Ana Marna

Fellträger


Скачать книгу

      Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

      Die Tür wurde aufgeschlossen und drei Männer traten herein. Alle waren in weiße Laborkittel gekleidet. Der Mittlere trat vor und betrachtete ihn mit einem zufriedenen Lächeln. Er war nicht groß, mittleren Alters und wirkte wie ein netter, harmloser Mann, wenn seine Augen nicht gewesen wären. Diese blickten kühl und distanziert auf ihn herab.

      „Hallo mein Junge. Ich bin wirklich sehr froh, dass wir dich gefunden haben.“

      „Was wollen Sie von mir?“, stammelte Pieter. „Wer sind sie?“

      „Ich bin ein sehr neugieriger Mann. Genauso wie meine Kollegen hier. Und wir sind davon überzeugt, dass du uns eine Menge Antworten auf all unsere Fragen liefern kannst. Keine Sorge. Was du selbst nicht weißt, und das wird vermutlich eine Menge sein, da du ja gerade mal fünfzehn Jahre alt bist, das werden wir durch akribische Untersuchungen und Tests herausfinden. Du wirst als der erste Wolf in die Geschichte eingehen, der uns Menschen Erkenntnisse über dein Wesen, deine Anatomie und deine Genetik liefert. Du wirst nicht der Einzige bleiben, aber doch der Erste. Ich fürchte nur, dass du deinen Ruhm nicht genießen wirst. Wir werden dich auseinanderschneiden bis auf die letzte Nervenzelle. Tut mir leid, dass bei euch Wölfen keine Schmerzmittel wirken. Aber ich bin mir sicher, dass du alles heldenhaft ertragen wirst.“

      Er nickte den beiden Männern zu, die sofort auf den Jungen zutraten.

      Dieser sah völlig entsetzt zu ihnen hoch. Er konnte nicht glauben, was der Mann gesagt hatte. Dann sah er das Skalpell in der Hand eines der Männer aufblitzen.

      „Als Erstes werden wir deine Regenerationsfähigkeit testen. Wir haben gehört, dass sie unglaublich schnell ist“, erklärte der Mann, ohne Mitleid in der Stimme.

      Pieter schrie, als das Skalpell sich in seinen Arm versenkte und diesen der Länge nach aufschlitzte. Der Schmerz war real und in den Augen der beiden Wissenschaftler las er kein Mitgefühl, nur Faszination.

      Aus seinem Schreien wurde ein lautes Heulen, als die Wandlung einsetzte. Doch damit hatten sie offenbar gerechnet. Sofort legte der zweite Mann ein stählernes Band um seinen Hals.

      Es gab kein Entkommen.

      2. Donnerstag, 2. Februar 2012

       Huntsville, Texas

      „Sara! Sara! Kevin hat mich geschubst und mir den Roller weggenommen!“

      Das kleine Mädchen rannte heulend auf die junge Frau zu und umklammerte ihre Hüften.

      Sara Linn versuchte, mit einer akrobatischen Verrenkung das Tablett mit den Tassen auf den nächsten Tisch zu schieben.

      Als es ihr endlich gelungen war, löste sie die Arme des kleinen Mädchens und hockte sich nieder.

      „Hast du dir weh getan, Nicole?“

      „Nein“, heulte die Kleine. „Aber er hat mich einfach geschubst. Und dann hat er mir den Roller weggenommen.“

      „Komm, Nicole! Wir gehen mal zu Kevin und stellen ihn zur Rede.“

      Sie zog das Mädchen mit sich nach draußen und steuerte auf einen kleinen Jungen zu, der mit schrillen Schreien auf dem Roller durch die Gegend schoss und waghalsige Slalomkurven um die anderen Kinder drehte.

      „Kevin! Kevin halt mal bitte an und komm her!“

      Saras Stimme scholl laut über den Platz, so dass alle anderen zu ihr hinschauten. Nur besagter Kevin scherte sich nicht um ihr Rufen und sauste unbeeindruckt über den Hof.

      Sara seufzte.

      „Warte hier, Nicole!“

      Sie beobachtete die Rollerkurven und wartete einen günstigen Moment ab. Plötzlich sprang sie vor und ergriff den Knaben am Kragen. Ein schriller Schrei und sie hielt den zappelnden Kevin vor sich in die Luft. Der Roller schrappte mit einem hässlichen Geräusch über den Boden und blieb dort liegen.

