Bernadette Schmon

Aurelie in der Welt der Wesentlichen


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Als würden jede Sekunde Blitz und Donner über einen hereinbrechen. Anstatt sich wie gewohnt auf die Couch zu legen, schlich die aufgewühlte Frau auf Zehenspitzen in Aurelies Zimmer und kroch zu ihr unter die Bettdecke, wie sie es früher, als ihre Tochter noch klein war, oft getan hatte.

      Es war gerade erst kurz nach Mitternacht, als Aurelie aus ihrem traumreichen Schlaf gerissen wurde. Erst jetzt bemerkte sie, dass sich ihre Mutter zu ihr in das viel zu kleine lichtbraune Rattanbett gelegt hatte. Das gleichmäßig knurrende Geräusch, das an die Startversuche eines alten Mopeds erinnerte, deutete darauf hin, dass Alice Bell tief und fest schlief. Aurelie fröstelte. Es war plötzlich so kalt in dem kleinen farbenfrohen Zimmer, dass ihre Atemzüge sich vor ihr als weißer Rauch aufbäumten. Zitternd zog sie die prall gefüllte Daunendecke, die mit einer rotgetupften Leinenbettwäsche überzogen war, weit über die Schultern und versuchte wieder in ihrem letzten Traum zu versinken, als plötzlich ein lautes Heulen ertönte. Neugierig kletterte das rothaarige Mädchen, bekleidet mit einem riesigen weißen Baumvollshirt, das ihr bis zu den Knien reichte, aus dem Bett. In schnellen Auf- und Abbewegungen rieb sie mit den Handflächen ihre Oberarme entlang, um sich aufzuwärmen. Der Blick aus dem Holzkastenfenster brachte keine neuen Erkenntnisse, der dichte Nebel war viel zu trüb, um etwas zu erkennen. Wieder schrillte ein langgezogenes Heulen durch die Nacht. Aurelie öffnete vorsichtig den rechten Fensterflügel und leuchtete, in der Hoffnung den Ursprung des Geräusches eruieren zu können, mit ihrer treuen kleinen Taschenlampe in die Nebelschwaden, als plötzlich eine bedrohliche dunkle Gestalt am Ende des Lichtstrahls auftauchte. Erst als der Schatten nähertrat, war zu erkennen, dass es sich um das zottelige schwarze Fell eines monströsen Wolfs handelte. Die knallgelben Augen starrten unbarmherzig in Aurelies Richtung. Die Nasenlöcher des Tieres waren weit gebläht, die nach oben gezogene Oberlippe gewährte Einblicke zu den messerscharfen, nach hinten geschwungenen Fangzähnen. Weißer Schaum tropfte aus dem Maul. Die spitzen Ohren waren dicht an den Körper angelegt. Erneut warf der Wolf seinen Kopf in den Nacken und gab ein ohrenbetäubendes Sirenenheulen von sich. Aurelie schob panisch den Seitenflügel ihres Fensters nach vorne und verschloss es fest mit dem silbernen Drehhebel. Noch nie zuvor hatte sie so ein wutentbranntes Tier gesehen. Auf Zehenspitzen schlich sie rückwärts zurück zu ihrem Bett und rüttelte am Rücken ihrer Mutter, bis diese endlich die Augen öffnete und Aurelie mit fragender Miene verschlafen anblickte.

      „Mama, da draußen ist ein riesiger Wolf!“, schrie das Mädchen mit dem roten gewellten Haar so laut, dass Alice Bell ihren gerade erst erhobenen Kopf erschrocken zurückriss.

      „Das war bestimmt nur ein böser Traum, mein Schatz“, noch bevor sie ihre Tochter beruhigen konnte, drang wieder ein lautes Heulen durch die Nacht.

      Ohne zu zögern erhob sie sich aus dem engen Bett und marschierte zielstrebig zu dem deckenhohen Holzkastenfenster, das in Richtung der Straße zeigte. Als sie den gewaltigen schwarzen Wolfskopf auftauchen sah, traute sie ihren Augen zunächst nicht. Das Tier stand in geduckter Haltung nur wenige Meter vom Fenster des Kinderzimmers entfernt und schnappte mit gefletschten Zähnen immer wieder in ihre Richtung. Das konnte kein normaler Wolf sein. Das konnte noch nicht einmal ein normales Tier sein. So stellte man sich ein Monster vor.

      „Wir müssen sofort hier raus!“, befahl die besorgte Mutter. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie ihrer Tochter die purpurne Überdecke, die sorgfältig zusammengerollt am unteren Bettende lag, um den Hals, packte sie am Arm und zerrte sie aus dem Zimmer.

