Reinhold Zobel

Spätvorstellung


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mit ungewissem Ausgang… kurzum, nichts hat bisher geholfen.”

      “Ich sehe an deinem epischen Vortrag, es ist ein ernstes Problem.”

      “Es gibt Tage, an denen vergesse ich vorübergehend, was mich plagt, schmerzarme Tage, aber sie sind in der Minderzahl…Und? Wie schaut es bei dir so aus, mein Freund?”

      “Du meinst…?”

      “Kein Altersweh, keine Gebrechen?”

      “Nicht in dieser Richtung.”

      “Nun, du bist auch ein halbes Jahr jünger als ich, gewissermaßen also noch ein junger Spund.”

      “Gleichwohl, was meine Person anbelangt, die Unpässlichkeiten sind - besser gesagt waren - mehrheitlich gemütsbezogen.”

      “Ah ja. Dann überlasse ich jetzt dir die Bühne - und zwar besenrein - für eigene Wortbeiträge.”

      “Tausend Dank. Wo hast du das nur gelernt, diese Etikette, meine ich.”

      “Bei Hofe, mein Lieber, bei Hofe.”

      “Also, zum Thema Unpässlichkeiten…vor etwa einem Jahr befiel mich eine, ich möchte einmal sagen, seelische Dysfunktion. Ich erwachte eines Morgens mit einem sonderbaren Gefühl… es war das Gefühl, oder besser, das Empfinden einer gewissen Beliebigkeit. Die Dinge um mich herum erschienen mir unangekündigt leer, ja, austauschbar. Ich selbst erschien mir leer und austauschbar. Ich fragte mich: was soll das alles? Wozu eine Fortsetzung? Eine schlecht rasierte Gedankenmüdigkeit ergriff von mir Besitz, gepaart mit bitterer Lustlosigkeit. Ja, hätte ich eine Pistole zur Hand gehabt, ich glaube, ich hätte ernsthaft erwogen, mein kleines Licht auf der Stelle auszublasen.”

      “Klingt dramatisch.”

      “Oh nein, es war nicht dramatisch. Das war ja Teil des Problems. Es war vielmehr alles von einer plötzlichen Belanglosigkeit durchdrungen, meine Person eingeschlossen. Ich erlebte die Realität als eine, in der alle Unterschiede erloschen zu sein schienen oder dabei waren zu erlöschen, eine Art Entropie des Daseins hüllte mich ein…ich weiß noch sehr genau, wie ich morgens das Bett verließ mit dem Gedanken: Gleichviel, ob du dir jetzt die Zähne putzt, danach einkaufen und später ins Kino oder im Park spazieren gehst, es ist - bedeutungslos…Du kennst vielleicht auch die Südsee-Erzählungen von Sommerset Maugham… Da beschreibt der Autor das seltsame Siechtum englischer Kolonialisten, der sogenannten ‘Englishman abroad’, deren gleichermaßen exklusiv herrschaftlicher wie ritualisiert britischer, clubhafter Lebensstil inmitten einer fremden, vordergründig betörenden Tropenkulisse mit der Zeit in einen Zustand aus Lethargie, Mattheit, Trunksucht, Schwermut und Selbstmordfantasien übergeht. Daran fühlte ich mich, hinsichtlich der Seelenlage, die mich erfasst hatte, erinnert.”

      “Immerhin, du hast es überlebt.”

      “Dennoch fürchte ich, es könnte, wie eine Virusinfektion, jeden Tag zurückkehren… du sprachst vorhin davon, du würdest mittlerweile nicht mehr gern reisen, aus Furcht, dich in der Fremde zu verlieren, so oder so ähnlich hast du dich ausgedrückt. Aber man muss offenkundig gar nicht groß verreisen, um sich oder den Zugang zur vertrauten Realität zu verlieren, um ein Gefühl des Ausgesetztseins zu erleben in einem Ozean entfesselter Leere… um ein bekanntes Dichterwort heranzuziehen: ich war der Welt abhanden gekommen.”

      “Sprich weiter, mein Freund.”

      “Mir ist das oft und gern bemühte Bild vom unterwegs-sein-zu-sich-selbst stets als Hirngespinst erschienen, als der eitle, aber zum Scheitern verurteilte Versuch, etwas zu fassen, das das eigene Ich in einen sinnstiftenden Zusammenhang von Selbstgewißheit und Welterfahrung stellt.”

