Gerhard Schumacher

Marrascas Erbe


Скачать книгу

Bibliothek ich mir nähere Informationen über den Verfasser des Fischtextes, Carl Vogt, und den darin erwähnten französischen Fischzüchter Carbonnier erhoffte. Ich hatte erwartet, Álvaro würde wieder maulen, weil ich ihn dadurch für einige Stunden von seiner Geliebten trennte, aber er zeigte sich sogleich einverstanden, da er die Zeit, die ich in der Universität verbrachte, für einige persönliche Erledigungen nutzen wollte. Also fuhren wir ohne weitere Verzögerungen los und erreichten am frühen Nachmittag die Hauptstadt der Insel, wo Álvaro mich vor der Universität absetzte und in etwa zwei Stunden wieder aufzunehmen versprach. Dann steuerte er sein Automobil in das Verkehrsgewühl zurück.

      Es war nicht schwierig, Einlaß in die heiligen Hallen zu finden, nachdem ich mein Anliegen ausführlich dargelegt hatte. Man wies mir in der Bibliothek einen Platz zu und schon nach kurzer Zeit brachte mir ein schweigsamer Hausdiener eine Reihe von Nachschlagwerken, die die von mir gewünschten Informationen enthalten sollten. Jedenfalls soweit sie hier an der Universität zugänglich waren.

      Zwar fand ich Einträge sowohl zu Vogt als auch zu Carbonnier, doch weder brachten sie mich in meiner Angelegenheit weiter, noch offenbarten sie irgendeine Querverbindung zu Senyor Marrasca.

      Bei Carl Vogt handelte es sich um einen deutsch-schweizerischen Naturwissenschaftler, der unter anderem über Amphibien und Fische geforscht hatte. Das erklärte zumindest seinen kurzen Artikel in der Gartenlaube. Zusätzlich betätigte er sich als demokratischer Politiker, wurde von Karl Marx des Agententums für Napoleon III. bezichtigt und verstarb schließlich 1895, knapp 80 jährig, in Genf.

      Pierre Carbonnier war einer der angesehensten Fischzüchter seiner Zeit, der 1864 ein grundlegendes Werk, den Guide practique du pisciculteur, in Paris herausgegeben hatte, was wiederum die Verbindung zu Vogt erklärte, mehr aber auch nicht.

      Der angestrichene Text in der deutschen Zeitung hingegen blieb nach wie vor ohne Zusammenhang zu den Dingen, die mich und mein Leben in Artà betrafen.

      Enttäuscht klappte ich die Bücher zu, brachte sie zur Ausgabe zurück und verabschiedete mich dankend mit einer angemessenen Spende für die Erweiterung und den Erhalt des Bestands. Der Bibliothekar brachte mich persönlich zum Ausgang und versicherte mir mehrmals, wie sehr er sich freuen würde, mich erneut begrüßen zu dürfen. Ich glaubte ihm unbesehen.

      Kaum eine Stunde benötigte ich, um zu der Erkenntnis zu gelangen, nichts Neues aufgedeckt zu haben. Und bin so schlau als wie zuvor, kam es mir in den Sinn, den armen Tor hatte ich gedanklich verdrängt, aufgeben wollte ich indes nicht. Natürlich war Álvaro noch nicht wieder aufgetaucht, mich abzuholen. Also schlenderte ich ein wenig durch die angrenzenden Straßen von Ciutat de Mallorca, wie Palma auf català genannt wird.

      In einem café trank ich Schokolade und aß einen vorzüglichen Mandelkuchen, der mir ausgezeichnet schmeckte und meine Laune beträchtlich hob. Durch die Schaufensterscheibe betrachtete ich nun schon sehr viel vergnügter das Treiben auf der Straße, als es mir noch kurz zuvor möglich gewesen wäre.

      Die Leute gingen einkaufen oder trugen Waren aus, Kinder und Hunde sprangen zwischen ihnen herum und lärmten fröhlich. Ein Mann mit einem Fahrrad transportierte auf seinem rückwärtigen Gepäckträger ein kleines Schwein, das sich laut quiekend über die Behandlung beschwerte. Halbwüchsige trugen die Nachmittagszeitungen aus, schrieen lauthals die Schlagzeilen vor sich her in das Gewusel der Straße. Bauern aus dem Umland luden Kisten mit Obst von einem Karren und unterhielten sich, aus voller Kehle lachend. Schräg gegenüber saßen zwei ältere Senyores auf Klappstühlen mitten auf dem Pflaster des Gehsteigs, rauchten Zigarrenstummel und waren offensichtlich in ein kritisches Gespräch über Gott, die Welt oder beides vertieft. Frauen mit Körben voller Gemüse, Obst und anderen Dingen für das Essen am Abend schlenderten schwatzend nach Hause. Nur in eine nasse Zeitung gewickelt, trug ein Junge einen Fisch auf den Schultern, der fast größer war als er selbst. Hunde jagten sich kläffend, drehten Kurven, schlugen Haken und rannten den Leuten zwischen den Beinen herum. Sorgsam bedacht, nirgendwo anzustoßen, balancierte eine junge Frau eine Kiepe mit Eiern durch das Gedränge, eine andere versuchte auf ihrem Kopf einen Korb mit Auberginen im Gleichgewicht zu halten.

