Nicole Siecke

Ungewisse Vergangenheit


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      Sie schluchzte. Immer wieder holten sie die Szenen ein, die sich abgespielt hatten, und sie schämte sich und wusste nicht, weshalb. Noch nicht.

      Würde sie es jemals schaffen, diese Bilder, diese Leinwand tief in ihren Augen wegzudenken? Zu verdrängen? Zu löschen?

      Oder würden ihre Augen sie verraten? Ihren gesamten gespeicherten Inhalt spiegeln, wenn sie jemanden ansehen würde? Waren sie der Spiegel der Offenbarung? War es am Ende doch besser, sie für immer zu schließen?

      Die Stille wurde plötzlich unterbrochen. Jemand betrat das Zimmer und sie hielt instinktiv die Luft an. Schritte an der Schranktür, aber niemand sprach etwas.

      Zögerlich öffnete sie die Augen und wurde sogleich wieder geblendet. Dieses Mal war es jedoch nicht das Tageslicht, welches sie fixierte. Es war heller, extremer, wie der Strahl einer Taschenlampe und als sie ihren Kopf den offenen Schlitzen entgegen wandte, stellte sie fest, dass jemand das Licht in ihrem Zimmer eingeschaltet hatte.

      „Bist du hier drin?“ Sie flüsterte. Ihre Schwester flüsterte. Sie selbst versuchte auszumachen, ob es ein Flüstern des Zornes oder des Mitleids war. Ob sie aufgebracht, verärgert oder liebevoll beschützend klang. Die Gabe, dies in all den Jahren aus einer Stimme herauszufiltern, war ihr zur zweiten Natur geworden. Die Gefühlslagen eines Menschen abzuschätzen, darin hatte sie unfreiwillig Meister werden müssen und sonst konnte sie nicht viel. Zumindest war ihr nie das Gegenteil bewiesen worden.

      Ein leises Klopfen an der Schranktüre ließ ihr Herz beschleunigen, dann vernahm sie wieder die bekannte Stimme.

      „Bist du hier drin? Darf, darf ich zu dir hereinkommen?“

      In den Schrank? Wie sollte sie hier auch noch herein passen? Schließlich waren sie keine Kinder mehr. Sie schweifte in diese Zeit zurück, obwohl sie eigentlich noch als Kind galt. Es gab keine unbedarften Tage mehr in diesem Haus, in welchen sie sorgenlos gelebt hatten. Jetzt nicht mehr.

      Aber ihre Gedanken schweiften zu weit ab. Jetzt war jetzt und es war grauenhaft. Elaine war ihr offensichtlich nachgelaufen, also musste sie es mitbekommen haben. Nicht auszudenken! Röte schoss ihr ins Gesicht, aber hier in ihrem Versteck würde es niemand bemerken. Sie hörte, wie ihre Schwester versuchte, den Schrank zu öffnen. Scharrende Geräusche, dann der Klick am unteren Schrankende. Sie kannte den Trick dafür und plötzlich konnte und wollte sie sich nicht mehr verstecken. Wie ein Blitz schoss sie ihr entgegen und fiel ihr zu Füßen.

      „Elaine!“

      Plötzlich schrie sie den Namen ihrer Schwester. Ihre Stimme überschlug sich, als könne sie auf diese Weise all ihren Kummer loswerden. Heißes Fieber hatte ihren gesamten Kopf eingenommen und sie fühlte sich schlecht. Jetzt zog sie den Rest ihres schmalen, gebeutelten Körpers aus ihrem Versteck im Schrank. Obwohl es ihr überall Schmerzen bereitete, hatte sie sich an die Unterschenkel ihrer Schwester geklammert. Seltsamerweise tat ihr der Hals schrecklich weh. Nein, er schmerzte fürchterlich, so als habe sie glühende Kohlen verschluckt. In ihrem verwirrten Zustand fragte sie sich, warum sie der Hals derart peinigte, wo doch ihr ganzer Körper nach der Aktion von vorhin eigentlich in Mitleidenschaft gezogen war. Es riss wie Feuer und begann hinter den Ohren bis hin zur Brust, tief herunter und raubte ihr immer wieder die Luft zum Atmen. Sie roch nach verbranntem Fleisch. Ja, so kam es ihr vor, aber da war kein Feuer gewesen. Da waren nur harte Schläge, die ihren Körper zum Erzittern gebracht hatten. Schäumende Wut, der sie hilflos ausgesetzt gewesen war und die sie verzweifelt versucht hatte, abzuwehren. Und eine Scham, wo sie nicht mit umzugehen wusste.

      Ängstlich riss sie die Augen auf und sah Elaine vor sich stehen. Vielmehr betrachtete sie ihre hellbraunen Unterschenkel, die mit einem jeansblauen Minirock bedeckt waren. Überall auf Elaines Haut konnte man regenbogenfarbene Flecken erkennen, die, wie sie mit Entsetzen bemerkte, auch eine unterschiedliche Konsistenz besaßen.

