nach einer logischen Erklärung für die merkwürdigen Ereignisse. Sie war ja schon oft derart in ihre Tagträume versunken, dass sie die wahre Welt um sich herum völlig ausblendete, aber diesmal war es anders. Diese Geschichte schien nicht ihrer Fantasie entsprungen zu sein.
Als sie die Türklinke der grünen Eingangstüre des kleinen Backsteinhäuschens öffnete, strömte ihr bereits der Geruch von frischen Pfannkuchen in die Nase.
„Na, du kleine Ausreißerin? Ich wette, du hast einen Bärenhunger mitgebracht“, rief Alice Bell ihrer Tochter mit freundlicher Stimme zu.
Aurelie warf die nassen Stiefel und die schneebedeckte Jacke unsanft in die Ecke des langgezogenen Vorraumes und eilte in die Wohnküche. Sie fiel ihrer Mutter, die gerade dabei war, den ovalen mintgrünen Holztisch mit geblümten Frühstücksgeschirr zu decken, in die Arme. Freudig erwiderte die schlanke Frau, deren lange blonde Strähnen in morgendlicher Manier wild nach oben standen, die herzliche Umarmung.
„Dinky war es heute wohl zu kalt, um dich zu begleiten“, lachte Alice Bell und zeigte in Richtung des kleinen Holzofens auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, vor dem sich die schwarze Katze entspannt am Dielenboden räkelte.
Kapitel 3 Die Begegnung
Alice Bell war nicht sonderlich erstaunt über die neue Lieblingsbeschäftigung ihrer Tochter, die in letzter Zeit fast täglich einen Kochlöffel schwingend durch den Garten hüpfte und immer wieder Simsalabim und Hex-Hex rief, während sie Miss Clives alte Kochschürze, die über und über mit kleinen Gänseblümchen bestickt war, fest um die braune Daunenjacke gebunden trug. Das Mädchen mit den feuerroten Wellen hatte sich schon im Kleinkindalter ständig neue kreative Spiele ausgedacht. Während andere Kinder sich ohne Computerspiele oder die gute alte Flimmerkiste zu Tode langweilten, konnte Aurelie aus ein paar Holzstücken oder Steinen imposante Segelschiffe zaubern, die munter die regen Wellen des Ozeans bezwangen, um ihre Teeladungen sicher in den nächsten Hafen zu schippern. Grashalme und Blätter verwandelten sich spielend in ein ganzes Dorf, in dem sich alle Bewohner freundlich auf der Straße grüßten. An manchen Tagen war sie Höhlenforscherin, an anderen leitete sie eine Safari in Afrika. Wen konnte es da noch wundern, dass ein simpler Kochlöffel ausreichte, um sie in die mächtigste Hexe Englands zu verwandeln.
Auch wenn sie sich nicht erklären konnte, was es mit der neuen Schürzenliebe auf sich hatte, war Alice Bell heilfroh, ihre Tochter wieder so ausgelassen spielen zu sehen. Schließlich war diese so geknickt gewesen, weil Dinky sich nun schon seit fünf Tagen nicht mehr hatte blicken lassen.
Zufrieden wandte Alice Bell ihren aus dem Wohnzimmerfenster gerichteten Blick in den kleinen Vorgarten, der im Vergleich zu den rechts und links anschließenden sorgfältig gemähten Rasenflächen schäbig ungepflegt wirkte, wieder dem nussig duftenden Blechkuchen zu, den sie soeben aus dem uralten kleinen Backrohr in der wild zusammengeschusterten Küche geholt hatte. Heute war schließlich ein ganz besonderer Tag.
Es war genau heute vor 13 Jahren gewesen, als Marlon Bell vor lauter Aufregung die geräumige Wohnung im ersten Stock eines kleinen knallroten Mietshauses in Mayfair, die er gemeinsam mit seiner geliebten Frau bewohnte, nur mit einer Unterhose bekleidet verlassen hatte. Erst als ihm auf der Straße stehend und mit beiden Armen wild ein Taxi herbeiwinkend die Knie zu schlottern begannen, bemerkte er die fehlende Beinbekleidung und stürmte peinlich berührt wieder das Stiegenhaus hinauf. Vor der Wohnungstüre hielt ihm Alice Bell bereits seine dunkelblauen Levis-Jeans entgegen.
„Wir haben noch genügend Zeit“, versuchte die junge Frau mit den knalligen pinken Strähnen im schulterlangen blonden Haar ihren Mann zu beruhigen, während sie immer wieder tief ein- und ausatmete.
Sie strich dabei in kreisenden Bewegungen über ihren kugelrunden Bauch, der unter dem lachsfarbenen Seidenkleid weit nach vorne ragte. Nur wenige Stunden später wiegte sie das kleine rosa Bündel mit den tiefblauen Kulleraugen und den vereinzelten feinen roten Härchen auf dem weichen Köpfchen in ihren Armen und war sich sicher, dass das der vollkommenste Moment ihres Lebens war.
