Bernadette Schmon

Aurelie in der Welt der Wesentlichen


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kennengelernt. Sie hatte Marlon Bells Wunsch, nicht über seine Familie zu sprechen, stets respektiert. Nachdem sich auch nach seinem Tod niemand mit ihr oder Aurelie in Verbindung gesetzt hatte, hatte sie dieses Kapitel ad acta gelegt und war davon ausgegangen, dass es keine Familienmitglieder mehr gab.

      Aber da waren diese Augen. Diese stechend blauen Augen mit den gelben Punkten am rechten und linken äußeren Rand der Pupillen. Es war als würde sie in das Gesicht ihres geliebten Mannes blicken. Das konnte kein Zufall sein. Rückwärts, ohne ihren Blick auch nur eine Sekunde von der rundlichen Frau, die in der Küche gerade Wasser am Herd erhitzte, abzuwenden, schlich Alice Bell zu der antiquarischen weißen Holzkommode, die gegenüber der Couch stand und kramte aus der untersten Schublade ein verstaubtes Fotoalbum in beigem Leinen-Einband hervor. Vorsichtig durchblätterte sie die lädierten Seiten. Es musste hier irgendwo sein. Sie konnte sich genau daran erinnern. Da.

      Wie in Trance ließ Alice Bell das dicke Album noch aufgeschlagen vor sich auf den wackligen viereckigen Sofatisch mit den nach außen geschwungenen metallenen Beinen gleiten.

      Nun gelang es auch Aurelie ihren versteinerten Blick von der in der Küche hantierenden Dame abzuwenden. Mit einem Auge lugte sie auf die aufgeschlagene Seite des Fotoalbums, auf der sie auf einem schwarzweißen Polaroid Bild das auf dem Kopf stehende heitere Lachen der großmütterlichen Frau wiedererkennen konnte. Diese war zwar deutlich schlanker und viele Jahre jünger, aber die Augen-Mundpartie war unverkennbar jene der mysteriösen Schürzenfrau. Ein junger Bub mit wildem Haar und unzähligen Sommersprossen im Gesicht schlang seine Arme um die Hüfte der Frau. Unter dem Foto stand in geschwungenen Buchstaben aus schwarzer Tinte kaum leserlich gekritzelt: Marlon und Mama, Sommer 1978.

      Aurelie brauchte einen Moment, um zu begreifen. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die wunderliche Frau, die sie an jenem Morgen im Wald davor bewahrt hatte ihr Leben zu lassen und nun vergnügt in der Küche Tee zubereitete, musste tatsächlich ihre Großmutter sein.

      Agatha Bell hatte inzwischen den kleinen, in die Jahre gekommenen Esstisch mit geblümten Tellern und Tassen eingedeckt und stellte eine Kanne mit frisch aufgebrühten nach Pfefferminze duftenden Tee in dessen Mitte. Dann zauberte sie kleine Cupcakes aus Schokolade mit rosa Zuckerguss aus ihrer Tasche, die sie liebevoll auf die Teller, deren Keramik die zarten Blätter gelber Gerbera zierten, drapierte.

      Aurelie sprang wie von der Tarantel gestochen von ihrem wohligen Kuschelplatz auf und hüpfte flummiartig in Richtung ihrer Mutter, die noch immer regungslos vor der weißen Kommode ausharrte. Sie zog die blass gewordene zierliche Frau unsanft am Arm.

      „Mama, Mama, ist das wahr? Kann es sein? Ist das meine Großmutter?“

      „Aber natürlich bin ich deine Großmutter, Liebes. Wer denn sonst?“, Agatha Bell wurde langsam ungeduldig.

      Sie hatte nicht ewig Zeit das melodramatische Schauspiel zu beobachten. Es konnten schließlich in jeder Ecke Gefahren lauern.

      „Was willst du hier?“, endlich gelang es Alice Bell wieder einen klaren Satz zu formulieren.

      „Ich weiß, ihr glaubt, ich hätte euch all die Jahre im Stich gelassen. Aber das Wohl meiner Enkelin war stets mein größtes Anliegen. Ihr habt mich zwar nicht bemerkt, aber ich habe mit Argusaugen über euch gewacht. Wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich euch in Ruhe alles erklären. Aber wir müssen dringend handeln. Alice, deine Tochter schwebt in großer Gefahr. Und ich bin die Einzige, die sie vor dem nahenden Unheil schützen kann.“

      „Was soll das heißen? Welche Gefahr?“, die unheilvollen Worte lösten große Skepsis bei Alice Bell aus.

      „Deine Tochter hat ganz besondere Fähigkeiten. Da draußen lauern böse Gestalten, die sich diese Macht zu Nutzen machen wollen. Ihr beide seid nur sicher, wenn Aurelie mit mir geht. Und du musst fort von diesem Ort, weit weg, wo sie dich nicht finden können.“

      Noch bevor die ominöse alte Dame ihren Satz beendet hatte, zog die schöne Blonde ihre Tochter an den Schultern zu sich und presste sie schützend ganz nah an ihren Körper.

