Carl Wilckens

Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1


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in dem ein Gefühl wie Neugierde nicht existierte. Er lauschte seinem Atem, seinem Herzschlag und dem Klicken der Minenkrebse; dem steten Rauschen des Windes, der einen Weg durch die natürlichen Tunnel und die in den Berg gegrabenen Schächte suchte, und der Stille. Die kühle, feuchte Luft vereinte seine Gedanken zu einem ruhig dahintreibenden Fluss, während der Granitgeruch dieses Ortes mit jedem Atemzug in sein Herz einzog, dessen Schlag längst so ruhig war wie die Erde selbst.

      Goldgrüner Lichtschein kündete von einem Minenkrebs, der sich von links näherte; friedliche Lebewesen, sofern man sie nicht bedrohte. Es war schon öfter vorgekommen, dass den Scheren ein Finger zum Opfer gefallen war. Das Tier konnte Rattle jedoch genauso wenig überraschen wie er sich selbst. Solange er das Auge des Einklangs geöffnet hatte, spürte er es, als wäre es ein Teil von ihm.

      Dimirs Kleidung raschelte, als er sich erhob. Rattle tauchte aus dem Zustand der Meditation auf und öffnete die Augen. Er befand sich in einer natürlichen Höhle, in deren Zentrum auf einem Podest am Ende einer kurzen Treppe ein über zwei Meter hoher Spiegel stand. Zwei Säulen flankierten ihn und verliehen ihm das Aussehen eines Portals. Sechs oder sieben Minenkrebse grasten in der Höhle, einer vor Rattles Knien, die langen Stielaugen auf ihn gerichtet und mit einem wild wuchernden Kristall auf dem Panzer, dem ein goldgrünes Licht innewohnte: die Hauptlichtquelle in der Onslow Mine.

      »Der dunkle Spiegel hat gesprochen«, verkündete Dimir feierlich. Er war ein Mann mittleren Alters mit Glatze und Adlernase. Außer der Hose aus dunklem Stoff trug er nur einen schwarzen Umhang, der von einer aus einem Spiegelsplitter bestehenden Schnalle zusammengehalten wurde. »Es ist mir eine Ehre, die Worte von ihm empfangen zu dürfen, die verkündeten, dass wir – das heißt, die Mitglieder unserer Bruderschaft – von nun an sowohl immun gegen den Grubenwahn sind als auch von den Wahnsinnigen nicht länger angegriffen werden.« Ein Raunen ging durch die Reihen der für gewöhnlich stets gefassten Schüler. Sogar Rattles Herz machte einen aufgeregten Hüpfer. Wenn einer der Meister mit seinen Schülern das Heiligtum aufsuchte, dann normalerweise, um in Erfahrung zu bringen, ob der dunkle Spiegel einen der Zöglinge auf die Probe stellen wollte. Rattle hoffte schon seit Langem darauf, einen weiteren Auftrag zu erhalten. Doch Dimirs Worte machten seine Enttäuschung mehr als wett. Der Grubenwahn und die daran Erkrankten stellten keine Gefahr mehr für die Bruderschaft dar! Das bedeutete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie die Onslow Mine verlassen konnten.

      »Erhebe dich, Tamora. Gib den anderen Meistern Bescheid.« Eine Schülerin aus den Reihen der Knieenden kam auf die Beine und verließ im Eiltempo das Heiligtum. »Während der dunkle Spiegel nun nach dem schnellstmöglichen Weg sucht, auf dem wir die Mine verlassen können, gibt es einen Auftrag von großer Wichtigkeit, der erledigt werden muss«, fuhr Dimir an den Rest gewandt fort. Noch einmal schlug Rattles Herz schneller. Von großer Wichtigkeit? Wenn der Spiegel ihn dazu berief, diesen Auftrag zu erledigen, wäre er der eindeutige Günstling. Er war mit nur sechzehn Jahren der fähigste Schüler Dimirs; vielleicht sogar der Beste unter allen Schülern. Die vermutlich Einzige, der er nicht das Wasser reichen konnte, war Gwendolyn. Sie hatte einen Weg gefunden, das Auge des Einklangs zu öffnen, den die Meister nicht lehrten – einen, der viel effizienter war als jeder andere. Vor einigen Jahren, als sie noch der Bruderschaft angehört hatte, hatte Rattle ihr ständig am Rockzipfel gehangen. Er hatte alles über ihre Methodik erfahren wollen. Doch dann hatte Gwendolyn beschlossen, dem Spiegel den Rücken zu kehren. Inzwischen konnte Rattle nicht mehr glauben, dass er einst zu ihr – einer Verräterin – aufgeblickt hatte.

      Seine somit einzige Konkurrentin war die gleichaltrige Cat. Auch seine Schwester hatte sich die ein oder andere Lektion von Gwendolyn lehren lassen. Tatsächlich war sie so anmaßend gewesen, zu behaupten, sie könne es mit ihm aufnehmen. Rattle hatte sie bloß eines verachtenden Blickes gewürdigt.

      »Erhebe dich«, sagte Dimir und legte eine dramatische Pause ein. »Favorit des dunklen Spiegels, Rattle.« Ohne eine Miene zu verziehen, stand Rattle auf und ging an dem Minenkrebs vorbei, der ihm mit den Scheren drohte.

