Bernadette Schmon

Aurelie in der Welt der Wesentlichen


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war oder unwesentlich. Es blieb ein unschuldiges Kind.

      Lady Mac Grath hingegen rümpfte die Nase. Was erlaubte sich diese vorlaute Person? Was fiel ihr nur ein, einfach die Ratssitzung zu unterbrechen. Warum unternahm Dr. Marvelus nichts dagegen?

      Doch der Vorsitzende des Rates dachte nicht im Traum daran Agatha Bell das Wort zu entziehen. Für ihn selbst war es genauso wenig eine Option gewesen, der kleinen Bell etwas anzutun. Doch solche Entscheidungen hatte er nicht alleine zu treffen. Dafür gab es das Kollektiv des Rates. Wie jeder andere musste auch er sich den demokratischen Mehrheitsentscheidungen fügen. Agathas unverblümte Art war bestens geeignet die Ratsmitglieder auf den richtigen Weg zu lenken, sodass er sich langwierige vernünftige Ansprachen sparen konnte. Hatte Professor Marvelus etwa genau das vorhergesehen? Oder wie hatte die alte Dame sonst Wind von der geheimen Ratssitzung bekommen?

      „Nun Agatha, was schlägst du vor? Wie sollen wir weiter vorgehen?“, er spielte ihr neuerlich den Ball zu.

      Agatha Bell, die bereits zu einer weiteren Schreitirade angesetzt hatte, schluckte. Sie hatte nicht damit gerechnet auf so wenig Widerstand zu stoßen. Üblicherweise musste sie erst stundenlang diskutieren, bevor sie ihren Willen durchsetzen konnte. Unzählige Male war sie auch schon bitterböse wieder aus den heiligen hohen Hallen gestürmt, nachdem ihre Anliegen einfach abgewimmelt worden waren. Die sorgenvoll gerunzelte Stirn unter dem gelockten Schopf glättete sich angesichts des schnellen Erfolgs sofort.

      „Nun ja …“, stammelte sie und strich dabei mit ihren Handflächen nervös über die karierte Baumwollschürze.

      „Am besten sie kommt zu mir. Ich hole das Mädchen zu mir in die Schule“, Agatha Bell versuchte den Gedanken, der ihr gerade eben erst in den Sinn gekommen war, so klingen zu lassen, als hätte sie schon stundenlang darüber gegrübelt.

      „Sie muss lernen sich zu verteidigen. Überall lauern Det Ondas Anhänger. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie von der Existenz des Kindes erfahren“, verkündete Akra in unheilvoller Stimme.

      „Professor Decidus und ich werden dafür Sorge tragen, dass Aurelie alles lernt, was sie als Wesentliche wissen muss. Sie ist so ein schlaues Kind. Sie wird im Nu alles aufgeholt haben. Und welcher Ort wäre besser geeignet meine Enkelin zu schützen als Maginburgh“, je weiter sie sprach, desto mehr war sie selbst davon überzeugt, dass nur dies allein die richtige Lösung sein konnte.

      „Nun gut, wenn es keine weiteren Wortmeldungen mehr gibt, stimmen wir in gewohnt gesitteter Manier …“, Dr. Marvelus unterbrach seinen Satz, zog die Augenbrauen nach oben und brachte mit strengem Blick zum Ausdruck, dass er Contrastimmen nicht gutheißen würde, bevor er weitersprach, „… darüber ab, ob die Tochter von Marlon Bell in den Kreis der Wesentlichen aufgenommen wird. Wer dafür ist, möge sich erheben.“

      Akra, Prinz Efonijus und Alexander Nox zögerten keine Sekunde und sprangen von ihren Plätzen. Nur einen Augenblick später stellte sich auch der Riese unter lautem Knarren der metallenen Bank auf die säulenbreiten Beine, sodass sein Kopf bis zum Kristallkronleuchter an der holzgetäfelten Decke reichte. Der Pan und die Medusa blickten sich zunächst fragend an, nach lautem Räuspern von Agatha Bell rückten aber auch sie ihre Stühle nach hinten und richteten ihre Häupter auf.

      „Marcelus?“, rief Dr. Marvelus seinem alten Freund, der völlig vertieft das faltige Gesicht in seine Notizen steckte uns so angestrengt nachdachte, dass man die kleinen Rädchen in seinem Kopf förmlich ineinander einrasten hören konnte, beim Namen.

      Der Professor wurde mit einem Mal aus seinem Trance-Zustand gerissen und blickte verwirrt in die Runde. Ohne zu wissen, um was es überhaupt gerade ging, erhob sich auch der gebrechlich wirkende Mann von seinem Platz. In gebückter Haltung kritzelte er weiter kreuz und quer auf die weißen Seiten seines Büchleins.

      „Gut, dann steht die Entscheidung fest. Aurelie Bell wird mit sofortiger Wirkung in der Schule der hohen Kunst der Magie angenommen. Dort wird sie unter der Aufsicht von Agatha Bell und unserem geschätzten Freund und ehemaligen Ratsmitglied Professor Decidus unterrichtet werden.“

      Agatha Bell klatschte freudestrahlend in die Hände.

