Imme Demos

Ssabena - Wilde Wege zum Seelenheil


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hielt Jossi jedes Mal an, wenn er mich im Ort sah, nahm mich mit zum Essen, Freunde besuchen oder mit in sein Haus. Auf seine Villa war er besonders stolz, er hatte sie selbst gebaut. Oben im Zimmer zur Dachterrasse rauchte er seine Wasserpfeife, während ich gebannt lauschte.

      Jossi ist in Jemen aufgewachsen, am Fuße eines Berges, ohne fließend Wasser und Strom. Das einzige Fortbewegungsmittel war ein Esel, auf dem jedoch nur der Vater reiten durfte.

      „Ich hatte nicht einmal Schuhe“, erzählte er, „ich bin immer barfuß gelaufen. Als ich acht war oder elf, kam ein Reiter auf einem Pferd zu unserem Haus. Er sprach mit meinen Eltern. Daraufhin packten sie ein paar Sachen zusammen und gingen mit mir in das nächste Dorf. Dort war wieder dieser Reiter. Er hatte ein Sprachrohr. Er sammelte Menschen ein. Wir gingen weiter zum nächsten Dorf. In jedem Dorf schlossen sich uns mehr Leute an. Ich fragte meine Eltern, wo wir hingingen, meine Mutter sagte: ,Nach Israel’. Ich wusste nichts von Israel. Ich hatte ja nicht einmal gewusst, was hinter dem Berg vor unserem Haus ist.“ Jossi lachte. „Am Ende waren wir viele Menschen. Wir sind ein Jahr gelaufen, ein ganzes Jahr. Wir sind zu Fuß über das Gebirge gelaufen bis nach Aden. Plötzlich stand ich vor einem Wasser, das kein Ende hat, dem Meer. Darauf schwamm ein riesengroßes Haus. Da sollten wir alle reingehen. Ich wusste nicht, dass das ein Schiff ist, ich hatte nie eins gesehen. Ich ging mit den anderen auf das Schiff und fuhr über das Meer. Als wir in Israel ankamen, sah ich zum ersten Mal Autos, Flugzeuge. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Meine Mutter kommt bis heute nicht damit klar. Sie lebt abgeschieden in einem kleinen Apartment in der Nähe von Tel Aviv und geht nur raus, wenn sie muss. Bis heute backt sie ihr Brot selber. Ich habe heute mehrere Häuser, meine eigene Baufirma, fahre Auto, alles. Aber eines ist aus der Zeit geblieben. Wenn du mir heute erzählst, ich kann zum Mond fliegen – ich würde es glauben. Alles ist möglich. Alles, was du dir vorstellen kannst, ist machbar.“

      Jossi war ein Mensch aus der Steinzeit in die Neuzeit versetzt, ein Verbindungsglied zwischen Urzeit und heute. Intuitiv suchte ich bei ihm nach altem, überliefertem Wissen, was der Modernen verlorengegangen ist. In Jossi sah ich eine Chance, die Verbindung zu meinem eigenen Ursprung zu finden. Wir philosophierten über das Dasein, das Menschsein, die Religion, Gott.

      Die Gespräche waren hochinteressant, bewirkten jedoch keine Veränderung in mir. Nach wie vor konnte ich nicht normal essen, meine Wohnung nicht mit Leben ausfüllen, nur nutzen, um dort ungestört ins Klo zu spucken und anschließend in Schlaf zu fallen.

      Zum kleinen Hafen zog es mich immer wieder hin. Meine besondere Liebe galt den vielen Holzschiffen, gebaut wie die alten Piratenschiffe, die ich aus Filmen meiner Kindheit kenne. Auf jedem Boot wohnte ein Skipper, der das Schiff bewachte, in Stand hielt und für Cruises vermietete, Mini-Kreuzfahrten. Zehn, zwanzig oder mehr Personen werden vier Stunden lang hinaus aufs Rote Meer gefahren, entlang der jordanischen Grenze bis kurz vor das ägyptische Gewässer. Nach dem Schnorcheln und Tauchen gibt es Essen. Ein Barbecue-Grill hängt außenbords. An Deck steht ein einladender Tisch mit Chumus, Pita, Salaten und verschiedenen Weinsorten. Lautsprecher hängen in den Masten, auf dem Kajütsaufbau wird getanzt und gesungen.

      Das möchte ich gerne mal miterleben.

      Ein Skipper rief mir zu, ich solle doch an Bord kommen.

      Beschwingt ging ich auf das Schiff. Mit Englisch und meinem noch geringen Wortschatz Hebräisch verständigte ich mich blendend. Wir sprachen über Land und Leute. Freunde kamen, tranken Tee, gingen wieder. Gegen Abend erschien der Bootsbesitzer in Begleitung einiger Kumpane. Einem zuvorkommenden Herrn namens Salomon hatte ich es besonders angetan. Mehrfach in Deutschland gewesen, sprach er ein paar Brocken Deutsch.

      „Besuch mich morgen in meinem Büro“, lud er mich ein.