      »Erhebe dich …«, wiederholte Dimir, woraufhin Rattle auf halbem Wege zu seinem Meister stutzte. Er war doch längst auf den Beinen. »… Favoritin des dunklen Spiegels, Cat.« Rattle traute seinen Ohren nicht. Der Spiegel hatte zwei Schüler auserwählt? Er warf einen Blick zurück und sah seine Mitschülerin aus den Reihen der knienden Brüder und Schwestern treten. Sie ging barfuß, hatte kein Haar auf dem Kopf und war übersät mit Tätowierungen. Außer einer leichten Hose aus weißem Stoff trug sie wie alle weiblichen Schüler nur eine Brustbinde. Weder ließ ihre Miene erkennen, dass die Worte ihres Meisters sie überrascht hatten, noch gab einer der anderen Schüler einen Laut von sich, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, dass der dunkle Spiegel zwei Schüler auswählte. Erst als Cat zu ihm aufschloss, setzte Rattle seinen Weg an ihrer Seite fort. Vor Dimir kniete seine Schwester nieder. Rattle hingegen begegnete dem Blick des Meisters auf Augenhöhe.

      »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er kalt.

      »Der dunkle Spiegel ist unergründlich«, erwiderte Dimir ruhig. Eine unterschwellige Drohung begleitete seine Worte.

      »Noch nie sind zwei Schüler aufgerufen worden«, begehrte Rattle auf. »Hält er mich nicht für fähig genug, seine Aufgabe allein zu bewältigen?«

      »Es bedeutet«, erwiderte sein Meister und begegnete Rattles Blick mit kühler Ruhe, »dass ihr es mit einem Gegner zu tun bekommen werdet wie noch kein Schüler zuvor. Aber wenn dein Stolz dir verbietet, den Auftrag zu zweit durchzuführen, sei dir gewährt, diese Ehre abzugeben.« Rattle knirschte mit den Zähnen. Obwohl Cat vollkommen reglos und mit gesenktem Haupt vor ihrem Meister kniete, spürte er ihren Spott. Widerwillig folgte er ihrem Beispiel und ging auf die Knie. Mit gesenktem Blick sah er nur noch den Schatten seines Meisters, der sich diffus im Licht eines hinter ihm grasenden Minenkrebses abzeichnete. Er breitete die Arme aus und verkündete feierlich: »Der dunkle Spiegel hat dich, Rattle, und dich, Cat, dazu auserkoren, uns vor einer nahenden Bedrohung zu schützen. Ein Mann, den selbst der Tod fürchtet, wird kommen. Man verbannte ihn einst in die Unterwelt, doch kehrte er als ihr König daraus zurück. Der Einzige, der ihm Angst einflößt, ist er selbst. Er ist ein kaltblütiger Kämpfer, der nie zögert, ein Krieger, der keine Waffen zum Töten braucht, weil seine bloßen Hände keine minder gefährlichen Werkzeuge sind. Er wird zur Onslow Mine kommen und versuchen, zum dunklen Spiegel vorzudringen. Und mit ihm kommt unser aller Ende. Ihr müsst es verhindern. Der Spiegel erwählte euch beide, nicht weil er nicht in eure Fähigkeiten vertraut, sondern weil er unseren Feind respektiert. Nun erhebt euch und bereitet euch auf eure Aufgabe vor.« Rattle und Cat kamen auf die Beine. Hinter ihnen raschelten zwei Dutzend Hosen aus schlichtem Stoff, als sich auch die restlichen Schüler – allesamt kahlköpfig und tätowiert – erhoben.

      »Ich werde diesen Kerl alleine erledigen«, sagte Rattle so leise, dass nur Cat ihn hören konnte, während alle zum Ausgang der Höhle strömten.

      »Wir werden sehen«, erwiderte sie mit einem provokativen Lächeln, das Rattles Selbstbeherrschung auf eine harte Probe stellte.

      End

      Das Ticken einer Schrankuhr weckte mich. Meine Orientierung kehrte mit einigen Sekunden Verzögerung zu mir zurück: Ich war auf dem Sofa in Waterstones Wohnzimmer eingeschlafen, als ich die nächste Seite von Williams Tagebuch hatte lesen wollen.

      Die Tagebuchseite!

      Ich öffnete die Augen und setzte mich auf. Tastete meinen Oberkörper ab und blickte mich hektisch um. Die Seite war nirgends zu sehen. Ich stand auf und riss die Sofapolster herunter. Nichts. Jemand musste sie mir abgenommen haben; Waterstone oder vielleicht Rocío. Gerade wollte ich nach ihnen rufen, da bemerkte ich die Stille. Keine Schritte tönten vom oberen Stockwerk. Keine gedämpften Stimmen sickerten durch die Wände. Nur das Ticken der Schrankuhr war zu hören. War ich allein? Unmöglich. Rocío und Jasper durften das Haus nicht verlassen. Sie waren ungebetene Gäste im Universitätsviertel und würden im Fall Professor Keens, der von Nikandros ermordet worden war, vermutlich verdächtigt werden. Vielleicht waren sie mit Waterstone durch den Zugang im Keller des Professors in die Kanalisation hinabgestiegen, um die Bibliothek von Ad Etupiae zu erkunden.

      Dennoch … diese Stille war unheimlich. Auch von draußen