Bernadette Schmon

Aurelie in der Welt der Wesentlichen


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loslassen und im gleichen Moment die Türe schwungvoll einen Spalt, der gerade so breit war, dass sich das wie in einen fluffigen Wattebausch gepackte Mädchen gerade noch durchschieben konnte, nach hinten ziehen.

      „Auf geht‘s Dinky!“, flüsterte Aurelie in vielversprechendem Ton.

      Sie blickte tief in die mandelförmigen Katzenaugen, als ob sie sich eine Antwort erhoffen würde, während sie das Fellbündel auf die dunkelrote Fußmatte absetzte. Das grazile Tier war jedoch alles andere als begeistert davon, die warme Stube verlassen zu müssen. Der frostige Windstoß, der durch das seidige schwarze Deckhaar bis zur Unterwolle durchdrang, ließ den schlapp herunterhängenden Schwanz auf sein doppeltes Volumen aufsträuben.

      Doch Aurelie dachte nicht daran, auf ihren Ausflug zu verzichten. Sie stapfte schnellen Schrittes die Kemsley Street Road entlang. Vorbei an den naturweißen kubischen Häusern, die mit ihren bekiesten Flachdächern und den wenig lichtbringenden anthrazitfarbenen Fenstern an unfreundliche Gesichter erinnerten. Nach nur wenigen Metern erreichte sie ein großes Feld, dessen Grasbewuchs man durch die dicke Schneedecke nur mehr erahnen konnte. Dahinter präsentierten die mächtigen Tannen des Church Wood stolz ihr neues Winterkleid. Dinky hatte schon befürchtet, dass Aurelie auch heute wieder dieses Ziel auserkoren würde. Nur schwer gelang es der Katze dem Mädchen, das wie ein Gummiball durch den Schnee zu hüpfen schien, zu folgen. Die zarten Pfoten sanken immer wieder tief in die kalt-nasse Schaumkrone ein. Sie hätte Aurelie trotz der feuerroten Strähnen, die unter der grauen Wollmütze hervorleuchteten, wohl schon längst aus den Augen verloren, wenn diese nicht immer wieder angehalten hätte, um sogleich mit einem großen Satz in den Schnee zu springen und am Boden liegend mit wild wedelnden Armen und Beinen einen Schneeengel zu formen. Aurelie liebte den Winter. Während die anderen Kinder vor ihren Kaminen mit heißem Kakao und Marshmallows abzuwarten schienen, bis der Frühling wieder ins Land zog, fühlte sie sich pudelwohl, wenn ihre Wangen sich in einen lebendigen Rotton färbten, als ob sie sich von der frostigen Brise geschmeichelt fühlen würden.

      Schließlich erreichten die beiden Wanderer den Waldrand, an dem sich eine riesige Tanne neben der anderen pompös aufreihte. Die Baumfront schien den dahinterliegenden düsteren Church Wood wie eine schützende Armee zu bewachen. Immer wieder durchbrach ein lautes Ästeknacken die morgendliche Stille. Für so manch anderen hätten diese Geräusche schon gereicht, um in Furcht und Panik die Flucht zu ergreifen. Doch Aurelie kannte den Wald wie ihre Westentasche. Sie hatte schon jede Höhle erkundet, jeden Strauch erforscht und war auf jeden Baum geklettert. So oft war sie stundenlang auf dem moosigen Boden gesessen und hatte beobachtet wie Rehe sich in graziösen Sprüngen ihren Weg durch das Dickicht suchten.

      Zielstrebig wanderte das rothaarige Mädchen an den ersten Baumreihen vorbei, bis sie direkt vor ihren schneebedeckten Stiefeln die Abrücke von vier kleinen Zehen mit spitzen Krallen entdeckte. Da sich die vorderen Ballen des Abdruckes nicht mit den hinteren Ballen überschnitten, konnte es sich nur um einen Fuchs handeln. Hellauf begeistert und in der Hoffnung dem farbenprächtigen Waldbewohner zu begegnen folgte Aurelie der Schneespur Pfote für Pfote weiter in den Wald hinein. Diese endete schließlich unter einer majestätischen alten Fichte, die derart weit in den Himmel reichte, dass Aurelie das Ende der Baumkronen gar nicht erblicken konnte. Gut versteckt zwischen Laub und hervorstehendem Wurzelwerk war der Eingang zu einer kleinen Höhle erkennbar. Aurelie kniete sich auf den angezuckerten Boden und beugte ihren haubenbedeckten Kopf so tief in Richtung der dunklen Öffnung, dass die roten Locken den Boden berührten. Als erfahrende Abenteurerin hatte sie für solche Momente stets eine kleine Taschenlampe in ihrer Jackentasche verstaut. Mit dem schmalen Lichtstrahl leuchtete sie in das Innere des Erdlochs. Dort waren verschachtele unterirdische Gänge verborgen. Wohin diese wohl führten?

      Während ihr Kopf in der Bodenöffnung verschwand, überhörte Aurelie das dumpfe Knarren aus den oberen Regionen der gewaltigen Fichte völlig und bemerkte nicht, dass plötzlich ein langer morscher Ast unter der schweren Last der Schneedecke nachgab, sich vom Rest des Baumes abtrennte und nach unten stürzte, während er die darunterliegenden Äste wie ein gewaltiges Geschoss mit sich riss. Erst als sich das geballte Astwerk nur mehr wenige Meter über ihrem Körper befand, drang das laute Getöse endlich zu ihr vor. Doch es war zu spät. Selbst ein hastiger Seitwärtssprung konnte sie nicht mehr vor einem Zusammenstoß bewahren. In leicht geduckter Haltung erstarrte das Mädchen zur Salzsäule und hielt sich im Reflex schützend die Hände vor das mit kleinen Sommersprossen überzogene Gesicht.