      „Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst. Aurelie und ich kommen gut zu Recht. Wir brauchen deine Hilfe nicht.“

      „Du musst mir glauben, mein Kind“, flehte Agatha Bell und ging dabei ein paar Schritte auf Mutter und Tochter zu, merkte aber rasch, dass diese ängstlich zurückwichen.

      Sie hielt inne. Es brach ihr das Herz, dass die beiden sich vor ihr fürchteten. Sie wollte schließlich nur das Beste für ihre Familie. Aurelie war doch ihr einziges Enkelkind. Ihre einzige Verbindung zu ihrem geliebten verstorbenen Sohn.

      „Es gibt Dinge auf dieser Welt, die ihr noch nicht versteht. Aber das werdet ihr noch“, Agatha Bell erkannte, dass die beiden Frauen die Geschehnisse erst einmal verarbeiten mussten.

      Während wundersame Dinge und magische Wesen schon immer Teil ihres Lebens gewesen waren, waren die Unwesentlichen der Überzeugung alles rational erklären zu können. Was über ihre Gedankenkraft hinausging, wurde als Lüge abgetan und für immer in einer geistigen Schublade weggesperrt. Personen mit besonderen Fähigkeiten wurden als Sonderlinge ausgegrenzt oder gar weggesperrt und mit Psychopharmaka mundtot gemacht.

      Sie konnte das Mädchen nicht gewaltsam ihrer Mutter entreißen. Sie musste erst ihr Vertrauen gewinnen. Abwarten, bis sie ihren Geist für das Unerklärliche öffneten. In Aurelies Adern pochte das Blut einer respektablen Zaubererfamilie. Auch wenn es nicht mehr lange dauern konnte, bis Det Ondas Anhänger das kleine Backsteinhäuschen in Bredhurst ausfindig machen würden, entschied die alte Frau ihr Vorhaben noch ein paar Tage aufzuschieben. Vielleicht würde Aurelie die Dinge ja morgen schon klarer sehen.

      „Ich komme wieder“, ohne eine Reaktion abzuwarten, machte Agatha Bell kehrt und stapfte mit ihren klobigen Lederstiefeln zurück zur Eingangstüre.

      So schnell, wie sie gekommen war, war sie auch schon wieder verschwunden. Alice und Aurelie verharrten noch einige Minuten in ihrer klammernden Position, bis sie schließlich ans Fenster eilten und suchend in die trübe Nacht hinausblickten. Trotz des hellen Mondenscheins war nichts zu erkennen.

      „Ich habe Großmutter im Wald gesehen. Sie hat mit ihrem Zauberstab einen riesigen abstürzenden Ast aufgehalten, der mich sonst zerquetscht hätte“, sprudelte es mit einem Mal aus Aurelie heraus.

      Es fühlte sich an, als ob ihr ein vollbepackter Rucksack von den Schultern genommen worden wäre. Solange hatte sie sich gewünscht jemandem von ihren unerklärlichen Erlebnissen erzählen zu können. Doch wer hätte ihr diese wahnwitzige Geschichte schon geglaubt? Man hätte sie bestimmt für verrückt gehalten. Sie war sich doch selbst nicht einmal sicher, ob die merkwürdige Begegnung nicht bloß ihrer Fantasie entsprungen war. Doch das Geheimnis hatte wie ein Geschwür tief in ihrer Magengegend gewuchert. Jetzt, wo sie die Sicherheit hatte, dass sie sich die alte Frau nicht bloß eingebildet hatte, fühlte sie sich wie geheilt.

      „Großmutter ist bestimmt eine Hexe, sowie Bibi Blocksberg“, Aurelie sprach diese Worte mit für ihre Mutter völlig absurdem Selbstverständnis.

      „Aurelie, du bist doch kein kleines Kind mehr. Du weißt doch, dass es keine Hexen gibt. Das sind doch alles nur erfundene Geschichten“, Alice Bell schüttelte den Kopf.

      „Deine Großmutter ist ganz eindeutig nicht mehr ganz bei Trost. All die Jahre hielt sie es nicht für notwendig sich blicken zu lassen und nun taucht sie mit irgendwelchen Horrorgeschichten auf. Dein Vater hatte bestimmt einen guten Grund keinen Kontakt zu ihr zu haben. So und jetzt ab ins Bett mit dir“, die anmutige Blondine zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung des Kinderzimmers.

      Es war zwar noch nicht spät, doch sie brauchte eine ruhige Minute für sich, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Aurelies wilde Erzählungen hatten sie nur noch mehr verwirrt.

      Nachdem sie ihre Tochter zugedeckt und mit einem Gutenachtkuss in das Land der Träume verabschiedet hatte, verriegelte sie die massive Eingangstüre mit dem stabilen metallenen Balken, der sonst nur unberührt in einer Nische im Eingangsbereich verstaubte. Noch nie zuvor hatte sie sich in dem kleinen idyllischen Örtchen unsicher gefühlt. Doch die drohenden Worte