Imme Demos

Ssabena - Wilde Wege zum Seelenheil


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war sofort bei ihm. „Komm.“

      Jim wehrte mit der sauberen Hand ab. „Ist schon gut, schon okay. Mir ist nichts passiert.“

      Tommy klopfte ihm auf die Schenkel. Jim klopfte Tommy auf die Schulter.

      Verständnislos guckte ich von einem zum anderen. „Was …?“, begann ich.

      Jim hob abwehrend die Hand. Er wollte kein Wort darüber verlieren.

      Die Verwirrung dieser emotionalen Wechselbäder in den Gliedern verließ ich die beiden.

      Jim sah ich nie wieder.

      Tommy und ich trafen uns ab und zu. Wir sprachen nie über diesen Vorfall, liefen in der Stadt umher, saßen irgendwo auf einer Mauer und sprachen über Gott und seinen Sohn.

      Tommy war so zart, so mitfühlend. Ich hatte mich ein bisschen in ihn verliebt. Manchmal dachte ich sogar, ich würde ihn lieben. Obwohl er so anders war, war er irgendwie auch genauso wie ich. Ich fühlte etwas in ihm, das ich von mir selbst kannte. Das verband mich mit ihm.

      Eines Tages gestand er mir, er hätte schon mal einen Menschen getötet.

      „Im Krieg“, unterstellte ich.

      „Nein, nicht im Krieg. Im normalen Leben.“

      „Das glaube ich dir nicht.“

      „Doch“, versicherte er, „es ist wahr. Ich habe ihm mit einer Sichel den Schädel gespalten. So.“ Er machte eine kräftig zuschlagende Bewegung in der Luft, sodass ich begann ihm Glauben zu schenken.

      „Wieso hast du das gemacht?“

      „Wir hatten Streit und er hatte es verdient.“

      Ich schüttelte meinen Kopf. „Was sagt denn Gott dazu?“

      „Der hat mir verziehen. Gott sei Dank.“

      Ich staunte.

      „Niemand weiß es“, verriet er mir, „es ist lange her, damals in Petach Tikva in Tel Aviv.“

      Ich war erschrocken, nicht nur über Tommy, nein, auch über mich selbst. Liebte ich einen Mörder? Ging das überhaupt? Kann man einen Mörder lieben?

      Für lange Zeit sah ich ihn nicht.

      Ein knappes Jahr später erzählte mir jemand, Tommy sei zum Studieren in England. Ich freute mich mit seiner Seele.

      Mit der Band kam ich in viele Hotels. Einer der Hotelchefs offerierte, bei ihm im Privathaus oben in der Stadt zu gastieren. Es war an der Zeit, die Yacht zu verlassen. So zog ich mit meinen Habseligkeiten ins Nobelviertel von Elat.

      Spät abends kam der Chef von der Arbeit heim. Als erstes schaltete er den Fernseher an. Laut lief ein Film in englischer Sprache mit hebräischen Untertiteln. Sofort startete ich den Versuch, die Buchstaben der Hieroglyphen-Schrift zu identifizieren. Von rechts nach links erkannte ich mein erstes hebräisches Wort, das Wort ani, zu Deutsch ich oder ich bin. Im Deutschen gibt es ich separat von ich bin. Im Hebräischen sind ich und ich bin dasselbe, grammatikalisch wie inhaltlich, es gibt dafür nur ein Wort. Eine Person wird nicht getrennt von ihrem Sein. Das bedeutet, die Körper-Ebene und die geistige Ebene sind eine Einheit. Das fühlt sich richtig an und gut. Dadurch entsteht ein Gefühl von Verbundenheit. Mit allem. Mit allem Sein.

      Auf einmal tätschelte der Hotelchef meine Wange. Verlangend drehte er sich zu mir hin.

      Eindeutig schüttelte ich den Kopf.

      Er verließ das Zimmer, nahm seinen Schlüssel vom Tisch und ging ohne ein Wort aus der Wohnung.

      Ich sehnte mich nach eigenen vier Wänden.

      Doch vorerst begegnete ich Zoltan, einem ungarischen Juden, der stolz erzählte, er sei gerade aus Europa gekommen, wo sie eine neue Oper uraufführten, Das Phantom der Oper, und er hätte davon sogar eine Aufnahme mit nach Israel gebracht.

      Es bewegte mich, wie er von hier aus die fortschrittlichen Europäer betrachtete. Seinen Abstand zu den Europäern konnte ich nachfühlen. Dadurch bekam ich selber einen Abstand zu Europa, zu meiner Herkunft. Dieser Abstand eröffnete mir eine neue Sicht auf die europäische Kultur und ihren Zusammenhang mit anderen Kulturen. Dies eröffnete mir eine neue Sicht auf mich selbst innerhalb des Weltgefüges. Eine neue Identifikation kam hinzu, wo ich mich weder als Deutsche noch als Italienerin empfand, sondern als Europäerin, Vorstufe zur Weltbürgerin.

