Christina Hupfer

Miro


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sie wusste, sie würde es nicht wagen.

      Nein, das Einzige wozu im Moment ihre Sprachkenntnisse dienten war dass sie sehr gut verstand, wenn sich die Leute abfällig über sie äußerten. Sie schämte sich so sehr, zog ihr Taschentuch heraus und schnaubte in den bereits durchweichten Stoff. Vielleicht kam morgen wieder der alte Mann vorbei, der sich nicht zu schade war, sich auf die Mauer neben sie zu setzen um sich mit ihr zu unterhalten. Es tat gut, einmal nicht als Einzige den verlegenen, missbilligenden, manchmal auch mitleidigen Blicken der vorbei hastenden, rechtschaffenen Bürgern dieser Stadt ausgesetzt zu sein. Vom Aussehen her passte er natürlich auch eher zu ihr. Seine strähnigen grauen Haare hatte schon lange kein Friseur mehr berührt. Dafür hielten sie guten Kontakt zu dem abgewetzten Kragen seiner zerschlissenen Steppjacke unter der sich ein geflickter Pullover über einem ansehnlichen Bauch spannte. Hose und Schuhe hatten auch schon ein intensives Leben hinter sich, und sie wollte gar nicht wissen, was sich in seinem gestopft vollen, abgenutzten Rucksack befand. Aber in seinem bärtigen Gesicht leuchteten ein Paar mitfühlende Augen, und sein Begleiter, ein braunschwarzer Hund mit wuscheligen Ohren, weißen Vorderpfoten und einem hinreißenden Lächeln, hatte ein gepflegtes seidiges Fell.

      „Darf ich mich vorstellen? Johannes, mein Name“, hatte er sich förmlich vorgestellt, als er ihr das erste Mal begegnet war. „Und das ist Rumo, mein bester Freund. Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“

      „Bitte ich sehr. Ich, Miro...“ Ein Impuls zwang sie dazu ihren Namen zu kürzen. Sie war nicht mehr die kleine unbedarfte Miroslava. Sie wollte auch nicht mehr Milava oder Slavenka genannt werden. „Ich heiße Miro. Und ich bitte darum.“

      Rumos Schwanz wedelte heftig, und seine Schnauze nahm begeistert Witterung auf. Von ihr und vom Inhalt des Rucksacks.

      „Geh hin und iss dein Brot mit Freude, trink deinen Wein mit gutem Mut; denn dies dein Tun hat Gott schon längst gefallen“, hatte Johannes deklamiert, seinen Proviant ausgepackt und auch ihr davon angeboten.

      Tage später hatte sie ihren Kolonnenführer, diesen unsäglichen Wladimir, inständig gebeten sie nicht mehr vor dem Einkaufszentrum abzusetzen. Die sicherste Methode, doch wieder hier zu landen. Sie musste lächeln als sie daran dachte, wie oft schon Johannes und Rumo vorbeigekommen waren und ihr Gesellschaft geleistet hatten. Sie teilten immer ihr Vesperbrot mit ihr und lasen gemeinsam die Schlagzeilen der Zeitung, in die es eingepackt war. Mit seinem Mobiltelefon, das seltsam unpassend in seinen knorrigen Händen wirkte, fand ihr neuer Freund die Möglichkeit, ihren fehlenden Wortschatz zu erweitern, und so konnten sie sich gemeinsam über eine aus den Fugen geratene Welt wundern:

      IST BORIS TATSÄCHLICH PLEITE?

      ...gestern noch Millionär, heute Bettler...

      NICHT NUR DAS KLIMA SPIELT VERRÜCKT.

      ...aber alle stecken den Kopf in den Sand...

      „JAKOBSPILGERN, DER NEUE HYPE?“

      ...eine Muschel schafft Verbindungen...

      EIN JAHR IM OUTBACK

      ...Jobs für Rucksacktouristen schlecht bezahlt...

      JOGGERIN SPURLOS VERSCHWUNDEN

      ...sind unsere Frauen nicht mehr sicher...

      „REGIERUNGSPUZZLE IN BERLIN“

      ...Die Lachnummer einer untergehenden Kultur...

      „KEINE CHANCE FÜR ARME TEUFEL“

      ...Ausgelutscht, Ausgemustert, Obdachlos...

      Auch Johannes schien irgendwie durch die Maschen der „normalen“ Gesellschaft gefallen zu sein. Er hatte zu allem ziemlich schräge Ansichten. Sie dachte zwar nicht, dass er wohnsitzlos war. Er wirkte nicht verwahrlost. Aber er hatte offensichtlich eine Abneigung gegen geschlossene Gebäude. Er erklärte ihr, ein Mensch müsse immer in der Lage sein, jederzeit und überall sein Lager aufschlagen zu können. Er jedenfalls sei für alles gerüstet und wies auf seinen zum Platzen gefüllten Rucksack.