      Im Vorbeigegehen ergriff sie ihre Autoschlüssel aus der kleinen ovalen Holzschale im dunkelgrün lackierten Bücherregal an der Seitenwand des Wohnzimmers und eilte zur Hauseingangstüre. Mit beiden Händen hob sie den schweren Metallbalken aus seiner Verankerung und stellte ihn unsanft zurück in die Ecke des Vorzimmers. Noch bevor sie den Schlüssel im rostigen Schloss drehen konnte, ertönte ein lautes Kratzen entlang der Holzfaserung. Erschrocken wichen Mutter und Tochter von der Türe zurück. Während sie Aurelie mit einem Arm schützend hinter ihren Körper schob, führte Alice Bell mit angehaltenem Atem ihr rechtes Auge immer näher an die runde Öffnung des Türspions heran, bis sie schließlich durch das Glas lugen konnte. Durch das weit geöffnete Maul des boshaft knurrenden Tieres blickte sie weit in dessen roten Rachen hinein, bis die weißen nadelspitzen Zähne sich wieder ineinander schlossen und nur mehr die feuchte schwarze Nase, die zornig weißen Dampf ausprustete, zu sehen war. Alice Bell taumelte zurück. In der nächsten Sekunde polterte die alte Eingangstüre, als ob sich etwas Monströses mit voller Wucht dagegen werfen würde. Panisch rannten Mutter und Tochter wieder zurück in das Kinderzimmer. In gemeinsamer Anstrengung schoben sie den sperrigen Fichtenschrank als Barriere vor die Zimmertüre. Angstschweiß tropfte auf den Boden, als sie hörten, wie draußen die Eingangstüre mit einem lauten Knacken aus ihrer Verankerung gerissen wurde. Aurelie und ihre Mutter hockten sich bangerfüllt in die letzte Ecke des Zimmers, hielten sich gegenseitig im Arm und starrten zitternd zum Eingangsportal. Schritt für Schritt schleifte das Untier seine schweren Tatzen über den Wohnzimmerboden und zog dabei tiefe Kerben in die Dielen. Aurelie schloss ihre tränenerfüllten Augen. Immer wieder flüsterte sie flehend: „Bitte, komm nicht hier rein. Bitte, komm nicht hier rein.“

      Alice Bell drückte ihre Tochter fest an sich. Kurze Stille. Dann ein Knall. Die Zimmertüre bebte. Mit jedem Donnern seines kolossalen Körpers an die Holzbarrikade rückte der Wolf den hölzernen Kasten weiter in den Raum hinein. Alice Bell ging alle Fluchtmöglichkeiten in ihrem Kopf durch. Wenn sie weiter hier ausharrten, würde das tollwütige Tür sie gewiss zerfleischen. Sie mussten alles auf eine Karte setzen. Die Flucht durch das Zimmerfenster war ihre einzige Chance. Vielleicht konnten sie es bis zum Auto schaffen.

      Wie von der Tarantel gestochen sprang Alice Bell auf und rannte zur anderen Seite des Zimmers. Mit zittrigen Händen öffnete sie die zwei Fensterflügel des Holzkastenfensters, durch das heller Mondschein ins Zimmer drang.

      „Komm schnell! Du musst hinausspringen“, sie streckte die Hand zu ihrer Tochter aus, die noch immer in der Zimmerecke am Boden kauerte.

      Just in diesem Moment gelang es dem pechschwarzen Tier mit einem weiteren gezielten Sprung den alten Bauernschrank so weit nach vorne zu schieben, dass es sein imposantes Haupt durch den Türrahmen pressen konnte. Knurrend baute sich der muskelbepackte Körper vor Aurelie auf. Obgleich noch einige Meter zwischen ihnen lagen, drang dem kreidebleichen Mädchen der abstoßende Verwesungsgestank aus dem Rachen des Wolfs in die Nase. In völliger Verzweiflung ergriff Alice Bell die kreuz und quer am Boden liegenden Lexika und warf sie mit aller Kraft auf den Hinterkopf des Angreifers, der sogleich zornig den Kopf schüttelte, sodass der schneeweiße Schaum rund um die Lefzen durch den Raum geschleudert wurde. Er riss sein kräftiges Maul weit auf und ließ ein ohrenbetäubendes Knurren erklingen, bevor er die schmächtige blonde Frau mit seiner rechten Vorderpfote wie eine Feder durch den Raum warf. Schmerzhaft schlug Alice Bells Kopf gegen die harte Ziegelwand. Ihr regungsloser Körper fiel polternd zu Boden.

      „Mama!“, Aurelie schrie laut auf.

      Salzige Tränen bildeten ein dünnes Rinnsal über die farblosen eiskalten Wangen und landeten als dicke Tränen auf den Holzbrettern des Bodens. Die Hilflosigkeit fühlte sich wie Blei in den Gliedern des Mädchens an. Es war als hätte man ihr die gesamte Kraft ausgesaugt. Als würde nur mehr eine blutleere Hülle ihren Geist umschließen.

      Die Zeit schien eine Sekunde still zu stehen, als eine kleine schwarze Katze mit lang gestrecktem Körper durch das geöffnete Fenster sprang und zielgenau zwischen dem pelzigen Ungetüm und dem verzweifelten Mädchen mit den langen rötlichen Locken landete. Noch ehe der Wolf die tapfere Samtpfote, die ihm kaum weiter als zum Knie reichte, wahrnahm, löste sich die Katzengestalt in undurchsichtigen schwarzen Nebel auf. Die Schwaden verformten sich nach und nach in eine menschliche Silhouette, bis schließlich der propere Körper von Agatha Bell im Raum stand.

      Unerschrocken starrte die alte Dame dem Tier in die zornig zusammengekniffenen Augen. Sie stellte einen Fuß vor den anderen und lehnte ihren Oberkörper leicht nach vorne, um einen sicheren Stand zu bekommen.

      „Mittendum Fulgur“, brüllte sie, während sie ihren hölzernen Zauberstab, den sie in Sekundenschnelle aus ihrer Schürzentasche gezogen hatte, ruckartig nach oben riss.

      Eine grelle Lichtkugel bildete sich um die Spitze des sorgfältig gehobelten