      Die Luft roch nach gebratenem Fleisch, gesottenem Fisch, Knoblauch und vielerlei anderen Gewürzen und Ingredienzien, exotisch wie aus Tausend und einer Nacht. Über allem lag der fröhliche Lärm der unbeschwerten Lebensweise, die dem Menschenschlag hier eigen war, obwohl die Sorgen und Nöte sicher nicht geringer waren als anderswo.

      Es war ein monumentales, barock anmutendes Gemälde, das sich da vor dem Fenster der pastisseria abzeichnete, bunt, chaotisch und mit kräftigem, weithin hör- und spürbarem Dröhnen in der Luft, ich konnte mich nicht satt daran sehen, meine Ohren wollten den Lärm einsaugen, meine Nase die wunderbaren Gerüche inhalieren.

      Trotz aller Merkwürdigkeiten, die mir in den letzten Wochen untergekommen waren, befand ich mich in diesem Augenblick in einem geradezu euphorischen Zustand. Vor meinen Augen liefen die bunten Bilder ab wie auf der Leinwand im Filmpalast und ich hatte in diesem Moment nur einen intensiven Gedanken: Das Leben ist schön.

      Dann sah ich die beiden Männer, die eiligen Schritts die Straße entlang liefen. In all der unaufgeregten Ruhe des Menschengewirrs schlugen sie ein wesentlich höheres Tempo an und hasteten gegen den Strom der sie Umgebenden. Nur dadurch fielen sie mir überhaupt erst auf, denn mit ihrer nervösen Eile wirkten sie wie ein Fremdkörper in einer ansonsten homogenen Masse. Einer der beiden trug einen Pappkarton, dessen Inhalt offensichtlich von einigem Gewicht sein mußte, denn er wechselte die Kiste alle paar Meter vom rechten unter den linken Arm und dann wieder zurück. Es war Álvaro, der schwer an dem Karton trug. Neben ihm ging ein capellà in einer schwarzen Soutane, den Oberkörper halb zum Chauffeur gewendet, auf den er, mit beiden Armen gestikulierend, heftig einredete.

      Das Auftauchen der beiden hatte mich dermaßen überrascht, daß ich erst zu reagieren vermochte, da sie längst im Gewühl der Straße untergetaucht, meinen Blicken entzogen waren. Als ich mich endlich einigermaßen von meiner Verwirrung erholt hatte, war es bereits zu spät. Ich hätte sie nicht mehr wiedergefunden, sie konnten in eine der kleinen Seitengassen eingebogen oder in der nächstbesten Toreinfahrt verschwunden sein.

      Eben noch war ich von der Schönheit der Welt ergriffen, nur einige Wimpernschläge später fiel diese schöne Welt in sich zusammen wie das oft zitierte Kartenhaus. Ich blieb starr wie in Stein gehauen auf meinem Stuhl sitzen. Das Blut mußte mir aus dem Gesicht gewichen, der Oberkörper zusammengesunken sein. Die Bedienung kam zögernd an den Tisch und erkundigte sich vorsichtig nach meinem Befinden. Erst nachdem sie sich zweimal wiederholt hatte, verstand ich ihre Worte und bedankte mich mit einer schwachen, wahrscheinlich wenig überzeugenden Geste für ihre Fürsorge. Dann kramte ich einige Münzen aus der Jackentasche, warf sie auf den Tisch, stand auf und verließ das café. Mechanisch schlug ich den Weg zur Universität ein, dem mit Álvaro vereinbarten Treffpunkt.

      Natürlich war ich ihm nie persönlich begegnet, wie wäre das auch möglich gewesen? Und dennoch, in diesem Augenblick hätte ich Stein und Bein geschworen, in dem redseligen Begleiter Álvaros gegen jede Vernunft und Realität Don Xavier Marrasca erkannt zu haben. Logischerweise war das nicht möglich, konnte nicht sein. Der Rabe war tot, vor fast dreiunddreißig Jahren an der Küste von Canyamel in stürmischer Flut ertrunken. Die zerschlagenen Überreste seines Bootes legten unwiderlegbar Zeugnis davon ab.

      Als ich vor der Universität ankam, wartete Álvaro bereits in seinem Automobil auf mich. Ich setzte mich neben ihn auf den Beifahrersitz und bemerkte beim Einsteigen, den braunen Pappkarton, an dem er so schwer geschleppt hatte, auf den Rücksitzen. Álvaro mußte meinen Blick mitbekommen haben, denn ohne eine Frage meinerseits abzuwarten, erklärte er mir, er habe einige dringend benötigte Sachen aus seinem Zimmer hier in Palma abgeholt, da er in Artà bestimmte Verwendung für sie habe.

      Die Rückfahrt verlief dann in einer eigenartig angespannt unsicheren Atmosphäre. Ich selbst hatte mich zwar soweit von meinem Schrecken erholt, daß ich glaubte, rein äußerlich einen normalen Eindruck zu hinterlassen, innerlich aber war ich, man kann es sich vorstellen, aufs Trefflichste zerrissen und aufgewühlt. Mein Körper muß unbewußt entsprechende Signale an die Umgebung ausgeschickt haben, denn Álvaro merkte sehr wohl,