Nadja Christin

Fatalis


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      *

      Der Vollmond erscheint plötzlich hinter der milchigen Wolkenwand, bescheint unschuldig die blutige Szenerie.

      Der bläuliche Feenring, um ihn herum, deutet einen neuen Schneefall an, und es soll noch kälter werden.

      Kälter als die Augen des Monsters blicken können, eisiger, als sein Atem je sein wird.

      Die Temperatur aber, wird niemals so drastisch fallen, dass sie sich mit der inneren Kälte messen könnte, die ein anderes kleines Mädchen in diesem Augenblick in sich fühlt.

      Es presst eine Hand auf den winzigen Mund, die Augen darüber quellen ihr fast aus den Höhlen. Sie hat alles mit angesehen, hat erlebt, wie ihre große Schwester Ellen gerade von einem Monster verschlungen wurde.

      Vivien ist vor zwei Tagen sechs Jahre alt geworden. Sie konnte heute Nacht schlecht schlafen, da die Aufregung über ihre Geschenke noch nicht abgeebbt ist.

      So hat sie das hektische Wegrennen ihrer Schwester bemerkt und ist ihr gefolgt.

      Wenn sie vorher gewusst hätte, was sie hier draußen im Schnee erwartet, sie hätte sich ihre Decke über den Kopf gezogen und den Morgen abgewartet.

      Erst als sich Vivien ganz sicher ist, das dieses Scheusal nicht wiederkehrt, traut sie sich, die Hand von ihrem Mund zu nehmen.

      Es vergeht nur ein Wimpernschlag, dann kreischt sie los.

      Den Blick fest auf den zertrampelten Boden und die wenigen Blutspritzer gerichtet, schreit sie ihre Angst einfach hinaus.

      Ein paar Meter weiter, in Ellens und Viviens Elternhaus, gehen im obersten Stockwerk die Lichter an.

      Das Monster

      Leichtfüßig geht es über das zugeschneite Feld, es berührt den Boden kaum, hinterlässt keine deutlichen Fußabdrücke.

      Seinen langen, dünnen Cauda hat es sich locker um die Hüften gelegt, er müsste ihn sonst hinter sich her schleifen. Die pelzige Spitze wippt bei jedem seiner Schritte im Takt.

      Aus einiger Entfernung könnte man meinen, es stapfe ein Mensch durch den Schnee.

      Wenn sein Kopf nicht wäre, dieser stierartige Schädel mit langen Hörnern, die aus der breiten Stirn ragen. Die Nüstern blähen sich immer wieder, aber es entstehen keine Atemwolken vor dem Maul des Halbstieres. Die Luft aus den Lungen ist zu kalt, es ist nichts an ihr, das kondensieren könnte.

      Sein breiter, muskulöser Oberkörper ist nackt, jeder Muskel, jede Sehne ist durch die rotbraune Haut sichtbar. Am Ende der starken Arme haben sich lange Krallen gebildet, mit ihnen kann das Monster seine Beute packen und festhalten.

      Die schlangengleichen Augen glühen bernsteinfarben, nur wenn es bereit zum Angriff ist, dann leuchten sie glutrot. Jetzt wirken sie völlig normal, ja fast schon menschlich. Die Beine stecken in Jeans und an den Füßen trägt es Converse Chucks.

      Von der Gürtellinie abwärts sieht es ganz so aus, wie ein Mensch, ein Mann.

      Aber es ist ein Semibos, ein Halbstier, ein Monster, ein Biest und Menschenfresser.

      Mit dem Kopf eines Stieres, dem Oberkörper eines muskulösen Mannes. Ein langer, peitschenartiger Schwanz, der Cauda. Der Rest von ihm ist menschlich.

      Der Semibos bewegt sich ein wenig schneller, er beginnt zu laufen. Während er die Arme hochnimmt und pumpend die Luft aus seinem Körper stößt, verwandelt er sich zurück. Er nimmt eine Körperform an, die es ihm erlaubt, sich frei zu bewegen.

      Damit er nicht so auffällt, in dieser Welt…

      Aber seine wahre Gestalt ist noch vorhanden, sie ist nur verborgen. Würden wir den Semibos anblicken, sähen wir einen jungen Mann, mit kurzen, braunen Haaren und einem freundlichen Gesicht.

      Nur die bernsteinfarbenen Augen wirken vielleicht zu starr, sein Körper, etwas zu perfekt.

      Der Stierkopf, die Muskeln und der Cauda sind nur trübe, wie ein schwacher, dunstiger Schleier umgeben sie immer noch seinen Körper.

