Christina Hupfer

Miro


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haben es bestimmt nicht leicht. Wir können nur hoffen, dass sie auch was davon abbekommen“, hatte der Karierte, der Ältere, der den Hänger fuhr, gestern erst etwas ruppig zu ihr gesagt und sie mit skeptischen graugrünen Augen gemustert.

      „Danke.“

      Mehr hatte sie nicht heraus gebracht, wäre dabei aber am liebsten in diesem kleinen Loch im Boden, das sie mit ihrer Fußspitze nicht schnell genug vergrößern konnte, verschwunden.

      Und doch hoffte sie heute schon wieder, dass für sie etwas abfiel. Sie nickten ihr immerhin freundlich zu.

      ***

      „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan.“

      Schnaufend nahm der Alte neben ihr Platz. Rumos Körper bog sich vor Begeisterung in alle Richtungen, als er zu ihr auf die niedrige Mauer sprang.

      „Oh wie schön. Seid ihr doch noch gekommen!“ Sie schlang ihre Arme um den Hund und verbarg ihre Freudentränen in seinem warmen Fell.

      „Kann ich Rumo und meinen Rucksack bei Ihnen lassen?“, fragte Johannes als er wieder zu Atem gekommen war. „Ich will noch ein wenig einkaufen. Haben Sie auch einen Wunsch, Miro?“

      „Nein, danke. Gehen Sie nur. Ich pass auf die beiden auf.“ Ihren einzigen großen Wunsch sich einfach in Luft aufzulösen, diesem Gefängnis ohne Mauern zu entfliehen, den konnte vielleicht sein ‚Herr‘ erfüllen, aber nicht er. Und an diesen Herrn zu glauben, das hatte sie inzwischen aufgegeben.

      6

      Was war denn da drüben los? Aufgeregtes Geschrei riss sie aus ihren Gedanken und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Eingangsbereich des Supermarkts. Dort versammelte sich eine immer größer werdende Gruppe Menschen um ein auf der Erde liegendes Bündel. Ihr Herz blieb stehen, stolperte und schlug wie verrückt weiter.

      „Johannes!!!“

      Sie stürzte mit Rumo an der Leine und dem schweren Rucksack über dem Arm vorwärts und fiel fast auf den regungslos daliegenden Körper.

      „Johannes, Nein!!!“

      Schwach vor Erleichterung registrierte sie ein kaum wahrnehmbares Beben, vernahm ein leichtes Röcheln. „Johannes?“

      „Miro...hrrrch“

      „Sch, sch...“

      „Ru... Papiere“, hauchte er noch. Dann wurde er schlaff, und alles Leben wich aus dem breiten, gutmütigen Gesicht, das von dünnem kalten Schweiß bedeckt war.

      „Bitte, schnell. Rufen Sie... Doktor.“ Ihr fehlten die Worte. Und es wurden immer mehr Leute, die wie angewurzelt um sie im Kreis standen.

      „Sie!“ Sie schluchzte und deutete auf den nächstbesten Gaffer. „Rufen sie... bitte... Arzt!“

      Sie hatte alle Mühe, den Hund, der sich winselnd an den alten Mann drücken wollte, festzuhalten.

      „Vorsicht Rumo, nicht zu sehr. Bitte. Ich muss Knöpfe aufmachen. Er braucht sicher Luft.“

      Die heulende Sirene des Krankenwagens, der sich durch die Menge drängte, übertönte das Jammern des Hundes. Erleichtert sah sie Männer in roten Uniformen herausspringen, die sich über den leblosen Körper beugten, ihm die dicke Steppjacke auszogen, nach kurzer Untersuchung auf die Trage legten und ins Innere verfrachteten, wo schon unzählige Spritzen, Schläuche und Kanülen auf ihn warteten.

      „Sind Sie mit ihm verwandt?“, wollte einer der Rettungshelfer von ihr wissen.“

      „Verwandt?“

      „Papa, Opa?“

      „Nein. Er ist ein Freund.“

      „Wissen Sie, wo er seine Papiere hat? Sind die im Anorak? Ach ja, hier ist eine Brieftasche. Die nehmen wir mit.“

      Weil sie ihn so verzweifelt anschaute, fügte er noch hinzu: „Wir bringen ihn jetzt ins städtische Krankenhaus. Sie können dort morgen nach ihm fragen.“

      „Und Hund?“

      „Den nehmen Sie. Hier, den Kittel kann er jetzt auch nicht gebrauchen“, meinte er noch, drückte ihr die dicke Steppjacke in die Hand und fing an, den Arztkoffer und weitere Utensilien zusammenzupacken.

