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Ssabena - Wilde Wege zum Seelenheil


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mit der ich jeden westlichen Menschen konfrontiert sah, unsere Vorstellung, dies und das und jenes zu brauchen, um leben, um glücklich sein zu können. Ich wollte frei sein von diesen selbst auferlegten Konzepten, von diesem Ballast, sehnte mich nach geistigem Abspecken, erkannte dies als eine der Wurzeln von Magersucht, die Sehnsucht nach einem Leben, in dem die Natur die Gesetze vorgibt, nicht der Mensch.

      Wir verließen den Platz, nachdem reichlich die besten Segenswünsche für die weiteren Wege ausgetauscht waren. Was ich eben gesehen hatte, kannte ich nur von Auslandsreportagen aus dem Fernseher. In derart abgelegene Winkel kamen nur selten Weiße. Mir bewusst, dass ich etwas ganz Besonderes erleben durfte, befiel mich ein heiliges Gefühl. Einem inneren Impuls nachgehend drückte ich Salomons Arm.

      „Danke, mein Freund, für dieses wundervolle Erlebnis.“

      Ich spürte, dass er die Heiligkeit des Lebens ebenso empfand wie ich.

      Zurück auf der Piste fuhren wir der Abendsonne entgegen.

      Nach geraumer Zeit verkündete er milde: „Ich will euch etwas zeigen, einen schönen Platz, den ich irgendwann einmal auf einer Erkundungstour entdeckt habe.“ Ohne das Tempo zu drosseln, bog er links ab in die sandige Ebene hinein. Mitten auf offener Fläche hielt er an. Von hier aus marschierten wir zu Fuß Richtung Berge. Zielgerichtet ging er auf eine bestimmte Stelle zu, einen schmalen Felsspalt, der erst sichtbar wurde, wenn man direkt davor stand. Nacheinander zwängten wir uns hindurch in den Berg hinein.

      Augenblicklich wurde es kühl. Im Gestein erkannte ich unter einem Vorsprung eine Art Arkadengang, dem wir folgten, an einer Lichtung vorbei, über zwei große Felsblöcke kletternd bis vor ein steinernes Tor, weniger als einen Meter hoch. In der Hocke schlüpften wir einer nach dem anderen hindurch und fanden uns in einer kegelförmigen Felsenhöhle wieder, groß wie ein Tipi, ein Indianerzelt. Durch ein kreisrundes Loch oben in der Spitze fiel das Himmelslicht herein, beschien die aalglatt geschwungene Rundung der Wand. Nur Wasser konnte Stein derart weich abtragen. Ablagerungsringe schimmerten in den verschiedensten Farben von rot bis orange, gelb, sandfarben, braun und viel rosa. In der Mitte der Höhle ragte ein schlanker Obelisk aus dem Felsboden heraus in die Höhe über die Öffnung hinaus und verband das Höhleninnere mit dem Himmel. Dieser Ort hatte etwas Mystisches an sich. Das Licht fiel in Säulen herab. Kein Lüftchen regte sich. Wo einst Wasser strudelte, herrschte heute diese unendliche Stille. Staunendes Schweigen ergriff uns. Dies war ein Tempel, eine Kirche, eine Moschee, ein heiliger Ort. Hier hatten sich die alten Weisen getroffen, um sich auszutauschen und zu beratschlagen, um zu beten und zu meditieren. Ihre Kraft ist immer noch präsent. Ich spüre, dass auch ich Weises in mir habe. Dass jeder von uns das hat. Und dass die Schwingung dieses Kraftortes diese weise Saite in mir antippt und zum Klingen bringt. Im Moment kann ich es fühlen. Sie beinhaltet eine grundlegende Achtung gegenüber Allem, was da ist. Gegenüber der gesamten Schöpfung. Gegenüber jedem Wesen. Vor allem gegenüber sich selbst. Es ist dieser erste Friede in der eigenen Seele, der sich erweitert auf den Nächsten und sich ausdehnt auf ganze Völker.

      Plötzlich war ich sehr durstig, hatte vergessen, dass ich in der Wüste sehr viel mehr trinken muss als gewöhnlich, auch jetzt im Winter, wo es nachts sogar richtig kühl wird. Die Luft bleibt trocken. Ich erinnerte mich an Orits Worte über das Austrocknen und war froh, als wir wieder beim Auto ankamen, wo ich als erstes meine Wasserflasche an den Mund setzte.

      „Wie ist das bei den Beduinen in der Wüste?“, wollte ich von Salomon wissen, „kommen die hier mal raus? Haben sie Freunde? Wie sieht ihr soziales Umfeld aus?“

      „Natürlich haben sie Freunde, sie leben genauso wie wir. Nachts, wenn die Hitze des Tages sinkt, reiten sie los auf ihren Kamelen. Sie kennen hier jeden Winkel, so wie du die Straßen in dem Ort, wo du geboren bist. Sie wissen, an welchem Felsen sie wohin abzubiegen haben. Sie wissen, wer in der Gegend wohnt. Sie kennen sich alle untereinander. Sie haben ihre eigenen Gesetze.“