      Sie sind nur sichtbar, für denjenigen, der es sehen will.

      Aber, … wer will das schon.

      Ein Samstag im Juni

      Stille herrscht in der Siedlung, eine fast schon unheimliche Stille.

      Immerhin ist es Samstagnachmittag, sollte die Luft nicht vor Kindergeschrei erzittern? Sollten die männlichen Nachbarn nicht ihre neuen Autos waschen, sie polieren und damit angeben? Die Frauen hier, müssten sie nicht draußen die Rosen oder andere Büsche schneiden, mit der Nachbarin tratschen oder auf ihren schicken Terrassen Kaffee aus teuren Tassen trinken?

      So sollte es eigentlich sein, in einer Vorstadtsiedlung.

      Wie gesagt, in einer normalen Siedlung, aber nicht hier. An diesem Ort ist alles anders, hier herrscht Samstagnachmittags eine unheimliche Stille.

      Ganz plötzlich erklingt ein leises Geräusch, ein Kratzen und Schaben. Ein kehrender Besen.

      Das letzte Haus in der kleinen Straße, wo der Feldweg gleich daneben anschließt, dort wagt es jemand die Stille zu durchbrechen.

      Irgendwer kehrt seine Einfahrt. Gleichmäßig und monoton erklingt das schabende Kratzen.

      Plötzlich kommt ein zweites hinzu, eine Haustür wird geöffnet, gleich nachdem jemand hindurchgetreten ist, schließt sie sich mit einem lauten Rums. Dann ist wieder nur das schabende Geräusch des Besens zu hören.

      Noch an ihre Tür gelehnt, beobachtet Luisa die kehrende Person von gegenüber.

      Luisa ist in ihren mittleren Jahren, die Kinder sind schon groß und aus dem Haus. Ihr Mann zieht seine Kumpels mittlerweile vor, und das nach all den gemeinsamen Jahren mit ihr. Diese Tatsache interessiert sie allerdings nur am Rande, sie sitzt mit ihm nur noch die restliche Zeit ab, wie sie es gesagt hat damals, bis das der Tod euch scheidet.

      Dass ihre Kinder aus dem gemeinsamen Haus auszogen, hat sie allerdings wirklich verletzt. Plötzlich stand Luisa vor dem Nichts, sie hatte nichts mehr, um das sie sich kümmern, dass sie mit ihrer Liebe erdrücken konnte.

      Gut das damals, etwa zur gleichen Zeit, das Haus gegenüber verkauft wurde. Ein seltsames Mädchen zog dort ein, das hat die Gemüter der ganzen Siedlung erregt.

      Nur mit Luisa hat dieses Mädchen gesprochen, außer Hallo und Guten Tag sogar in ganzen Sätzen. Luisa hat sich mit ihrer ganzen Körperfülle einfach dem Mädchen aufgedrängt, es hatte gar keine Chance, dem schnellen und munteren Geplapper einer erst kürzlich verlassenen Mutter, zu entgehen.

      An ihre Haustür gelehnt beobachtet Luisa das Besenschwingende Mädchen. Es hält den Kopf gesenkt, ihre langen, schwarzen Haare sind locker im Nacken zu einem Zopf zusammen gebunden. Sie ist klein und sehr schlank, fast schon dürr. Das schwarze, ärmellose T-Shirt liegt eng an ihrem Körper und unterstreicht ihre Figur nur noch, genau wie die enggeschnittene, ebenfalls schwarze Hose.

      Die Haut ist sehr hell, ihr Gesicht schon fast weiß, den linken Arm ziert eine Tätowierung. Ein Tribal, es beginnt an ihrer Schulter und zieht sich über den gesamten Arm, bis fast zum Handgelenk hin. Die dicken, schwarzen Linien und Bögen stehen in einem starken Kontrast zu der hellen Haut, so fällt das Tattoo nur noch mehr ins Auge.

      Luisa überlegt, ob es nicht gerade diese Tätowierung war, die damals die gesamte Siedlung gegen das Mädchen aufbrachte, oder war es eher die Tatsache, dass sie ganz alleine in ein großes Haus zog? Dass sie so merkwürdig war, so geheimnisvoll und niemand genaueres über sie wusste.

      Luisa zuckt mit den Schultern und setzt ihre Körpermassen in Bewegung. Langsam geht sie über die kleine Straße auf das schöne Einfamilienhaus zu. Die Einfahrt ist nicht lang, trotzdem kehrt die junge Frau schon mindestens