Bernadette Schmon

Aurelie in der Welt der Wesentlichen


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die kalten Finger ihrer Mutter fest zusammen. Sie konnte nicht glauben, was ihre Großmutter von sich gab. Nichts und niemand würde sie dazu bringen ihre Mutter zu verlassen.

      „Entweder wir beide begleiten dich oder niemand“, während Aurelie die trotzigen Worte hervorprustete, blähten sich ihre Nasenflügel vor Erzürnung.

      Alice Bell hingegen hatte Tränen in den Augen. Sie strich ihrer geliebten Tochter die feuerroten Strähnen aus dem Gesicht und küsste sie sanft auf die Stirn. Sie hatte schon längst eine Entscheidung getroffen. Sie hatte zwar keine Ahnung, was hier vor sich ging, doch wenn nur der Hauch einer Chance bestand, dass ihre Schwiegermutter die Wahrheit sprach, musste sie alles tun, um ihre Tochter zu schützen. Selbst wenn sie an einem gebrochenen Herz qualvoll verenden würde, zählte nichts mehr als das Wohlsein ihres Kindes.

      „Du wirst mit ihr gehen, hörst du.“

      Aurelie blickte ungläubig in die feuchten Augen ihrer Mutter. Das Atmen fiel ihr schwer. Die gemischten Gefühle in ihrem Inneren erzeugten eine beklemmende Übelkeit. Einerseits war es unvorstellbar ihrer Mutter von der Seite zu weichen. Andererseits tat sich die Möglichkeit auf, zu erfahren, wer ihr Vater wirklich war. In eine unbekannte Welt einzutauchen. All die unerklärlichen Dinge zu begreifen, die seit kurzem Teil ihres Lebens geworden waren. Ihre Großmutter hatte ihr nun schon zum zweiten Mal das Leben gerettet. Noch mehr hätte sie die Lauterkeit ihrer Motive wohl nicht unter Beweis stellen können.

      Mutter und Tochter sahen sich lange tief in die Augen. Sie brauchten nicht zu sprechen, um zu wissen, was der andere empfand. Es war ein Abschied. Ein Abschied ins Ungewisse.

      „Ich liebe dich, mein Engel“, dicke Tränen kullerten Alice Bells Gesicht entlang und schienen Aurelie wie ein breites Gähnen anzustecken, sodass auch diese bitterlich zu weinen begann.

      „Es wird Zeit“, Agatha Bell drängte die beiden, um nicht selbst unter Rührung in Tränen auszubrechen.

      Es war schrecklich das Band zwischen Mutter und Tochter so unsanft zu zerreißen. Doch sie musste tun, was der Rat ihr aufgetragen hatte. Es ging nicht nur um den Schutz ihrer Familie alleine, sondern um das Wohl der ganzen Menschheit. Unter den Augen der Unwesentlichen konnte sie Aurelie nicht davor bewahren in die Hände von Det Ondas Anhängern zu fallen.

      Während das rothaarige Mädchen schniefend in ihr Zimmer schlich und sichtlich planlos diverse Gegenstände in eine kaminrote Nylonreisetasche mit abgewetzten gelben Tragegurten stopfte, starrte Alice Bell verloren ins Leere.

      „Es wird alles gut werden“, Agatha Bell versuchte ihre Schwiegertochter zu trösten.

      Dann zog sie ein beiges zerknittertes Kuvert unter ihrem langen Ledermantel hervor.

      „Du musst diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Hier drin sind ausreichend Bargeld und Zugtickets. Du wirst am Bahnhof abgeholt und in Sicherheit gebracht werden.“

      „Wie höre ich von ihr? Wie weiß ich, dass es ihr gut geht?“, der Kummer in Alice Bells Stimme traf Agatha Bell wie ein Messer in die Brust.

      Nur zu gut konnte sie die Muttergefühle nachempfinden.

      Nachdenklich schlich die alte Frau durch den Raum, während ihr Blick auf die vielen gerahmten Fotografien an der Wand fiel, die Aurelie und ihre Mutter ausgelassen lachend zeigten. Da traf sie eine Entscheidung.

      „Der Rat der Wesentlichen hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass du all das, was du gesehen hast, wieder vergisst. Damit du uns nicht suchst. Uns nicht verrätst. Damit du Aurelie loslässt. Dein Leben einfach weiterlebst. Ohne sie zu vermissen.“

      „Ich könnte sie niemals vergessen“, schockiert über die Worte ihrer Schwiegermutter hielt sich Alice Bell die Innenfläche ihrer rechten Hand vor den Mund.

      Nicht nur ihren größten Schatz wollte man ihr nehmen, auch noch ihre Erinnerungen? Da hätte ihr der Höllenwolf auch gleich das Herz aus der Brust reißen können. Sie zitterte am ganzen Leib.

      „Ich werde es nicht tun. Ich werde ihre Weisung nicht befolgen. Aber du musst mir etwas versprechen. Du musst es mir schwören. Hörst du? Schwöre, dass du niemanden auch nur eine Silbe davon erzählst. Dass du nicht versuchst Kontakt aufzunehmen. Wenn alles ausgestanden ist, bringe ich sie dir zurück“, Agatha Bell wusste, dass sie diesen Verrat büßen würde.

      Doch das war sie ihrem Sohn schuldig. Er hatte sich nun einmal in eine Unwesentliche verliebt. Er hatte sich dafür entschieden ein Leben im Zwiespalt zu führen. Es galt nun beide seiner Welten zu schützen.

      „Ich verspreche es. Ich sage kein Wort“, flehend fiel Alice Bell auf die Knie.

      Die wohlgenährte Zauberin zog sie noch rechtzeitig wieder auf die Beine, bevor Aurelie mit ihrer alten Reisetasche, die sich durch die Überladung nach außen beulte, als ob sie jeden Moment platzen würde, ins Zimmer trat.

      „Ich bin soweit.“

      „Alles wird gut werden. Bald sehen wir uns wieder“, mit all ihrer schauspielerischen Kraft gelang es Alice Bell ein kleines Lächeln mit ihren Schmolllippen zu formen.

      Sie drückte ihre Tochter fest an ihre Brust.

      „Vergiss nie, wie sehr ich dich lieb habe.“

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