      „Was für Gesetze?“

      „Nimm diese Familie als Beispiel, die wir eben besucht haben, ja? Hast du den Baum gesehen? Wo das Zeltdach dran aufgehängt war? Sie haben sich ihren Platz zum Leben unter diesem Baum ausgesucht. Sie bleiben hier, bis ihre Ziegen in der ganzen Umgebung nichts mehr zu fressen finden. Oder sie haben andere Gründe weiterzuziehen. Jedenfalls packen sie alles, was sie auf der Weiterreise nicht mitnehmen wollen, in einen Ledersack. Den hängen sie an ein Seil in diesen Baum. Dann gehen sie los in der Gewissheit, hier noch Hab und Gut zu haben und jederzeit wieder einen Platz zum Bleiben. Der nächste, der sich mit seiner Familie unter diesem Baum niederlassen möchte, sieht den Sack hängen und weiß, dieser Platz ist besetzt. Also sucht er sich einen anderen Baum.“

      „Er würde den Ledersack nicht abnehmen? Aus Neugierde? Oder um zu Stehlen?“

      „Nein, so denkt man im Westen. Hier haben sie Respekt. Wo denkst du hin? Es sei denn, der Sack liegt am Boden, weil das Seil mit der Zeit von Wind und Sonne brüchig geworden ist. Dann weiß man, dass es schon eine sehr lange Zeit her sein muss, seit dieser Baum verlassen wurde, und dass die Familie wohl nicht mehr zurückkehren wird. Wenn das Seil gerissen ist, darfst du dich dort niederlassen und der Ledersack mitsamt Inhalt ist deiner. Sie würden es nicht wagen, der Natur nachzuhelfen. Sie selber haben einen Sack woanders in einem Baum hängen, meinst du, sie wollen, dass den jemand abnimmt? Nein nein, die Menschen hier sind friedlich. Sie haben ein hartes Leben.“

      „Wovon leben sie denn? Sie brauchen doch auch mal Geld, um was zu kaufen, Kleidung, Gemüse, Mehl. Fahren sie mal in die Stadt? Wie kriegen sie die Sachen überhaupt hier her?“

      „Sie leben nicht allein wie bei uns, sie leben in großen Sippen. Einer von ihnen hat immer einen Cousin oder einen Onkel oder vielleicht einen Bruder, der hat ein Auto und der fährt einmal in der Woche oder einmal im Monat nach Kairo oder er arbeitet in Kairo und kommt hin und wieder hierher und er weiß, was sie hier brauchen, weil er selber einmal hier gelebt hat. So oder ähnlich. Sie sind nicht einfach allein und verlassen in der Wüste. Sie brauchen Dinge aus der Stadt und es findet immer irgendwo ein Transport statt. Sie helfen sich alle gegenseitig, verstehst du? Anders könnten sie nicht überleben.“

      Wie gerne würde ich in einer Sippe leben, angeschlossen an ein übergeordnetes System, das für mich sorgt. Hier zu leben müsste traumhaft sein. Nichts, was dich irritiert, nur Natur um dich herum, Weitblick, Klarheit. Im Vertrauen, dass du nicht verhungern oder verdursten wirst, sondern dass für genügend Nachschub gesorgt ist, weil du Familie hast, weil du Teil eines größeren Netzwerks bist. Mein Gott möchte ich gerne dazu gehören, so gerne möchte ich dazugehören! Die Sehnsucht, Teil eines in sich funktionierenden Kreislaufs zu sein, brennt in meiner Brust. Ich sehe doch, dass es so was gibt, also muss es auch für mich möglich sein. Seit jeher fühle ich mich als verlorenes Einzelwesen in dieser Welt. Beduinen fühlen sich bestimmt nicht als verlorene Einzelwesen, sie leben ein Herdenleben, sind miteinander verbunden, mit ihren Ziegen und ihrer Familie und der Erde. Liegt die Seligkeit im Zusammenleben? Sehen Beduinen nicht viel ruhiger und friedlicher aus als die Menschen in der Zivilisation? Nicht nur friedlicher, auch zufriedener, obwohl sie so viel weniger haben. Ist weniger mehr? Geht das bei uns im Westen nicht in die falsche Richtung? Ist die Richtung falsch oder ist der Westen falsch? Oder nichts von beidem? Wer oder was bestimmt überhaupt, wie die Welt ist? Hier haben sie alle denselben Glauben. Ist es das, was die Menschen ausgeglichen macht? Ihr Glaube? Wobei es einen richtigen und einen falschen Glauben nicht wirklich geben kann, nur verschiedene Arten und Weisen, ihn umzusetzen, friedvoll oder eben fanatisch.

      Der Sinai nahm mich wieder gefangen. Die Teerpiste führte durch bezaubernde Felsformationen. Jede Kurve enthüllte Neues zum Bestaunen. Ein weit überstehender Felsvorsprung erschien wie eine Riesenechse, ein anderer wie der Kopf eines Adlers. Hellblaue Gesteinsschichten zeichneten sich in den Felswänden ab. Der sandige Erdboden färbte sich an einer einzigen Stelle rot, bevor er sich wieder im Gelblichbeigen verlief.

      Die Sonne neigte sich langsam gen Horizont, tönte die Luft rotgolden. Wie einen zarten Schleier breitete sie ihre leuchtende Farbe über die Welt aus und ließ fantastische Schatten an den Felsabhängen entstehen.

      Salomon fuhr von der Straße ab auf eine Sandpiste Richtung Meer, schaltete runter auf Schritttempo. Den Fußgänger sah ich erst, als er auf Höhe meines Seitenfensters