele Verpflichtungen hat. Deshalb suchen sie für ihre zwei Kinder dringend eine Person, die ihre Sprache spricht, nicht zu alt und vertrauenswürdig ist. Sie müsste auch bereit sein, für die beiden das Mittagessen zu kochen. Und nicht nur Fastfood servieren. Sie können doch kochen?“
„Natürlich. Das muss man hier können. Oder sehen sie hier auch nur so was Ähnliches wie eine Imbissbude?“
„Sehr gut.“ Er holte ein Foto aus seiner Brieftasche. „Das sind Petar und Juli.“
Es zeigte zwei hübsche aufgeweckt aussehende Kinder. Der kleine Junge präsentierte lachend und unbekümmert eine riesige Zahnlücke, und das etwas ältere Mädchen mit den abstehenden Zöpfen hielt sich ernsthaft an ihrem Puppenwagen fest. Die Kleidung der zwei und das Haus im Hintergrund verrieten, dass hier nicht jeder Lew zwei mal umgedreht werden musste.
„Es wäre ihnen natürlich am liebsten sie könnten sofort anfangen. Für ein Jahr, danach würde man sehen. Sie sprechen ja wahrscheinlich kein Deutsch?“
„Ich. Ein wenig...“
„Nun, das ist auch nicht nötig. Das lernen sie schnell. Ihre Arbeitgeber legen großen Wert darauf, dass sie gemeinsam mit den Kindern lernen. Sie können dort auch eine Abendschule besuchen.“
„Ich würd‘ ganz gern diese Leute persönlich kennenlernen.“ Ihr Vater, der zwar in seinen ausgebeulten Hosen und dem schütteren, weißen Haar – wann war es so weiß geworden? – gegen den eleganten Städter etwas weltfremd wirkte, war nicht so schnell zu begeistern.
Das war natürlich nicht möglich. Aber ein kurzer, intensiver Briefwechsel mit der Familie Arsa, bei dem noch ein paar weitere Fotos hin- und her gesandt wurden, überzeugte ihre Eltern dann auch. Und deshalb befand sie sich nur wenige Wochen später erwartungsvoll und etwas beklommen auf ihrem Weg in die Zukunft.
***
Bei der Ankunft schien dann leider einiges schief zu laufen. Noch während sie in Berlin am Gepäckband auf die Koffer warteten erhielt Karel einen Anruf. Er erklärte der verstörten Miroslava, Familie Arsa müsse wegen eines Trauerfalls unverzüglich ein paar Tage nach Griechenland fliegen. Sie wären gerade eben in Athen gelandet. Es täte ihnen so leid. Er, Karel, solle solange für sie sorgen, sie in einem Hotel oder bei Freunden unterbringen. Sie kämen so schnell wie möglich zurück. Es könne allerdings etwas länger dauern. Es gäbe viel zu regeln.
Sie hatte sich so auf ihre neue Aufgabe gefreut, hatte sich ausgemalt, wie sie sich mit den Kindern anfreunden würde, wie sie sich deren Eltern unentbehrlich machen würde. Sie hatte sich vorgenommen, an ihren freien Tagen die fremde Stadt zu erkunden und neue Freunde zu finden. Sich eine Schule zu suchen, um ihre Sprachkenntnisse aufzupolieren. Zu lernen.
Nie im Leben hätte sie damit gerechnet an ihrem ersten Tag in der Fremde in einer zwielichtigen Pension zu landen. Um dort von einer zwar freundlichen aber viel zu grell geschminkten Dame in Empfang genommen zu werden, die sofort ihre Reisepapiere in den Tresor steckte: „Ist besser so — Berlin leider schlimme Stadt!“
Die folgenden Tage gingen unter in einem Grauen erregenden Wirbel von Gesichtern:
Das der schrillen Frau am Empfang, die ihre Papiere nicht wieder herausrückte, tauchte immer wieder auf.
Dann das mit dem herablassenden Gesichtsausdruck der ein wenig zu eleganten Hausdame mit den hochgezogenen Augenbrauen, die sie durch einen langen, intim beleuchteten, etwas zu plüschigen Gang nach hinten in ein nicht gerade freundliches Zimmer geführt hatte, in dem neben zwei benutzten ein frisch gemachtes Bett stand. „Was Besseres haben wir nicht.“
Es schoben sich die verheulten, geschwollenen Gesichter der beiden polnischen Mädchen davor, die leicht bekleidet aneinander geschmiegt auf einem der Betten saßen und bei ihrem Eintreten abrupt verstummten.
Dazwischen blitzte das hübsche, selbstgefällige Antlitz von Karel auf, dessen Avancen immer aufdringlicher wurden, und der ihr spät abends noch wenig bedauernd mitgeteilt hatte, dass er gerade erfahren habe, dass die Familie Arsa nicht wieder zurückkäme. Dass sie leider, leider nun keinen Job habe. „Aber ich habe trotzdem eine gute Nachricht für dich. Kannst die Kosten abarbeiten. Flug, Unterkunft, alles ist teuer. Du willst doch nicht, dass deine Familie darunter leiden muss. Zeige dir bald, wie.“
Wie in einem Kaleidoskop zogen die mitleidigen Minen weiterer Bewohnerinnen vorbei, die sie seltsam neidisch musterten.
Und dann trafen sie, wie Hämmer, die toten Augen der jungen Frau, die aus der Gemeinschaftsdusche gewankt war, ihre dunkelblauen Flecken nur halb mit ihrem Handtuch verdeckt, und sie zutiefst erschreckt hatte. Dazu das porzellanglatte Gesicht einer rothaarigen Göre, die Kaugummi kauend höhnisch gemeint hatte: „Die ist selber schuld. Hat geglaubt sie könne abhauen. Muss sich noch anpassen. Aber den Kopf verschonen sie — immer.