      Über ihr eigenes Problem konnte sie nicht reden. Sie brachte es nicht fertig, und er überging das feinfühlig. Aber sie durfte von seinem Handy zuhause in Panjagurtschik anrufen. Dankbar hatte sie dabei Johannes angeschaut und Rumo das Fell im Nacken gekrault. Im dem Moment hatte sie jedenfalls nicht gelogen als sie sagte es ginge ihr sehr gut.

      Heute kamen die beiden wohl nicht vorbei. Seit Stunden saß sie schon vor ihrem Becher, aber die Einnahmen waren spärlich. Kein Tag, der die Leute mitleiden ließ. Er war einfach zu schön. Nach den vergangenen herbstlich trüben Tagen schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Das Blätterdach über ihr spendete willkommenen Schatten. Sie schloss die Augen, lehnte sich an den warmen Baumstamm und versuchte nicht daran zu denken, wie Wladimir wegen der geringen Einnahmen wieder toben würde. Was er sich wieder Perfides für sie würde einfallen lassen. Als ob dieser Tag hinter seinem freundlichen Gesicht nicht schon genug Schreckliches gebracht hätte. Was hatte wohl dieser fremde Mann verbrochen, den sie heute Morgen totgeschossen hatten?

      Sie war nochmals ins Haus zurückgelaufen, angeblich, um dringend die Toilette aufzusuchen. In Wahrheit war sie sich nicht mehr sicher gewesen, ob sie ihre Senftube unsichtbar verstaut hatte.

      „Das dir könnte so passen!“ Die zischend hervorgestoßenen Worte erschraken sie zu Tode, bis sie merkte, dass sie nicht ihr galten. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich in einer Nische hinter der Küchentür verbergen, um einer gefährlichen Begegnung zu entgehen. In den Sätzen, die zornig dort drin gewechselt wurden, lag eine tödliche Wut. Der arme Kerl, den Wladimir und ein hochgewachsener Mann in einem eleganten Anzug gleich darauf an den Beinen voran über die Hintertür nach draußen zogen, hatte diese nicht überlebt. Die kleine Waffe, deren leises aber explosives ‚Plopp‘ ihn getötet hatte, war dem Schützen bei der Aktion aus der Hand gefallen, und zu ihrem Entsetzen direkt vor ihr Versteck gerutscht. Mit zitternden Händen hatte sie sie mit Hilfe eines Küchentuchs gepackt und auf dem Weg nach draußen einfach hinter ein lockeres Wandpaneel im Hausgang gestopft. Und noch bevor Wladimir wieder aus dem Haus gestapft kam, übler als sonst gelaunt, saß sie eingeschüchtert auf ihrem Platz im Bus. Das Telefonat, das Wladimir kurz darauf, offensichtlich mit dem Anzugträger, führte, hatte sie zusätzlich verstört:

      „... wird sein runtergefallen, vielleicht unter Schrank gerutscht.“

      „....“

      „Ja, Chef, werde ich schauen. Fahre ich wenn Leute an Platz gleich zurück und bringe ‚Problem’ weg. In sein Auto.

      „...“

      „Ja, Chef. Suche ich gründlich. Verspreche ich.“

      „...“

      „Nein, nein, Chef. Nicht brauchen Angst haben. Waren die alle schon in Bus. Niemand hat gemerkt was.“

      „...“

      „Ja, gebe ich Nachricht, wenn ok alles.“

      Da sie unmittelbar schräg hinter ihm saß, hatte sie auch die gemurmelten, aufgebrachten Worte nach dem Ende des Telefonats verstanden:

      „Ja, Chef. Nein, Chef. Immer wenn hat Scheiße gebaut, Wladimir muss ausbaden.“

      Aber die Pistole kann er lange suchen, dachte sie trotz ihres unkontrollierten Bebens ein wenig boshaft.

      Sie versuchte die fürchterliche Erinnerung an diese morgendliche Beobachtung abzuschütteln. Vielleicht bekomme ich heute wieder einen Euro von einem der beiden netten Zirkusjungen, die seit ein paar Tagen mit ihrem Lama da vorne an der Ecke Aufstellung genommen hatten, versuchte sie sich abzulenken. Wenn die für ihre abendlichen Vorstellungen werben und ihre ‚Futterkasse‘ hinhalten, klimpert es darin wesentlich häufiger als bei mir.

      Wenn sie ehrlich war würde sie wenn sie könnte, auch lieber diese aktiven Leute unterstützen als jemanden der Mitleid heischend tagtäglich nur auf der Straße hockte.

      Und die beiden Jungen, eigentlich Männer, sahen dazu auch noch ganz gut aus. Keine Modeltypen. Aber unter dem ausgeblichenen Sweatshirt des einen und dem karierten Hemd des