      „Aber...?“ Sprachlos kniete sie neben dem verstörten Tier, hielt sich an ihm fest, sah zu, wie die Tür sich hinter der Trage schloss, wie der Krankenwagen mit eingeschalteten Sirenen davon fuhr und der Menschenauflauf sich langsam auflöste.

      Ob sie Johannes jemals wiedersehen würde? Wie in einer Wiederholungsschleife hörte sie den Sanitäter, der als letzter viel zu langsam eingestiegen war, gleichgültig sagen: „Schätze, den können wir eh nicht mehr lebend abliefern.“

      Und dann sah sie, vielmehr hörte sie ihn, bevor sie ihn sah: Wladimir! Er stand mit ihrem Sammelbecher in der Hand, ihrem Sitzkissen und ihrer Tasche unter dem Arm an ihrem Stammplatz und schaute suchend in die Runde. Was machte der denn jetzt schon hier? Reflexartig wollte sie aufstehen und zu ihm hin gehen. Wieder ein Tag zu Ende. Wieder eine Strecke weiter auf ihrem Weg in die Hölle. Ein Schritt und noch einer, bis Rumos Leine sie abbremste. Um Himmels Willen, was sollte sie mit ihm machen? Ob sie ihn mit zu sich nehmen könnte? Aber wenn es Wladimir nicht passte? Sie durfte sich nicht vorstellen, was der mit ihm anstellen würde wenn er mitbekäme, dass er ihr etwas bedeutete. Wenn sie daran dachte, was er mit der kleinen Ratte von Mascha angestellt hatte! Vor kurzem hatte er sie ihr selbst geschenkt. Und gestern hatte er sie vor ihren Augen zu Tode gequält. Nach dem Vorfall, den sie heute Morgen beobachtet hatte, fürchtete sie sich noch viel mehr vor ihm und seinen Helfershelfern. Wenn denen nicht mal ein Menschenleben was bedeutete!

      Vorsichtig zog sie sich zurück und suchte Schutz hinter einem sperrigen Gestell mit Blumentöpfen. Rumos sonst so fröhlich dreinblickende Augen, schwarz umrandet und auf der rechten Seite die dunkle Farbe verwischt, schauten kummervoll und hilfesuchend zu ihr hoch. Besser wäre es, sie würde ihn hier anbinden. Bestimmt würde ihn jemand zu sich nehmen. So ein lieber Hund. Er würde hoffentlich nicht zu lange hier ausharren müssen. Irgendjemand würde sich sicher erbarmen. Und wenn Johannes doch wieder gesund werden sollte, würde er ihn sicher finden. Mit zitternden Fingern knüpfte sie die Leine an den Fahrradständer, der sich hinter dem Regal mit blühenden Astern befand. Mühsam kam sie wieder hoch, wich den verständnislosen Blicken des Hundes aus, und zwang sich, auf Wladimir zuzugehen.

      Der hörte gerade mit offenem Mund den letzten Wichtigtuern zu.

      „Wo ist Frau? Sitzen hier“, drängte er sich blaffend in deren Gespräch.

      „Weg ist die! Gott sei Dank.“ Einer der Angesprochenen wedelte mit einem Prospekt, ließ ihn stehen und wandte sich wieder den andern zu. „Alles nur Gesindel, nicht wahr? Wer weiß schon, was so jemand für Krankheiten mit sich rumschleppt. Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich als nächstes auf diese Liege legen. Wie konnten die überhaupt so eine verwahrloste Kreatur damit transportieren? Wo die doch sowieso schon tot ist!“

      „Tot?“, echote Wladimir und drängte sich wieder dazwischen.

      „Tot! Hat mal einer der Sanitäter gesagt. Hirnschlag oder so was“, warf einer dem Mann in den unsäglichen Trainingsklamotten überheblich über die Schulter zu.

      Miro zuckte zurück. Tot. War ihr einziger Freund, der ihr noch geblieben war, wirklich tot? Würde sie sich ab sofort, wenn sie wieder an diesen Platz gekarrt wurde, nie wieder darüber freuen können die beiden um die Ecke biegen zu sehen? Nie wieder Johannes Sprüche hören? Nie wieder seine schwielige Hand auf ihrer spüren?

      Sie presste sich wieder in den Schatten des großen Blumengestells zu dem zaghaft wedelnden Rumo und konnte nicht anders, als ihn wieder los zu binden. Und sie verfolgte wie gelähmt wie Wladimir abzog, immer wieder kopfschüttelnd zurückschauend. Ihre Tasche immer noch unter den Arm geklemmt. Mit ihren ganzen Habseligkeiten, mit den Fotos ihrer Familie und mit Baba Doras liebevoll selbst gemachter Weste. Ihrer letzten Verbindung