Bernadette Schmon

Aurelie in der Welt der Wesentlichen


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      Aurelie in der Welt der Wesentlichen

      Wo Liebe, da Magie

      Bs

      Kapitel 1 - Tage wie dieser

      „Aurelie, wo bist du nur immer mit deinen Gedanken“, seufzte Alice Bell und blickte dabei in den Mittelspiegel ihres blitzblauen, sicher 20 Jahre alten Ford Escorts in Richtung der karamellbraunen lederbezogenen Rückbank, auf der ein kleines Mädchen mit langen feuerroten Zöpfen saß und mit ihren großen blauen Augen aus dem Fenster starrte.

      Die Worte ihrer Mutter drangen nur dumpf zu ihr durch, zu oft hatte sie diesen Satz schon aus ihrem Mund gehört.

      Schon so viele Male hatte die Schuldirektorin Miss Gallagher ihre Mutter ins Rektorzimmer diktiert, um die unzureichende Lernbereitschaft des 12-jährigen Mädchens zu kritisieren. Der quadratische fensterlose Raum war an allen Seiten mit dunklen Möbeln vollgestellt. In den Eichenholzregalen sammelten sich in Reih und Glied neben schweren alten Lexika alle bedeutenden literarischen Werke von der Renaissance bis zur Moderne. Miss Gallagher schien ebenfalls einer vergangenen Epoche entsprungen zu sein. Ihr schneeweißes Haar war adrett nach oben gesteckt, nicht eine Strähne wagte sich hervorzustehen. Die breiten Schulterpolster ihres mausgrauen Blazers verschlungen die Schultern der zierlichen alten Dame geradezu. Dennoch wirkte das strenge Kostüm, als ob es für sie gemacht worden wäre. Noch nie hatte Aurelie Miss Gallagher in einem anderen gesehen. Das Mädchen hatte sich oft gefragt, ob die faltige Frau auch damit ins Bett ging. Oder hingen in ihrem Kleiderschrank etwa zwanzig idente Stücke des farblosen Baumwollzweiteilers?

      Der auf drei Seiten geschlossene Schreibtisch der Direktorin war auf einer kleinen Anhöhe errichtet, sodass die geringe Körpergröße der Schulleiterin optimal kaschiert wurde. Allein ihr Oberkörper ragte hinter dem gemaserten Holz hervor. Direkt über dem unbequemen Metallklappstuhl, der mit einem Abstand von drei Metern zum Arbeitsplatz der Direktorin in der Mitte des Raumes platziert war, drang unangenehm weißes Licht aus den an der Decke befestigten lang gezogenen Neonröhren. Der von oben herab geworfene, strafende Blick von Miss Gallagher hätte selbst der unschuldigsten Seele ein schlechtes Gewissen eingeredet und erzeugte unweigerlich das Gefühl, als müsste man sich dem jüngsten Gericht stellen.

      Alice Bell kannte die ständig wiederholende Predigt der Direktorin schon auswendig. Sie musste sich regelrecht bemühen, mit ihren Lippen nicht schon die Worte zu formen, die eine Sekunde später von der kleinen Dame, deren Stirn mit Sorgenfalten durchzogen war, als ob ein Pflug dort seine Bahnen gezogen hätte, ausgesprochen wurden. Grob zusammengefasst ging es um Respekt, Verantwortung und darum seinen Platz in der Gesellschaft zu erkennen. Vor allem aber darum, dass früher alles besser war.

      Miss Gallagher pochte während ihrer Ansprache mit dem runzligen Zeigefinger auf die glatt polierte dunkle Schreibtischoberfläche. Nie war auch nur ein einziger Gegenstand darauf zu sehen. Weder Stifte noch ein Stück Papier. Alles schien in den unzähligen, mit Messingknöpfen versehenen Schreibtischladen fest weggesperrt zu sein. Zur Vervollständigung des düsteren Bildes des Raumes gab es weder Pflanzen noch sonstige Dekoration. Keine Bilderrahmen. Kein Teppich. Keine Kerzen. Wenn da nicht die farbenprächtigen Einbände der unzähligen Bücher in den Wandregalen gewesen wären, wäre das Zimmer wohl gänzlich mit dem schmucklosen Grau des Kostüms der Direktorin verschmolzen.

      Nachdem Miss Gallagher ihre aus Intervallen von Wut, Enttäuschung und Erziehungsratschlägen bestehende Ansprache beendet hatte, versprach Alice Bell, wie jedes Mal, Besserung und schlich mit beschämt nach unten gerichtetem Blick andächtig aus dem streng nach Mottenkugeln riechenden Zimmer. Die Direktorin verfolgte mit ihren blitzenden grünen Augen, die sie unter ihrer riesigen Hornbrille immer wieder fest zusammenkniff, jeden Schritt.

      Aurelie wartete, wie jedes Mal, ungeduldig vor der Türe, bis ihre Mutter endlich wieder heraustrat. Ohne auch nur ein Wort zu sprechen, fasste Alice Bell ihre Tochter an der Hand und zog sie schnellen Schrittes den leeren Schulflur entlang in Richtung Ausgang.

