Carl Wilckens

Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1


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Neige geht, und vielleicht mit der ein oder anderen Zutat auffrischen. Ich werde mir ein Labor im Keller der Universität einrichten.« Damit meinte sie Raum 21, wo zuvor William gearbeitet hatte. Er verfügte über einen geheimen Zutritt zu einem der unter Treedsgow begrabenen Gänge, der wiederrum mit der Kanalisation verbunden war. So konnte sie ungesehen dort ein- und ausgehen.

      »Gib mir eine Stunde, dann können wir runtergehen«, sagte ich entschlossen. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, mich über Waterstones Vorräte herzumachen, die noch nicht zwischen Jaspers Kiefern verschwunden waren. »Konnte Waterstone sich damit abfinden, wer ich wirklich bin?«

      Rocío zuckte die Achseln. »Er war nicht gerade glücklich darüber. Aber scheinbar bist du von so großem Wert für ihn, dass er es sogar hinnehmen würde, wenn du Black Raven selbst wärst.« Wenn er wüsste, dass ich Raven getötet hatte …

      »Wo ist der Professor jetzt?«, wollte ich wissen.

      »Er hat das Haus verlassen«, sagte Rocío überrascht. »Du müsstest ihn eigentlich gesehen haben.« Vermutlich war ich so sehr in Williams Tagebuchseite vertieft gewesen, dass ich ihn nicht bemerkt hatte. Meine Alarmbereitschaft ließ in letzter Zeit zu wünschen übrig. »Er wollte noch mehr Leute einweihen, damit sie uns helfen, die Bibliothek zu katalogisieren«, fügte Rocío hinzu. Ich blies die Wangen auf. Vermutlich wollte er sein Kollegium informieren. Nicht, dass ein Trupp aufgeblasener Professoren mich davon abhalten könnte, mich dort umzusehen. Aber sie würden es definitiv versuchen und die Suche nach der Nadel im Heuhaufen zusätzlich verkomplizieren.

      »Hat er gesagt, wen?«, forschte ich nach.

      »Er sprach von einem Kerl namens Miel«, antwortete Rocío. Ich atmete auf. Miel war ein harmloser Student und einer von Waterstones Vertrauten. Er war außerdem ein Bewunderer meiner Person in der vermeintlichen Rolle des Widersachers von Damon, dem Banditenanführer, und würde gewiss schweigen.

      Ich bemerkte, dass Rocíos Mundwinkel zuckten. »Was ist so witzig?«

      »Nichts.« Sie winkte ab. »Es ist nur so, dass da, wo ich herkomme, Miel ein Frauenname ist.«

      »Woher kommst du?«

      »Selvenien«, antwortete Rocío.

      »Selvenien?«, wiederholte ich verblüfft. »Das liegt auf der anderen Seite der Welt. Wie kamst du nach Dustrien?«

      »Eine lange Geschichte«, sagte Rocío mit wegwerfender Handbewegung. Mehrere Erinnerungen aus dem Unterricht von Rico Fonti fanden mich: Selvenien war zu achtzig Prozent von Dschungel bedeckt. Über die dort lebenden Stämme war außer der Arbeit eines Naturforschers namens August von Tradescant nicht viel bekannt. Fonti hatte uns die Berichte von Tradescant, der mehrere Monate lang von Gemeinschaft zu Gemeinschaft gereist war, gegeben. Emily hatte sie mit Begeisterung gelesen, ich eher widerwillig. Dementsprechend war nicht viel davon hängengeblieben; wohl aber, dass in den meisten selvenischen Gemeinden Narben viel über die Umstände verrieten, von denen sie herrührten. Ich konnte nur mutmaßen, dass Rocíos verätztes Auge nicht gerade von Ehre kündete.

      »Wie geht es deinem Auge?«, fragte ich unvermittelt.

      Rocío zuckte kaum merklich zusammen. »Besser«, war ihre knappe Antwort.

      »Darf ich mal sehen?« Sie rührte sich nicht; auch dann nicht, als ich die Hand hob und ihr Haar zurückstrich. Blickte nur aus traurigen Onyxaugen zu mir auf. Die Haut um ihr linkes Auge sah aus wie geschmolzenes Wachs. Ihre Tätowierung – ein Mosaik aus Recht- und Dreiecken – war in diesem Bereich verzerrt. Auch wenn ihre versenkte Augenbraue in ein paar Vierteln nachgewachsen wäre, würde Rocío nicht zu ihrer einstigen Schönheit zurückfinden. Trotzdem war sie nicht hässlich, wie ich fand. Der Rest der olivfarbenen Haut ihres Gesichts war immer noch makellos. Was die Narbe ihr an Schönheit nahm, fügte sie ihr an Charakter hinzu – etwas, auf das ich im Allgemeinen mehr Wert legte. Immerhin wäre meine erste Liebe, die Piratin Sam, auch nicht als Kandidatin für die Perle des Fouriers in Frage gekommen. Sie war eine gute Kämpferin gewesen und bei nur wenigen Auseinandersetzungen verletzt worden. Auf der anderen Seite war sie auch keinem Streit aus dem Weg gegangen. Ich hatte mich bei jeder Narbe an ihrem Körper gefragt, welche Geschichte dahinterstecken mochte, und es nicht erwarten können, sie auf weitere zu erkunden.

