Jo Caminos

Tödliche Geschwister


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so karg. Und Primm besteht doch nur aus Kasinos - ohne den Reiz von Vegas zu besitzen.“ Links und rechts der Fahrbahn war etwas Grün zu sehen, verdorrte Sträucher und Gräser, die unter der Hitze dieses extremen Sommers genauso zu leiden schienen wie die Menschen. Ansonsten wirkte die Landschaft öde. Selbst Yuccas waren mittlerweile eher selten. Der Streckenverlauf schien schnurstracks ins Nichts zu führen. Immer nur geradeaus. Am Horizont war eine durch Hitzeflirren verschwommen erscheinende Bergkette zu erkennen. Es war kurz vor Mittag. Es herrschte nur wenig Verkehr.

      „Das stimmt“, meinte Dan lächelnd. „Aber ich muss an die Desperado denken.“ Er meinte die über 69 m hohe Achterbahn des Buffalo Bill’s Resort & Casino, die bis vor Kurzem als größte Achterbahn der Welt galt.

      „Oh du meine Güte, nein!“ Barbra lachte auf. „Da bringen mich keine zehn Pferde mehr drauf. Wenn ich daran denke, wie schlecht es mir damals war. Nein, wirklich Dan, die Zeiten sind vorbei.“ Vor einigen Jahren hatten Dan und Barbra mit zwei befreundeten Ehepaaren einen Kurztrip ins Buffalo Bill´s Resort unternommen und dabei natürlich auch die größte Achterbahn der Welt testen müssen. Dan, der von Jugend an begeisterter Achterbahn-Fan war, hatte seinen Spaß gehabt; seinen beiden Kumpels war die Fahrt nicht ganz so gut bekommen. Und auch seine Frau war etwas grün im Gesicht gewesen, als die Fahrt zu Ende war.

      Dan runzelte die Stirn. „So alt sind wir auch wieder nicht. Na ja …“ Er stutzte für einen Moment. „Ist das jetzt wirklich schon wieder zehn Jahre her, dass wir im Bill´s Resort waren …? Gott, wie die Zeit vergeht.“

      „Stimmt - manchmal habe ich auch das Gefühl, die Zeit würde davonrasen. Und vergiss nicht, Schatz. Ich war nie die große Achterbahn-Fahrerin. Schon vergessen?“

      Dan schien für einen Moment zu schmollen, doch dann lächelte er wieder. „Okay, Schatz. Ich weiß.“

      Sie fuhren einige Minuten schweigend weiter. Einige Trucks schienen es eilig zu haben und überholten sie.

      „Mein Gott, Barbra, weißt du eigentlich, wie froh ich bin, dass wir uns von unseren Freunden nicht haben irremachen lassen? Wenn ich daran denke, dass Patty für uns eine Riesenparty veranstalten wollte …“ Er meinte eine liebenswerte Nachbarin, die es allerdings hin und wieder etwas zu gut meinte und einem damit ziemlich auf die Nerven gehen konnte. Vielleicht lag es daran, dass Patty seit Jahren Witwe und bis dato solo geblieben war. Mehr als einmal hatte sie Dan und Barbra Miller gegenüber ihre Einsamkeit geklagt. Die Ehe mit ihrem verstorbenen Mann war kinderlos geblieben.

      „Oh je - Patty …“ Barbra lachte. „Nein, nein, die Tage in Las Vegas gehören uns, Schatz. Uns ganz alleine.“

      „Eben“, meinte Dan. „Ich glaube, das wird ein Riesenspaß.“

      Hätte er gewusst, was sie erwartete, hätte er schleunigst umgedreht. So aber fuhren sie in froher Erwartung auf Las Vegas weiter durch die Mojave ihrem Schicksal entgegen …

      6. Kapitel

      

      „Tobey McDuncan, ich sag´s dir nicht noch einmal! Schaff den Müll endlich runter! Jetzt! Nicht irgendwann. Hörst du?“

      Tobey verdrehte die Augen. Seine Mutter hatte mal wieder einen ihrer berühmt-berüchtigt schlechten Tage. In der Bar war es offenbar nicht so gut gelaufen: zu wenig Trinkgeld, zu viele fiese Kerle, die ihr an die Wäsche wollten. Wahrscheinlich hatte sie irgendein schmieriger Kerl angemacht und mit ihr nach Hause gehen wollen - kostenlos eine Nummer schieben. Oder zwei oder mehr … Es war immer das Gleiche.

      Ich muss hier raus!, durchfuhr es ihn. Hier in L.A., das war die Hölle auf Erden. Eine heruntergekommene Bude, die seine Mutter Wohnung nannte, wo niemals Ruhe herrschte, wo immer Irgendeiner der Scheißnachbarn nervte. An Carlo und seine Gang wollte er gar nicht erst denken. Einmal zu oft war Tobey von Carlo Moretti und seinen Jungs in die Mangel genommen worden. Das passiert Außenseitern halt so, hatte sich Tobey selbst vertröstet, wenn er im Dreck gelegen hatte und Carlo breitbeinig über ihm stand. „Na, McDuncan, mal wieder über deine Füße gestolpert …?“ So oder ähnlich hatte es zu viele Szenen gegeben, an zu vielen Tagen. Tobey war schon immer ein Außenseiter gewesen - das verzärtelte, träumerische Bübchen, wie ihn sein Vater immer genannt hatte. Vielleicht war ja wirklich etwas dran. Es spielte keine Rolle, denn sein Vater - wenn er denn sein richtiger Vater war, bei seiner Mutter konnte man da nie so richtig sicher sein - hatte schon lange die Flatter gemacht.