      „Sie machen einen großen Fehler Dr. Marvelus“, ertönte die zornige Stimme der sitzengebliebenen Lady Mc. Grath.

      Mit unheilvollem Blick erhob sich die wohlgenährte Frau ruckartig von ihrem Stuhl. Die Nasenflügel der offensichtlich mehrfach korrigierten Nase weit gebläht stöckelte sie mit gewollt lautem Schritt zur bis zur Decke reichenden antiken Tür mit geschnitztem Rahmen, deren Flügel sich von alleine öffneten, als die Dame sich ihnen näherte. Ohne sich zu verabschieden verließ sie wutentbrannt den Raum.

      Kapitel 6 - Der Abschied

      Es war dunkel geworden. Dichte Nebelschwaden hüllten die Häuser in Bredhurst in ein mystisch weißes Kleid. Alice Bell und Aurelie saßen – in eine flauschige senfgelbe Decke eingekuschelt – auf dem gemütlichen grauen Doppelsofa vor dem kleinen Holzofen, in dessen Innerem rötliche Flammen wie ein hämisches Grinsen hinter der kleinen Gitterluke hervorlugten. Sie steckten ihre Nasen tief in zwei dicke Bücher, als ein dumpfes Klopfen an der alten grün lackierten Holztüre des Backsteinhäuschens die idyllische Ruhe just unterbrach. Alice Bell blickte erstaunt auf die dekorative Wanduhr über dem Esstisch. Die zwei filigranen Zeiger zeigten auf der aus einem Eisenrahm geformten Umlaufbahn mit zwölf unterschiedlich gefärbten Ziffernkreisen 20:30 Uhr an.

      „Wer besucht uns denn noch um diese Zeit?“, fragte sie in Richtung ihrer Tochter, die sich vom pochenden Geräusch gar nicht erst von ihrem fesselnden Roman ablenken ließ.

      Mühevoll schälte sich die schlanke Blondine aus ihrer Deckenumhüllung, zuppelte den schlabbrigen Jogginganzug so gut es ging zu Recht und eilte in Richtung des Hauseinganges, wo das immer lauter und energischer werdende Klopfen auf einen ungeduldigen Gast hindeutete. Als sie die schwerfällige Türe öffnete, blickte ihr das pausbackige Gesicht von Agatha Bell entgegen.

      „Na endlich. Ich dachte schon, ich muss hier draußen übernachten“, stöhnte die alte Dame, während sie ihren rundlichen Körper durch den geöffneten Türspalt presste.

      Sie schob Alice Bell frech zur Seite und marschierte zielstrebig in die Wohnküche. Völlig überrumpelt starrte die sonst so toughe Frau dem Eindringling hinterher. Nachdem die kurze Schrecksekunde verflogen war, folgte sie dem in einen dunkelbraunen Ledermantel mit grauer Wollfütterung gehüllten ungebetenen Gast mit schnellen Schritten.

      „Was fällt Ihnen ein, Sie können doch nicht einfach so in meine Wohnung stürmen. Wer sind Sie überhaupt?“

      „Oh, entschuldige, Liebes. Ich hatte ja völlig vergessen, dass ihr mich nur in meiner Katzengestalt kennt“, kicherte die Besucherin mit dem wilden weiß-rötlichen Lockenkopf.

      „Mein Name ist Agatha Bell und ich bin hier, um meine Enkelin zu besuchen“, sprach sie weiter, zog dabei die Zipfel ihrer rotkarierten Schürze mit den Fingerspitzen leicht nach oben und bog ihre kurzen Beine zu einem demütigen Knicks.

      Alice Bell stand wie angewurzelt da. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in das faltige Gesicht und versuchte in ihrem staubtrockenen Hals Worte zu formen. Doch sie brachte nicht mehr als ein nuscheliges Stammeln hervor. Durch das Treiben im Hintergrund in ihrer Lesekonzentration gestört, erhob nun auch Aurelie ihren Kopf aus dem dicken Wälzer, der auf ihrem Bauch abgestützt war. Sofort erkannte sie die Retterin aus dem Wald wieder. Völlig schockiert glitt dem rothaarigen Mädchen das dicke Buch aus den Fingern und landete fast lautlos auf dem Sofa. Auch sie starrte nun mit weit geöffnetem Mund in Richtung der klein gewachsenen Frau, als ob sie gerade einem Geist begegnen würde.

      „Ach Kinder, jetzt hat es euch doch glatt die Sprache verschlagen. Ich mache uns drei Hübschen einen heißen Tee, dann wird das schon wieder“, verkündete Agatha Bell in verständnisvollem Ton und begann prompt in der Küche zu werken.

      Zielsicher kramte sie Teekanne, Tassen und Teebeutel aus den in unterschiedlichen Grüntönen gefärbten Oberschränken der minimalistischen Küchenzeile, als ob sie dies schon unzählige Male zuvorgetan hätte.

      Alice