Carl Wilckens

Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1


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irgendein Reim. Es waren die dunklen Runen, mit denen sich die Hirnmarodeure bannen lassen.« Der Sänger ballte hoffnungsvoll die Hände zu Fäusten. Er wusste aus Ends Erzählung, worum es sich bei dunklen Runen handelte. Sie waren das Pendant zur Runenmathematik. Während sich mit Letzterer die Synaígie programmieren ließ, waren die dunklen Runen künstlerischer Natur. Wenn man die Richtigen kannte, ließen sich damit die Enerphagen kontrollieren.

      »Hättest du sie nicht erledigen können?«

      »Das habe ich versucht«, meinte End. »Ehe ich dazu kam, hat der Hirnmarodeur dem Mann Angst eingeflößt, damit er sich von mir entfernt.« Schweigen kehrte ein. Eine Zeit lang waren nur Georges Wimmern und Stöhnen zu vernehmen, bis auch das verstummte.

      »Genosse?«, fragte Baine besorgt. »Bist du okay?«

      »Es hat aufgehört zu bluten«, antwortete George schwach. »Mir schmerzt der Schädel. Hört hier noch jemand ein Pfeifen?«

      »Du solltest deinen Brei essen, Mann!«

      »Gleich, gleich«, murmelte George. »Warum … fährst du nicht mit deiner Geschichte fort, End? Ich werde ein bisschen ausruhen und etwas essen, sobald ich wieder Appetit habe.«

      »Man hatte mir eine zweite Zigarette versprochen«, entgegnete End und blickte in die Zelle seines Gegenübers.

      Der Sänger holte den in Papier eingeschlagenen Tabakvorrat hervor, drehte eine weitere Zigarette und warf sie über den Gang in Ends Zelle. Zum zweiten Mal an diesem Morgen flammte ein Streichholz auf, und End zog an der Zigarette.

      Himmel, war das gut! Er ließ den Rauch durch Mund und Nase strömen und beobachtete einige Sekunden lang mit verträumtem Blick die grauen Wirbel und Wölkchen, die er formte, ehe er fortfuhr.

      End

      Stöhnend richtete Amrei sich auf, wobei sie den Geigenkasten zur Seite fallen ließ und sich vorsichtig mit den Handballen auf dem scherbenübersäten Boden abstützte. Glassplitter steckten ihr in Armen und Gesicht. Sie zitterte und blickte mit einer Mischung aus Angst und Faszination zu mir auf.

      »Godric«, hauchte sie. Ich wagte nicht, die Machete sinken zu lassen. Diese Enerphagen waren verschlagen. Es wäre nicht das erste Mal, dass mir einer von ihnen in Amreis Gestalt begegnete. Nikandros hatte gesagt, er könne jede Erscheinung annehmen, die er erlernt hatte. Dazu zählten insbesondere die Gestalten der Spiegelbilder, die er im Laufe seiner langen Gefangenschaft gemimt hatte. Waren sie etwa auch dazu imstande, sich als Versionen unterschiedlichen Alters der jeweiligen Person auszugeben?

      Amrei stöhnte und sank zurück. Erst jetzt bemerkte ich den Blutfleck auf ihrer Bluse. Ein Splitter hatte sich in ihre Bauchdecke gebohrt.

      Jasper fluchte. Er schob mich zur Seite, beugte sich zu Amrei herab und hob sie hoch. »Rocío!«, rief er laut, während er sie schon zur Tür hinaustrug.

      »Meine Geige!«, japste Amrei in Jaspers Armen.

      »Godric passt auf sie auf«, erwiderte der Izzianer knapp. »Rocío!«

      Wenig später hatten wir Amrei auf das Sofa in Waterstones Wohnzimmer gebettet. Rocío kniete neben ihr, entfernte vorsichtig einen Splitter nach dem anderen und säuberte ihre Wunden.

      »Wie schlimm ist es?«, fragte Jasper und sah besorgt in Amreis bleiches Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete flach, schien aber bei Bewusstsein zu sein.

      »Sie hat viel Blut verloren, aber keiner der Schnitte ist bedenklich tief«, entgegnete die Alchemistin, während sie den letzten Splitter entfernte.

      »Amrei?«, fragte ich behutsam. Die junge Frau öffnete die Augen und sah zu mir.

      »Es ist unglaublich«, flüsterte sie. »Als wären nur wenige Viertel vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Er hat mir gesagt, dass es so sein würde, aber ich bin dennoch überwältigt.«

      »Wer hat gesagt, dass es so sein würde?«, forschte ich nach.

      »Er nannte sich Wurmgott«, antwortete sie. »Obwohl wir die meiste Zeit zusammen waren, weiß ich nicht viel mehr über ihn.«

      »Ihr kennt euch?«, fragte Rocío und blickte zwischen mir und Amrei hin und her.