      Ich bin Künstler! Das wusste Tobey schon seit einer kleinen Ewigkeit. Er musste hier raus! Weg von seiner Mutter! Weg von dem ganzen Müll, mit dem er hier tagtäglich konfrontiert wurde. Es erstickte ihn langsam, es brachte ihn um. Heute war es so weit. Heute würde er die Stadt verlassen und alles hinter sich lassen. Er hatte eine kleine Ewigkeit für den kleinen japanischen Wagen gespart, der im Hinterhof stand. Sein Koffer mit den wenigen Sachen, die er mitnehmen würde, lag schon im Kofferraum. Und genau mit dieser Schrottkiste würde er nach Las Vegas aufbrechen. Bis dorthin würde es die Kiste hoffentlich noch schaffen. Tobey glaubte fest daran, dass er in Las Vegas ganz groß herauskommen würde. Es musste ganz einfach so sein. Hier - das war kein Leben, das war nur ein sinnloses Dahinvegetieren von einem Tag in den nächsten, ohne Aussicht auf Besserung.

      Las Vegas war schon immer sein Traum gewesen. Er wollte wie Elvis sein - oder all die anderen Stars, die in Las Vegas eine Millionengage einstrichen und ein Leben in Saus und Braus führen konnten. Er hatte Talent, mehr vielleicht als so mancher etablierte Star, das hatten ihm viele seiner Lehrer attestiert, selbst jene, die ihn nicht leiden mochten, und das waren nicht wenige.

      „McDuncan, du kannst nichts, aber singen, das muss ich dir lassen, das kannst du!“, hatte die widerliche Miss Miller mehr als einmal mit einem sarkastischen Lächeln zu ihm gesagt. Carol Miller, die graue Maus mit der spitzen Zunge. Keiner an der Schule mochte sie - mehr noch, die Miller war gefürchtet. So klein, wie sie war, so giftig konnte diese Natter werden.

      Ja, dachte Tobey McDuncan. Ich werde singen. Singen und tanzen in einer Las Vegas Show. Und danach werde ich die ganze Welt erobern, ein Star sein, reich und berühmt. Ein Megastar …

      „Was ist jetzt mit dem Müll?“, brüllte seine Mutter vom Balkon herunter. „Träumt der angehende Weltstar von der Müllpolka, oder was? Setz deinen gottverdammten Hintern in Bewegung. Du bist schon genauso ein Lahmarsch wie dein Vater. Ach, fahr doch zur Hölle!“ Seine Mutter knallte das Fenster zu. Irgendein Nachbar brüllte: „Schlampe“, ließ sich aber nicht blicken. So mutig war der Gute also doch nicht …

      Tobey ignorierte beide. Es war die Regel hier im Viertel. Keiner mochte keinen, und jeder würde jedem zu gerne an die Kehle gehen. Tobey ertrug seine Mutter nicht mehr. Wenn er ehrlich mit sich war, war das niemals anders gewesen - und wenn doch, dann konnte er sich nicht mehr daran erinnern. War sie eine gute Mutter - gewesen? Damals, als er Kind war? Nein, war sie nicht! Aber früher war sie wenigstens hübsch, daran konnte er sich noch erinnern. Doch jetzt war sie nur noch eine Frau, deren beste Jahre schon seit einer Ewigkeit hinter ihr lagen: zu stark geschminkt, ständig eine Zigarette im Mundwinkel, Lockenwickler im Haar. Nein, Tobey wollte nicht mit seiner Mutter streiten; mit überhaupt niemandem hier. Es machte keinen Sinn. Heute Abend würde er sowieso weg sein. Wenn alles so lief, wie er es geplant hatte, würde er diese Frau - seine Mutter - niemals wiedersehen. Er hatte noch nicht mal eingeplant, irgendwann an ihrem Grab zu stehen, dafür verband sie einfach zu wenig - und das nicht erst seit gestern.

      „Hey, McDuncan!“

      Tobey, der den Mülleimer in den Container ausgekippt hatte, drehte sich um. Die Stimme gehörte Lorenzo, ein kleiner Hispano mit einer Gehbehinderung, der im Nachbarhaus wohnte. Sie beide waren immer gut miteinander ausgekommen, auch wenn es nie zu einer echten Freundschaft gereicht hatte, was wohl daran lag, dass Lorenzo stockschwul war und auf ihn stand. Nicht, dass Tobey Vorurteile gehabt hätte, aber Lorenzo war ihm mehr als einmal etwas zu sehr auf die Pelle gerückt. Offensichtlich machte er sich immer noch Hoffnung, dass vielleicht doch noch was aus ihnen beiden werden könnte.

      Nicht in diesem Leben, sagte sich Tobey. Er nickte dem kleinen