      „Kevin Smith!“ Saras Stimme war ruhig, aber ohne eine Spur von Freundlichkeit. „Wenn ich dich bitte zu kommen, dann solltest du darauf hören!“

      Kevin strampelte immer noch.

      „Du tust mir weh“, heulte er. Sara schüttelte den Kopf.

      „Nein, Kevin, das tue ich nicht. Aber du hast Nicole geschubst und ihr den Roller weggenommen. Jetzt hör endlich auf zu zappeln, sonst kann ich dich nicht auf den Boden lassen.“

      Kevin fing an, um sich zu schlagen. Sara wartete geduldig ab. Manchmal machte sich ein bisschen Muskeltraining doch bezahlt. Und Kinder am langen Arm in der Luft zu halten war eine zusätzliche Trainingseinheit. Äußerst praktisch.

      Nach einigen Minuten gab Kevin auf und sie ließ ihn zu Boden. Den Griff lockerte sie jedoch nicht.

      „Du wirst dich jetzt bei Nicole entschuldigen“, verlangte Sara. „Und für den Rest der Woche ist der Roller für dich gestrichen.“

      „Das ist unfair“, heulte Kevin auf.

      „Nein, ist es nicht. Es ist unfair anderen einfach etwas wegzunehmen. Denk darüber gut nach. Und jetzt entschuldige dich!“

      Sie schob den Jungen zu Nicole hin, die das Ganze mit großen Augen verfolgt hatte. Kevin starrte auf den Boden und schwieg.

      „Kevin“, mahnte Sara. „Du hast Mist gebaut und dazu solltest du stehen. Das Mindeste ist eine Entschuldigung.“

      „Tschuldigung“, murmelte er beinahe unhörbar.

      „Ein wenig lauter wäre schon gut.“

      Sara ließ nicht locker.

      „Entschuldigung!“

      Diesmal war Sara zufrieden.

      „Gut. Nicole, du kannst dir den Roller wieder nehmen. Und du Kevin suchst dir jetzt eine andere Beschäftigung.“

      Der Junge trollte sich mit mürrischem Gesicht, wohingegen das Mädchen fröhlich zu dem Roller rannte und wenige Sekunden später durch die Gegend sauste.

      Sara beobachtete den Jungen eine Weile, doch dann lief sie wieder ins Haus, um sich um das schmutzige Geschirr zu kümmern.

      „Kompliment“, erklang die Stimme ihrer Kollegin Janet. „Vier Minuten sind dein neuester Rekord.“

      „Stoppst du echt die Zeit?“, lachte Sara amüsiert auf.

      „Klar, wir haben schon Wetten abgeschlossen. Ich hab zehn Dollar auf dich gesetzt. Es fehlen jetzt nur noch dreißig Sekunden. Also streng dich bitte an!“

      Sara Linn grinste und schüttelte den Kopf.

      „Ihr seid echt verrückt. - Wir sollten Kevin im Auge behalten. Das ist jetzt schon das dritte Mal in dieser Woche, dass er sich gewaltsam Spielzeug unter den Nagel reißt.“

      „Wohl wahr“, seufzte Janet und half ihr, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. „Lydia hat erzählt, dass der Junge ziemlich genau beschreiben kann, wie eines dieser neuen Shooter-Games funktioniert und abläuft. Wetten, dass er viele Stunden davor verbringt?“

      Sara schüttelte ungläubig den Kopf.

      „Die sind doch erst ab achtzehn und nicht für Vierjährige.“

      „Glaubst du im Ernst, dass sich da alle Eltern drum scheren? Viele sind froh, wenn die kleinen Biester vor dem Monitor hocken und nicht ständig angerannt kommen und beschäftigt werden wollen. - So, dann geh ich mal da draußen Lydia ablösen.“

      Sara beendete ihre Aufräumaktion. Danach betrat sie das Spielzimmer und widmete sich den Rest des Nachmittags der Streitschlichtung und Kinderbeschäftigung.

      Als sie den Kindergarten verließ, wurde es langsam dunkel. Sara sog die kalte Februarluft durch die Nase ein und zog die Rucksackriemen enger.