      Ich nickte. »Wir haben uns in meinen ersten Vierteln in Treedsgow kennengelernt«, sagte ich. »Dann eines Tages verschwand sie.«

      »Nicht irgendeines Tages«, meldete sich Amrei erneut zu Wort. »Es passierte an meinem dreizehnten Geburtstag. Ich betrachtete mich im Spiegel, als mein Spiegelbild … etwas war merkwürdig damit. Es bewegte sich, ohne dass ich mich bewegte. Es fasste durch das Spiegelglas mein Handgelenk und während es mich hineinzog, trat es hinaus und nahm meinen Platz in der Realität ein. Ich war gefangen in einer Welt schwarzen Nebels.«

      »Nein!«, rief Jasper unvermittelt und wich vom Sofa zurück. Alle sahen zu ihm. Panik beherrschte seinen Blick, und er zitterte am ganzen Leib. »Die schwarzen Nebel sind fort«, fügte er hinzu und fuhr sich mit den Händen über den kahl rasierten Schädel. »Sprich nicht mehr davon!«

      Rocío ging zu ihm, fasste ihn am Arm und führte ihn behutsam zu einem Sessel. »Die schwarzen Nebel sind fort«, bestätigte sie, woraufhin Jasper sich ein wenig beruhigte. »Alles ist gut.«

      »Er war zu lange auf der anderen Seite«, beantwortete ich Amreis unausgesprochene Frage.

      Die junge Violinistin warf ihm einen verständnisvollen Blick zu, ehe sie fortfuhr: »Einen halben Tag lang war ich gezwungen, ihr Spiegelbild zu spielen. Dann kam der Wurmgott und erlöste mich.«

      »Wie?« Ich hatte nicht vergessen, wie schwer es gewesen war, mich aus dem Bann zu befreien, während ich gezwungen war, Nikandros Spiegelbild zu mimen.

      »Er berührte mich nur an der Schulter«, flüsterte Amrei. »Er sagte, mein Platz sei nicht hier. Und dann nahm der Nebel Gestalt an, und wir fanden uns an einem sonderbaren Ort wieder: einer Insel, auf der es Tiere und Pflanzen gab, von denen ich noch nie im Leben gehört hatte.« Norin hatte von etwas Ähnlichem berichtet: Als er in Icolis von den Blitzen eines Synaígiegewitters für die Dauer weniger Augenblicke in eine Synaígieblase katapultiert worden war, hatte er von riesigen Reptilien berichtet. Ob es sich bei der Insel ebenfalls um einen Ort handelte, der von einer Synaígieblase eingekapselt war? Wie war es dann möglich, dass Amrei so schnell gealtert war? »Ich bat den Wurmgott, mich nach Hause zu bringen«, fuhr Amrei fort. »Er sagte nur, dass er mich nicht gehen lassen könne, ohne mich die dunklen Runen gelehrt zu haben. Er versicherte mir, dass, wenn ich zurückkehrte, nur wenige Viertel vergangen sein würden. Vier Jahre verbrachten wir auf der Insel, während derer er mich unter seine Fittiche nahm. Die Lehre der dunklen Runen ist ein derart weites Feld, dass ich bezweifelte, sie jemals abzuschließen. Erst vor wenigen Stunden dann verkündete er, es sei an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Ich solle verhindern, dass mein Ebenbild im Diesseits unseren gemeinsamen Freund Godric End töte.«

      Ich hob die Brauen. »Du?«

      Ihrer Schwäche zum Trotz brachte Amrei einen giftigen Blick zustande. »Ich bin zu mehr fähig, als du denkst«, meinte sie. Hätte sie die Kraft dazu gehabt, hätte sie mich wohl angefaucht. Tatsächlich aber klang sie so ehrfurchtgebietender. »Der Wurmgott brachte mich wieder …« Sie warf Jasper einen flüchtigen Blick zu. »… auf die andere Seite. Ein Spiegel materialisierte sich, und er ließ mich allein. Ich warf mich instinktiv dagegen, und als er zerbrach, fand ich mich im Badezimmer dieses Hauses wieder.«

      »Hat dieser … Wurmgott erwähnt, um was für eine Art Enerphag es sich bei deinem Spiegelbild handelt?«, fragte ich. Jasper sah mit verwirrter Miene zu mir.

      Ehe er fragen konnte, was ich damit meinte, antwortete Amrei: »Eine Norn.« Das Herz wurde mir schwer. Wie sich herausgestellt hatte, war unser Triumph über Nikandros ein Glücksfall gewesen. Ehe Norin und die Gruppe aus Synaígikern den Norn vor vielen Jahrtausenden besiegt und um den Großteil seiner wahren Macht gebracht hatten, war er fast sowas wie ein Gott unter seinesgleichen gewesen. Seine Stimme hatte ein Unwetter beschworen. Er hatte das Glas aller Fenster in Portale zur