      Zoltan war von Tel Aviv an das Rote Meer geschickt worden, um einen Bauauftrag zu leiten. Seine Firma hatte ihm vorübergehend ein Apartment zur Verfügung gestellt, zu groß, um es allein zu bewohnen. Ich bezog eins der leerstehenden Zimmer. Im Gegenzug kochte ich für ihn und machte den Haushalt.

      Raffael wohnte nicht weit entfernt. Zum nächsten Auftritt sollte ich mit ihm zusammen fahren.

      Im Fahrstuhl erteilte er mir den Befehl: „Du musst deine Beine rasieren.“

      „Wieso?“

      „Niemand hier hat unrasierte Beine, das sieht doch nicht schön aus“, urteilte er.

      „Bei uns rasieren sich die Frauen ihre Beine nicht“, verteidigte ich mich. Damals war das so auf dem Lande.

      „Du bist hier in Israel und es kann nicht angehen, dass Publikum zu mir kommt und mich darauf anspricht. Also mach dir die Haare ab!“

      Man sah mir doch an, dass ich nicht Israelin bin, warum sollte ich mich so geben wie sie. Sie sollten lieber akzeptieren, dass eine Deutsche nun mal anders aussieht.

      Ich sträubte mich, hatte aber wohl keine Wahl.

      In einer der vielen Strandbars stand Raven hinterm Tresen, ein beleibter Australier mit langen, dünnen Haaren und Tätowierungen auf seinen massigen Oberarmen.

      Spontan fragte ich ihn: „Ich suche eine Wohnung, weißt du irgendwas?“

      „Ja, mein Mitbewohner zieht demnächst aus, um nach Thailand zu gehen. Du kannst das Zimmer haben, so lange du willst, ich bin sowieso nur zum Schlafen da.“

      Drei Wochen später zog ich bei Raven ein in ein kleines, gemütliches Zimmer im letzten Wohnblock am Rande der Siedlung. Vor meinem Fenster erstreckte sich die Wüste bis zum Horizont. Herrlich. Wundervoll. Monatelang umhergezogen, hier und da gewohnt. In fünf-sechs-sieben, so lautete meine neue Adresse, durfte ich endlich bleiben.

      Ich war glücklich über mein neues Zuhause und glücklich mit meiner Arbeit! Im Abendkleid auf einer Hotelterrasse Musik machen, am Strand, in halboffenen Bars oder Clubs zum Tanz aufspielen ist mehr Vergnügen als Arbeit. Nach dem Auftritt geht man ins Rote Meer schwimmen oder fährt zum nächsten Treff.

      Für Bulimie war seit meiner Ankunft in diesem Land keine Zeit geblieben, das Leben hatte mich zu sehr in Anspruch genommen. Ich wagte zu hoffen, dass es damit nun vorbei sei. Doch obwohl ich alles hatte, was ich mir vorstellen konnte, ein schönes Nest, wunderbare Arbeit, Wärme satt, Licht satt, Aufregung und Abenteuer ohne Ende, meldete sich dieser Zwang wieder. Warum nur? Was wollte ich noch? Was gab es denn noch zu wollen? Was braucht der Mensch, um in Harmonie mit sich selbst zu leben? Wonach sehnte sich meine Seele? Warum gab sie keine Ruhe?

      Ich fand keine Antworten.

      In meinem Zuhause gab es für mich nichts. Nichts zu tun. Nichts zu leben. Wenn ich keinen Auftritt hatte, lief ich einfach los durch den Ort Richtung Strand.

      Oft kam ich gar nicht bis dahin.

      Jemand hielt mit dem Auto neben mir.

      „Hallo. Ich bin Mario. Ich war gestern Abend bei eurer Show. Spitzenmäßig! Ich bin gerade auf dem Weg in die Marina, unser kleiner Hafen. Wir wollen mit ein paar Freunden rausfahren aufs Meer. Willst du mit? Mein Freund Noam kommt auch mit. Er hat dich gestern Abend gesehen. Er möchte dich kennenlernen. Komm mit uns! Wir machen ein bisschen Party. Es gibt Trinken und zu Essen und Musik haben wir auch an Bord.“

      Ich ging mit, lernte Noam kennen, fuhr anschließend mit zu Mario nach Hause, wo bis zum nächsten Morgen weitergefeiert wurde.