      Die Männer rauchten Haschisch, wie ich es schon bei Nachum gesehen hatte. Sie boten mir die Wasserpfeife an. Ich lehnte ab, sie redeten mir zu, bis ich beschloss, die Erfahrung zu machen, was es damit auf sich hat – zog und musste ordentlich husten. Lustig wurde ich. Bald lachte ich, ohne zu wissen worüber. Die Männer hatten ihren Spaß. Erinnerten sich an die Zeit, als sie das erste Mal rauchten und auch so viel lachen mussten. Einer sagte: „Ich wünschte, ich könnte auch noch mal so schön stoned sein wie du. Aber ich rauche jetzt seit vierzig Jahren jeden Tag, da wird man nicht mehr so stoned. Körper und Geist gewöhnen sich daran.“ Wieder und wieder reichten sie mir die Pfeife, amüsierten sich königlich, wie ich zunehmend die Kontrolle über mich verlor.

      Weit nach Mitternacht sagte Salomon, er würde mich jetzt nach Hause fahren. Wir verließen das Schiff. Leicht schwankend redete und lachte ich überschwänglich laut.

      Umsichtig nahm er mich beiseite, flüsterte: „Nicht jeder muss wissen, dass du geraucht hast. Sei einfach ganz normal. Hast du das Gefühl, du zitterst? Zittern deine Hände?“

      „Ja.“

      „Nimm deine Hände hoch und schau sie dir an.“ Einfühlsam wartete er ab, bis ich es tat. „Siehst du? Deine Hände zittern nicht. Außen bist du ganz ruhig, nur in dir drin fühlt es sich wie Zittern an. Trag nicht dein Inneres nach außen, bleib nach außen hin ganz normal, niemand muss um dein Inneres wissen.“ Wohlwollend brachte er mich nach Hause.

      Ich war perplex. Nie hatte ich mir so direkt Gedanken gemacht über innen und außen. Aber jetzt konnte ich den Unterschied ganz deutlich fühlen, als hätte ich mich neu entdeckt.

      Von nun an traf ich ihn häufiger. Mein erster Gast, den ich zu Hause empfing, seit ich in diesem Land wohnte. Bei ihm beklagte ich mich darüber, dass ich meine Beine rasieren sollte.

      Ruhig und fürsorglich wie ein Vater sprach er zu mir: „Kennst du das Sprichwort: Wenn du in Rom bist, sei ein Römer?“

      „Nein.“

      „Es ist wahr. Wenn du irgendwo fremd bist, ist es besser für dich, so zu sein wie die Menschen, die dich umgeben. Du wirst sonst Schwierigkeiten haben, und das ist nicht schön. Hier rasieren sich alle Frauen die Beine, also tu es einfach auch und du hast kein Problem.“

      Salomon wurde mein Freund und Ratgeber in allen Lebenslagen. Er ist Beduine, lebensnah, einfach und menschlich. In seiner Gegenwart fühlte ich mich anders als mit jedem anderen Menschen auf der Erde. Salomon strahlte etwas ganz Bestimmtes aus, das ich nicht in Worte fassen konnte. Unendlich viele Geschichten aus aller Welt hatte er zu erzählen, gespickt mit allgemein gültigen Wahrheiten.

      „Weißt du, die Menschen haben was Gutes und was Schlechtes in ihrem Leben. Dann gehen sie fort, weil sie das Schlechte nicht mehr wollen. Am nächsten Ort finden sie wieder Gutes und Schlechtes. Sie gehen wieder weg, sie wollen nur Gutes, aber sie finden immer wieder auch Schlechtes. Die meisten wissen nicht, dass es in ihnen drin ist. Jeder Mensch hat Gut und Böse in sich, das sind Himmel und Hölle oder Gott und Teufel oder die helle und die dunkle Seite. Wichtig ist, welche Seite dich gerade regiert. Tust du gut, kommt gut zurück, tust du schlecht, kommt schlecht zurück. Manchmal tust du gut und kommt schlecht zurück, dann hast du dir dein Gegenüber vorher nicht richtig angeschaut.“

      Niemand hat je so zu mir gesprochen.

      „Fehler musst du machen, wie willst du sonst lernen? Du hörst nie auf zu lernen. Und der Witz ist, am Ende sterben wir doch alle dumm. Ja! Egal wie viel wir lernen und schon wissen, es ist immer nur ein Bruchteil dessen, was es überhaupt zu wissen gibt. Was wir nicht wissen“, mit seinem Arm machte er eine weltumfassende Bewegung, „bleibt immer viel mehr als das, was wir schon wissen“, ehrfürchtig beugte er sich zu mir herüber und senkte die Stimme, „verstehst du? Am Ende sterben wir alle dumm. Selbst, wenn du denkst“, er fing an zu lachen, ließ sich in die Lehne fallen, „selbst wenn du denkst, du bist der verrückteste Mensch auf der Welt, kannst du sicher sein, es hat schon mal jemanden gegeben, der war verrückter als du.“ Offen blickte er mich an. Ich fühlte mich verstanden und erleichtert. „Für dich ist es neu, es ist aber schon vor dir da gewesen, du hast es nur bislang nicht mitbekommen. Alles war vor dir da.“ Das Gesicht verziehend hob er die Achseln. „Was? – Dachtest du, du wärst so groß?“, blies den Rauch gen Himmel und schaute ihm nach. „Ich muss in den Sinai“, schwenkte er um. „Ich fahre mit Shimon und zwei australischen Mädchen, May und Hazel. Ich habe einmal ein Boot gebaut,