Zurück in der Gegenwart war Aurelie noch immer mit der cremefarbenen Blumenschürze bekleidet, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter und Miss Clive am Küchentisch saß und sich gierig ein Stück ihres Macadamia-Geburtstagskuchens in den Mund schob. Dabei lugte sie unentwegt auf die liebevoll verpackten Geschenke, die vor ihr auf dem mintgrünen Esstisch lagen.
„Na, dann mach sie eben auf, bevor du dich noch verschluckst!“, Alice Bell konnte sich das Lachen nicht verkneifen.
Aurelie ließ sich das natürlich nicht zweimal sagen. Freudig schnappte sie sich zuerst das Päckchen mit dem silber-metallic schimmernden Papier. Mit den Fingerspitzen zog sie an der roten Schleife und öffnete vorsichtig Millimeter für Millimeter die Klebestreifen. Sie wusste, dass die alte Miss Clive ihr Geschenksmaterial wie einen Schatz hütete. Die funkelnde Umhüllung hatte Aurelie bestimmt schon an vier oder fünf Geburtstagen entpackt. Es war ein ungelöstes Rätsel, wie es der rüstigen Dame gelingen konnte Geschenke in den unterschiedlichsten Größen mit ein und demselben Papierstück immer genau passend zu umwickeln.
Ein breites Grinsen zog sich über das Gesicht des Geburtstagskindes und die kleinen Sommersprossen schienen ein wildes Tanzfest auf der niedlichen Stupsnase zu feiern, als eine nigelnagelneue rotkarierte Schürze aus feinem Leinenstoff zum Vorschein kam.
„Dann musst du nicht mehr das alte Ding da anziehen“, raunzte Miss Clive und zeigte mit den langen dürren Fingern auf die abgewetzte Blumenschürze an Aurelies Körper, deren Träger augenscheinlich schon mehrfach abgerissen und neu angenäht worden waren.
Das Mädchen sprang von dem dreibeinigen Holzschemel, auf dem sie Platz genommen hatte und warf dankbar ihre Hände um den Hals der faltigen Frau.
„Na, na, na. Nicht gleich so ein Freudenausbruch wegen einer läppischen Schürze“, Miss Clive hätte nie zugegeben, wie gerührt sie von der herzlichen Umarmung war.
Die Rentnerin mit der aufgedrehten Turmfrisur, die sich dank dem großzügigen Einsatz von Haarspray steinhart anfühlte, wenn man darüberstrich, gab sich nach außen hin stets grimmig. Es sollte ja niemand auf die Idee kommen sich mit ihr anzulegen. Erst bei näherem Hinsehen zeigte sich ihr großzügiges und mitfühlendes Herz.
Aurelie tauschte ihre Bekleidung sofort gegen die neue Errungenschaft. Als war als hätte Miss Clive es erahnen können, dass das ausgesuchte Stück rein zufällig der Schürze, die die mysteriöse Frau im Wald getragen hatte, wie ein Ei dem anderen glich.
Das zweite Geschenkspäckchen war in dunkelrotes, gewelltes Papier gehüllt. Aurelie erkannte an Form und Gewicht sofort, dass es sich um ein Buch handeln musste. Diesmal riss sie die Verpackung unsanft auf, sodass sie in kleine Stücke zerpflückt wurde. Miss Clive zuckte bei dem Geräusch zusammen, als ob jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel gekratzt hätte. Den strafenden Blick der alten Dame, die wie bei jedem feierlichen Anlass ihren guten Schal aus Fuchsfell trug, bemerkte Aurelie gar nicht, als sie den ledernen Einband des Büchleins in den Händen hielt, auf dem kunstvoll in geschwungenen goldenen Buchstaben die Worte Mr. Ponentius Spruchfibel eingraviert waren. Im Inneren kamen dicke vergilbte Seiten zum Vorschein, auf denen mit schwarzer Tinte wirr klingende Spruchformeln verewigt waren. Auf manchen Seiten standen nur wenige seltsame Wörter, andere waren ganz und gar leer.
„Es scheint als hätte dein Vater als er jung war auch gerne Zauberer gespielt“, erzählte Alice Bell, die sich mittlerweile hinter ihre Tochter positioniert hatte und über deren Schulter in das Büchlein blickte, während sie ihr sanft über den Rücken streichelte.
„Das gute Stück hatte er ganz hinten im Kleiderschrank versteckt. Ich hatte ganz vergessen, dass ich es aufbewahrt habe. Erst durch deine neue Vorliebe fürs Hexen ist es mir wieder in den Sinn gekommen. Dein Vater hätte gewollt, dass du es bekommst.“
An diesem Abend konnte die schöne Blondine ihre Tochter nur schwer dazu bewegen, den neu gewonnenen Schatz zur Seite zu legen. Aurelies Augenlider waren schon träge vom vielen Lesen und kippten immer wieder kraftlos nach unten. Erst als der Kopf des rothaarigen Mädchens zur Seite kippte, gelang es ihrer Mutter den abgewetzten Ledereinband aus dem