      Einige waren hart und fast knotig, andere wiederum waren weich und schwabbelig, aber trotz der Flecken war sie einfach nur wunderschön. Sie wusste, dass der ganze Restkörper Elaines ähnlich aussah, unter der Kleidung verborgen, dort, wo sie niemand sehen konnte. Er war schlau, er schlug sie immer nur so, dass die verräterischen Flecken, die entstehen würden, im Verborgenen blieben, und er hasste es, wenn sie dann einen Minirock trug. War er deshalb so ausgerastet? War es Elaines Kleiderwahl an diesem Morgen gewesen? Und dass sie somit seine Wut auf sie nach außen verdeutlichte?

      Sie fragte sich Sekunden später, ob ihre eigenen geprellten Stellen von eben auch mit der Zeit weich wurden, nachdem sie erst anschwollen und knotig hart waren.

      „Lass mich los, du tust mir weh“, rief Elaine plötzlich, griff nach ihr und streifte ihren Hals.

      Wieder schrie sie. Es schmerzte sie zu sehr.

      „Hat … hat er mich am Hals gewürgt, Elaine? Mein Hals. Er brennt so fürchterlich!“

      Sie hielt ihrer Schwester die so verwundbare Körperfläche entgegen.

      Augenblicklich spürte sie eine sanfte Hand an der beschriebenen Stelle. Woher Elaine den kalten, nassen Lappen so plötzlich hatte, wusste sie nicht, aber die spontane Kühlung tat gut.

      „Nein, du hast nichts am Hals, aber ich rate dir, nicht denselben Fehler wie ich zu machen, und einen Rock anzuziehen!“

      Also war es wirklich nur der Minirock ihrer Schwester gewesen? Sie fror unwillkürlich, obwohl sie eine unbeschreibliche Hitze in sich empfand.

      „Zieh nie einen Rock an, hörst du? Gib ihm nie die Gelegenheit, mehr von dir zu sehen, als eben nötig!“

      Die bittere Erfahrung, die sie eben hatte machen müssen, ließ sie wissen, wovon ihre Schwester nun sprach. Sie spürte die Aufregung Elaines und sie spürte auch, dass sie noch etwas sagen wollte, deshalb ließ sie ihr Zeit. Dann, Minuten später, brach es aus der Kehle ihrer Schwester heraus.

      „Ich habe schon oft darüber nachgedacht, ihn zu töten.“ Ihre Stimme zitterte.

      „Zu töten? Wie meinst du das, Elaine?“

      „Dann wäre es vorüber, ein für alle Mal, verstehst du?“

      Sie lauschte den Worten ihrer Schwester, die sie selbst kaum fassen konnte. Ihn töten? Ging das denn? Gerade, als sie sie fragen wollte, wie sie so etwas planen konnte, fiel Elaine in ihre Gedanken hinein.

      „Ich schaffe es aber nicht, hörst du? Ich schaffe es nicht, ihn zu töten und deshalb werde ich gehen. Ich ...“ sie brach ab und ihre Stimme hatte nun nicht mehr so fest geklungen wie zu Anfang, als sie den Raum betreten hatte.

      „Ich werde gehen, es tut mir leid. Ich sehe keinen anderen Ausweg mehr.“

      Diese Worte lösten in ihr eine Beklemmung aus und Panik ergriff sie. Elaine wollte sie allein lassen? Mit diesem Menschen?

      „Nein“, stammelte sie erschüttert. „Du kannst mich nicht allein lassen. Nicht mit ihm!“

      Sie sahen sich an. Ihr Blickkontakt spiegelte eine ernüchternde Wahrheit und vor eben dieser hatte sie die größte Angst.

      „Ich kann das nicht mehr aushalten, kannst du das nicht verstehen? Das, was er mit dir gemacht hat, tat er schon jahrelang zuvor mit mir und deshalb werde ich gehen.“

      Tränen traten in ihre Augen und am Gesichtsausdruck ihrer Schwester konnte sie sehen, wie ernst sie es damit meinte.

      „Dann werde ich ihn töten. Ich schwöre bei Gott, ich werde ihn töten!“

      Plötzlich hatten Elaines Gesichtszüge etwas Mildes, aber ihre Augenlider flatterten unterschwellig, als sie etwas erwiderte.

      „Du kannst ihn genauso wenig töten, wie ich es kann. Du solltest ihn nur nicht aufregen und niemals Röcke tragen, dann … dann wird er dich in Ruhe lassen, glaube mir.“

      „So, wie er dich immer in Ruhe gelassen hat, Elaine?!“

      Die Angesprochene stand auf uns sah auf ihre kleinere Schwester hinab.

      Dann sagte sie mit dem Klang einer festeren Stimme:

      „Es