      So konnte sie nicht sehen, wie sich von einer Sekunde in die andere Dinkys schlanker Katzenkörper, der sich nur wenige Meter entfernt auf dem Stamm eines umgefallenen Baumes sitzend bemühte, die nassen Pfötchen trocken zu lecken, in undurchsichtigem schwarzem Nebel auflöste. Die Schwaden formten sich nach und nach in eine menschliche Silhouette, bis letztlich statt dem Katzentier eine rundliche Dame mit wildem weißrotem Lockenschopf auf dem Baumstumpf stand. Im nächsten Moment zückte die kleingewachsene Person einen dünnen, nach vorne spitz anlaufenden Holzstab aus der rotkarierten Schürze, die unter einem langen braunen Ledermantel mit dunkelgrauer Wollfütterung hervorblitzte, hielt diesen wie ein Dirigent in Richtung des niederdonnernden Astes und sprach laut die Worte Corpus Tempusa Remorarium.

      Aurelies Herz pochte so laut, dass sie es tief im Inneren ihres Kopfes hören konnte. Sie wagte es kaum zu atmen. Doch als sie auch nach einer Minute noch immer nicht unter dem Astwerk begraben wurde, öffnete sie vorsichtig die blitzblauen Augen und blickte durch ihre weit gespreizten Finger schräg nach oben. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Doch das unerklärliche Bild blieb auch noch unverändert, als sie die Hände vom Gesicht nahm, sich aufrichtete und den Kopf steil gen Himmel streckte. Die üppige Masse aus schneebedeckten Ästen schwebte nur gut einen halben Meter über ihrem Kopf. Freistehend. Schwerelos. Den Naturgesetzen trotzend.

      Träumte sie? Oder war sie etwa ohnmächtig geworden? Oder? Nein. Sie konnte doch nicht tot sein. Oder etwa doch? Ungläubig hob sie die rechte Hand und ließ die spitzen Baumnadeln durch ihre Finger gleiten. Der harzige Baumgeruch drang in ihre Nase. Nein, es war keine Einbildung. Die Äste schwebten tatsächlich. Während sie mit den Fingerspitzen die feuchten Äste entlang tastete, versuchte sie einen klaren Gedanken zu fassen.

      „Geh schon zur Seite mein Kind!“

      Erst jetzt realisierte Aurelie die Gestalt, die nur wenige Meter von ihr entfernt auf dem umgekippten Baumstamm stand und angestrengt das dünne Holzstäbchen in die Höhe streckte. Der Anblick zog sie gänzlich in ihren Bann. Als würde ein Gespenst vor ihr stehen. Das Mädchen starrte so tief in das faltige Gesicht, dessen Nase wie ihre eigene von unzähligen Sommersprossen geziert wurde, dass sie die gelben Punkte am rechten und linken äußeren Rand der in blaue Farbe gehüllten Pupillen ganz genau erkennen konnte.

      „Zur Seite sollst du gehen!“, wiederholte die Dame ihre Worte in so bestimmendem Ton, dass Aurelie sich wie ferngesteuert folgsam in langsamen seitlichen Schritten immer weiter aus der Fallrichtung des Astwerkes bewegte, ohne dabei ihren Blick nur eine Sekunde von der pummeligen Dame abzuwenden.

      Nachdem sie den Gefahrenbereich verlassen hatte, ließ die alte Frau den hölzernen Stab in ihrer Hand erleichtert nach unten sacken, wodurch der Ast wieder aus seinem Erstarrungszustand befreit wurde und mit lautem Getöse auf den gefrorenen Boden prallte.

      Erschrocken durch den unerwarteten Lärm drehte Aurelie sich um die eigene Achse. Jene Stelle, an der sie zuvor am Boden gekniet war, war völlig vom Astwerk verschlungen worden. Dem Mädchen stockte der Atem, als ihm bewusstwurde, dass seine Neugierde ihm diesmal fast das Leben gekostet hätte. In den Untiefen des Waldes hätte bestimmt niemand seine Leiche gefunden. Wahrscheinlich wäre diese ein abwechslungsreiches Mahl für die fleischlustigen Waldbewohner geworden.

      Als Aurelie ihren Kopf wieder zu Seite drehte, war ihre Retterin schon wieder verschwunden. Sie eilte zu dem Baumstamm, doch weit und breit war nichts und niemand zu sehen. Wo war sie nur hin? Oder hatte sie sich die schürzenbekleidete Frau nur eingebildet? Nein, da. Ihr Verstand spielte ihr keine Streiche. Auf der dünnen Schneeschicht, die die Oberseite des Stammes benetzte, zeichneten sich eindeutig die Abdrücke von Frauenstiefeln mit breitem Absatz ab. Die Abenteurerin umkreiste das Holzwerk, um eine Fährte aufzunehmen. Es war nirgends eine Spur zu entdecken. Hatte sich die heldenhafte Dame einfach in Luft aufgelöst?

      Ratlos