      “Was also könnte helfen gegen diese Art der, sagen wir, menschlichen Hybris?”

      “Der Alltag…. eben den aber hatte ich seinerzeit buchstäblich aus dem laufenden Programm genommen. Er war im Hintergrund wohl noch da, jedoch zeigte er sich stumm, taub, öde, von einem dahinter oder darüber liegenden Sinn ganz zu schweigen.”

      “Sprich weiter.”

      “All das trug sich, um das Bild zu vervollständigen, in einem Abschnitt meines Lebens zu, wo so wenig passierte, dass ich schon vor Aufregung zu zittern anfing, wenn nur der Postbote an der Tür klingelte oder die Müllabfuhr mit den Mülleimern polterte.”

      “Du hättest es vielleicht mal mit…Sackhüpfen probieren sollen.”

      “Mit Sackhüpfen?”

      “Entschuldige, das war jetzt ein Scherz an der falschen Stelle.”

      “Entschuldigung angenommen.”

      “Hast du aber denn je ernsthaft den Versuch gemacht, besagtem Problem zu Leibe zu rücken?”

      “Ja…Mit vierfacher Varianzanalyse bei zweifacher Messwiederholung.”

      “Wie bitte?”

      “Kleiner Gegenscherz…So hätte der Rat des Statistik Professors, der mein Studium begleitete, lauten können. Egal. Man muss das, was man nicht kann, eben so gut wie möglich vermeiden.”

      “Okay, mein Lieber.. Sprich weiter.”

      “Ich weiß nicht, war es ein Film, war es ein Buch, in dem mir das Bild begegnete, wo ein Mann in einem Boot sitzt, das auf den Weiten des Ozeans treibt, in einem Boot, das von einem großen Dampfer gezogen wird, mit dem es durch langes, dickes Tau verbunden ist? Und plötzlich sieht der Mann, wie jemand auf dem Dampfer dieses Tau zerschneidet…”

      “Sprich weiter.”

      “Nein, Tony, laß uns das Thema wechseln.”

      “Na, schön. Jedenfalls hast du mich unter anderem dazu motiviert, demnächst wieder mal den guten alten Maugham zu lesen.”

      “Es existiert, wie mir gerade durch den Kopf geht, eine, so meine ich, denkwürdige Parallele zwischen den Schriftstellern Sommerset Maugham und Oscar Wilde, sowie dem Maler Francis Bacon. Diese drei Männer und Künstler, alle drei, nebenbei bemerkt, Engländer, was aber weiter nichts bedeuten muss, hatten junge Liebhaber, denen sie bis zur Hörigkeit erlegen waren, von denen sie sich schikanieren und quälen und demütigen ließen. Und ihre Günstlinge waren nicht allein jünger bis deutlich jünger als sie, sie waren auch hemmungslose Egomanen. Schlummert in diesen Konstellationen womöglich ein tieferes Gesetz? Ein Stoff, der, in abgewandelter Form, ja unter anderen auch einen Moses Pate oder einen Friedrich Koethle umgetrieben hat.”

      “Hast du zu dieser These denn die entsprechenden Nutzungsrechte?”

      “Sagen wir mal so: Ich könnte sie mir bei Bedarf verschaffen.”

      “Nein, jetzt im Ernst. Das war als Spaß gemeint, als Gedankenspiel, oder?”

      “Spaß und Ernst, Tony, ist das eine nicht oft das andere, nur im Kopfstand?”

      “Ich fürchte, mein Lieber, ich kann dir da nicht so ganz folgen…Warte mal kurz!”

      Tony hebt die Arme, in einer Geste, welche entfernt an einen Schutzmann erinnert, der, da eine Ampelanlage ausgefallen ist, ersatzweise an einer befahrenen Kreuzung steht, um den Verkehr zu regeln.

      “Das Stück, das da über die Boxen kommt, sein Titel lautet, glaube ich, ‘Friedliche Armee’, und es wird gesungen von einer jungen Frau, deren Name mir jetzt nicht einfallen will, gehört wie die Interpretin selbst, zu den aktuellen Favoriten meiner Tochter. Sie spielt es ständig.”

      “Ah ja?”

      “Ja… Und Maria hat, wie mir schlagartig einfällt, in vier Tagen Geburtstag. Und ich weiß noch gar nicht, was ich ihr schenken soll.”

      “Womit wir wieder beim Thema ‘Alltag’ wären.”