      Das Mädchen hasste es ihrer Mutter Kummer zu bereiten. Es war ja nicht so, dass sie nicht lernen wollte, ganz im Gegenteil. Es gab so viele Dinge, die sie interessierten, doch diese verbargen sich nur selten in den staubigen Lehrbüchern, sondern waren vielmehr außerhalb des Klassenzimmers zu finden. So konnte sie stundenlang Schmetterlinge beobachten oder nach seltenen Pflanzen im Wald suchen. Das Mädchen war auch keinesfalls jedem Lesestoff abgeneigt, solange der Inhalt genauso lebhaft gestaltet war wie ihre eigene Fantasiewelt. Sie liebte es mit Feen und Einhörnern durch magische Wälder zu tanzen. Ihre Mutter musste sie fast täglich in den Nachstunden ermahnen, wenn sie wieder heimlich mit einer Taschenlampe bewaffnet unter der Bettdecke ein Kapitel nach dem nächsten verschlang. Zu Schade, dass die alten Märchenbücher, in denen das Mädchen, deren niedliche Stupsnase über und über mit winzigen Sommersprossen übersäht war, so gerne schmökerte, nie zur Schullektüre gehörten.

      Die endlosen Schulstunden voller trockener Vorträge und das ständige Von-der-Tafel-Abschreiben zermürbten Aurelies Abenteuergeist. Warum sollte sie in Büchern darüber lesen, was sie außerhalb der farblosen Wände des Schulgebäudes hautnah erleben konnte? Dort lernte man sicher nicht, die vielfältigen Vogelarten an ihrem Zwitschern zu erkennen oder wie man köstliche Beeren und Pilze von deren ungenießbaren Geschwistern unterschied. Genauso wenig wie man sich mit Hilfe von Fuhrmann und dem großen Bären aus der Dunkelheit navigieren konnte.

      Es gelang ihr auch ohne die unzähligen Wiederholungen, die ihre Lehrer Tag für Tag fast gebetsartig vortrugen, spielend am Tag vor den Schularbeiten den Unterrichtsstoff in ihr Kurzzeitgedächtnis einzuverleiben, sodass sie sämtliche Testfragen korrekt beantworten konnte.

      Auch wenn das Mädchen mit dem dichten Haar, dass wie die Flammen eines Feuers wilde Wellen schlug, ihre Zeit lieber für sinnvollere Aktivitäten genutzt hätte, war das stolze Freudenstrahlen ihrer Mutter, die jedes Sehr Gut zumindest eine Woche an den Kühlschrank pinnte, nicht mit Gold aufzuwiegen.

      So sperrte sie sich vor wichtigen Klausuren selbst in ihrem Zimmer ein, um sich den unliebsamen Lesestoff einzuprägen.

      Während der Unterrichtsstunden hingegen hatte Aurelie hart mit sich zu kämpfen sich nicht von jedem Geräusch und jeder Bewegung im Freien ablenken zu lassen. So war sie auch dieses Mal wieder Mitten in der Mathematikstunde bei Mr. Griffiths aufgesprungen und ans Fenster geeilt, um die Eichhörnchen zu beobachten, die auf der großen alten Eiche im Schulhof Fangen spielten. Erst als der großgewachsene Lehrer seine behaarten Hände, die mehr an die Tatzen eines Wolfes erinnerten, auf ihre Schultern gelegt hatte, war sie unsanft aus ihrem Tagtraum gerissen worden. Die schrillen Rufe des hageren Mannes, der stets überdimensionierte Hemden trug, die unordentlich und knitternd in die beige Cordhose gestopft waren, lagen ihr noch immer unangenehm im Ohr.

      „Was fällt dir nur ein, Aurelie Bell? Geh sofort wieder zurück auf deinen Platz. Das werde ich Miss Gallagher melden, dann kannst du was erleben!“

      Aurelie blickte nachdenklich aus dem Autofenster auf die verschlafenen Straßen des Örtchens Bredhurst. Es bereitete ihr großen Kummer, dass ihre Mutter erneut den Supermarkt, in dem sie tagsüber arbeitete, hatte vorzeitig verlassen müssen. Sie hatte es schwer genug ganz alleine für die kleine Familie zu sorgen, alle Rechnungen zu bezahlen und ihrer Tochter dabei nicht einen einzigen Wunsch abzuschlagen. Dennoch verlor diese nie ein böses Wort. Sie beschwerte sich nie. Egal wie müde sie war, die zierliche Frau mit der langen blonden Mähne und dem strahlend schönen Gesicht kam stets mit einem Lächeln auf den Lippen nach Hause. Ein Blick in die gutherzigen braunen Mandelaugen, die unter den kecken Stirnfransen hervorlugten, ließ jeden Groll sofort verfliegen.

      Ihr Ehemann, Marlon Bell, war ums Leben gekommen als Aurelie gerade einmal vier Jahre alt war. Ihren hellglänzenden silbernen Ehering hatte sie seither nicht eine Sekunde abgenommen. Trotz der häufigen Avancen unzähliger attraktiver Verehrer war es für die Blondine undenkbar sich neu zu verlieben. Schließlich vermisste sie ihren Marlon jeden einzelnen Tag. Wenn sie Aurelie abends einen Gutenachtkuss auf die Stirn gab und in die kullernden blauen Augen des Mädchens, in denen – genau wie in jenen ihres Vaters – rechts und links ein winziger gelber Punkt am äußeren Pupillenrand glänzte, blickte,