      Ich hob die Hand und berührte behutsam die versehrte Haut. Nein, Rocío gefiel mir mit diesem Makel besser als vorher. Einige Sekunden verstrichen in Schweigen, während derer ich erwog, sie zu küssen. Unweigerlich dachte ich an ihren Blick, als Nikandros ihr in der Gestalt meines Spiegelbildes begegnet war und ihr gesagt hatte, dass er Damon getroffen hatte. Ihre Augen hatten sich mit dunkler Trauer gefüllt. Sie hatte geglaubt, dass Nikandros Damon getötet hatte. Dass sie noch etwas für ihn empfand, ließ sich auch dadurch nicht von der Hand weisen, dass sie sich von Nikandros hatte küssen lassen. Er hatte Rocíos Aura durchleuchtet und ihr gesagt, was sie hören wollte: dass ich kein Leben mehr nehmen würde.

      Ich zog die Hand zurück, und Rocíos Haar fiel ihr wieder vors Gesicht. Ich fürchtete mich nicht vor ihrer Zurückweisung. Ich wusste schlicht, dass sie den Mann nicht wollte, der ich war. Ich konnte ihr nicht versprechen, ein anderer Mensch zu werden. Nur Emily wäre dazu in der Lage, Licht ins Dunkel meines Wesens zu bringen. Ich war seit Jahren über Leichen gegangen und würde, um meine Schwester zurückzubringen, jetzt keine Umwege machen.

      »Lass dir von jemandem einen Ratschlag geben, der seit seiner Kindheit mit einem Gesicht voller Narben gestraft ist«, sagte ich. »Sei stolz auf sie.«

      »Du hast gut reden«, erwiderte Rocío bitter, tat einen Schritt zurück und senkte den Kopf. »Deine Narben sind alle sauber verwachsen.«

      »Sauber verwachsene Narben haben in Dustrien eine andere Bedeutung als in Selvenien«, hielt ich dagegen. »Ich habe die wenigsten in einem ehrenvollen Kampf davongetragen.« Der Unterrumpf hatte mich vergessen lassen, was Ehre bedeutete. »Entschuldige mich. Ich frage Jasper, ob er uns begleiten wird. Wenn er sich langweilt, verbringt er zu viel Zeit in Waterstones Vorratskammer.« Meine Worte trieben den Anflug eines Lächelns auf Rocíos Lippen.

      Sie nickte. »Er hat was davon gemurmelt, er hätte schwarze Nebel von der anderen Seite im Haar, und ist die Treppe hoch.«

      Was das zu bedeuten hatte, erfuhr ich wenige Minuten später, als ich das Badezimmer im ersten Stock betrat. Jasper stand vor dem Waschbecken, das mit seinem Haar gefüllt war, eine Zigarette zwischen den Lippen und eine Rasierklinge in der Hand, mit der er über den inzwischen kahlen Kopf schabte.

      »Hey Godric! Gut, dass du kommst«, sagte er, wobei die Zigarette in seinem Mund tanzte. »Hab ich hinterm Ohr noch was?«

      »Hast du sie noch alle?«, fragte ich wütend.

      »Was?«, entgegnete Jasper herausfordernd. »Sind meine Haare, oder? Darf ich mit machen, was ich will.«

      »Deine Haare sind mir scheißegal«, sagte ich und war mit einem Schritt bei ihm. Ich pflückte ihm die Zigarette aus dem Mund und warf sie ins Waschbecken. »Waterstone hat sich klar ausgedrückt, was das Rauchen im Haus angeht.«

      »Ist ja gut«, sagte Jasper gelassen und hob in kapitulierender Geste die Hände. »Jetzt sag schon, sind da noch Haare? Ist ganz schön schwer, sich den Schädel ohne Spiegelbild zu rasieren.« Erst jetzt bemerkte ich, dass Jaspers Ebenbild im Spiegel über dem Waschbecken fehlte. Das machte Sinn, war es doch im Diesseits unterwegs, seit Jasper sich für mich geopfert hatte. Mein Spiegelbild hingegen war dort, wo es hingehörte. Scheinbar setzte die Physik, die für die Existenz eines solchen verantwortlich war, nur so lange aus, wie der Enerphag lebte, der es gemimt hatte. Ich legte eine Hand an das kühle Glas und begegnete dem Blick meiner dunklen Augen. Es waren Augen, die viel Leid gesehen hatten – das meiste davon hatte ich anderen zugefügt. Sie waren dunkel. Traurig. Mörderisch. Aber es waren meine Augen.

      Zum ersten Mal, seit mein Spiegelbild angefangen hatte, sich merkwürdig zu verhalten, hatte ich die Gelegenheit, mich ausgiebig selbst zu betrachten. Seit Amrei, die Tochter des Besitzers der Taverne Zum Meeresgrund, mir die Haare geschnitten hatte, waren sie einige Zentimeter länger geworden. Verglichen damit wuchs mein Bart, den ich mir alle drei Tage rasieren musste, wenn ich nicht wie