erst bewusst wird, wenn sie verstummt.
Mit steifen Schritten ging ich zu einem der Fenster. Die Sonne stand tief. Ihr Licht fiel rotgolden ins Zimmer, als stünde ein verfrühter Herbsttag an. Oder endete er? Noch orientierungslos vom Schlaf konnte ich nicht sagen, ob die Sonne auf- oder unterging.
Tick … tack …
Ich warf der Schrankuhr einen wütenden Blick zu. Wie sie die Stille in gleichgroße Scheiben schnitt, machte sie mich noch nervöser als die Lautlosigkeit selbst. Ich verließ Waterstones Wohnzimmer, eilte durch den Flur und trat hinaus auf die Straße. Die Stille rührte nicht von Waterstones vier Wänden her, wie ich gehofft hatte. Sie schwebte auch über den Häusern der Stadt wie die Präsenz einer unsichtbaren, gottähnlichen Wesenheit. Kein Vogel zwitscherte, kein Windhauch rührte sich. Dafür hörte ich nach wie vor das Ticken der Schrankuhr.
Ich schickte den Blick die Straße hinauf und hinab. Niemand. Das Licht der tiefstehenden Sonne zeichnete lange Schatten auf das Pflaster. Am Ende der Straße bemerkte ich einen Gegenstand, der aus dem Boden ragte. Ich ging darauf zu und erkannte, dass es ein Schwert war, das in den Fugen des Straßenpflasters steckte. Ich zog es heraus und betrachtete es. Es war eine brutale Waffe aus schwarzglänzendem Stahl. Im goldenen Licht der Sonne wirkte das Material beinahe durchsichtig. Der Knauf des Schwertes war der Totenschädel irgendeines kleinen, menschenähnlichen Lebewesens, seine Schneide gezackt und seine Klinge spitz zulaufend und so breit und lang, dass es die Waffe unhandlich machte; zum Kämpfen ungeeignet. Sie schien eher dafür geschaffen worden zu sein, auf möglichst schmerzhafte und blutige Weise zu töten. Ich drehte sie im Licht der Sonne und bemerkte entlang der Hohlkehle qualvoll verzogene Gesichter knapp unterhalb der dunklen Oberfläche der Klinge; fast so, als banne die Waffe die Seelen ihrer Opfer in den Stahl, aus dem sie geschmiedet worden war.
Tick … tack …
Ich schüttelte den Kopf, wie um das Ticken zu verscheuchen, als wäre es eine lästige Mücke, die um mein Ohr herumschwirrte.
Tick … tack …
Ich schlug mir aufs Ohr …
Tick … tack …
Schlug mir gegen die Schläfe, als hoffte ich, dass Ticken aus meinem Kopf werfen zu können.
Tick … tack …
Wutentbrannt hob ich das Schwert und ließ es senkrecht herabfahren, wie um einen unsichtbaren Feind der Länge nach zu spalten. Die Klinge traf auf die Straße und zerschmetterte das Pflaster. Ein Riss tat sich im Boden auf. Schnell wie ein Blitz weitete er sich aus und verschwand unter der nächsten Hauswand. Eine Sekunde lang schien die Welt den Atem anzuhalten. Dann brach das Haus knirschend entzwei. Die beiden Hälften drifteten voneinander ab, und Gesteinsbrocken regneten in den Riss im Boden, während er immer breiter wurde und meine Beine spreizte. Ich rettete mich auf die rechte Seite, unfähig, den Blick von dem gespaltenen Gebäude abzuwenden. Trümmer und Möbelstücke fielen aus den aufklaffenden Haushälften in die Tiefe.
Weitere Häuser brachen entzwei, während der Riss sich verzweigte. Das Donnern einstürzender Gebäude und ein Chor panischer Schreie aus den Kehlen der Menschen in ganz Treedsgow lösten die Stille ab.
Die Welt zerbrach!
Plötzlich waren die Straßen voller rennender Gestalten. Einige der Segmente, die einst der sichere Boden unter unseren Füßen gewesen waren, sackten herab. Menschen fielen schreiend in die Tiefe. Weitere Gebäude entlang des ersten und größten Risses stürzten ein und gaben den Blick aufs Meer frei. Ein gewaltiger länglicher Strudel ließ ahnen, dass auch der Meeresboden auseinanderbrach.
»Godric? Godric!«
Ich fuhr aus dem Schlaf. Meine Hand fand den Griff der Machete. Ein Traum! Es war bloß ein Traum gewesen! Ich war zurück in Waterstones Wohnzimmer. Der Professor, Rocío und Jasper standen vor mir. Die Alchemistin musterte mich besorgt, der ehemalige Honor aus Izzian belustigt, Waterstone mit gemischten Gefühlen.
»Bist du in Ordnung?«, fragte Rocío.
Ich setzte mich auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und fuhr mir durchs Haar, während ich darauf wartete, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Nach einer Weile tastete ich meine Kleidung ab und fand in der Brusttasche meines Hemdes, wonach ich gesucht hatte: eine halb aufgerauchte Schachtel Zigaretten.
»Ich wette, er hat von mir geträumt«, sagte Jasper. In seinen blauen Augen blitzte der Schalk. »So, wie der um sich geschlagen hat …«
»Ich habe es eigentlich nicht so gerne, wenn hier geraucht wird«, bemerkte Waterstone spitz, als ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Ich überhörte ihn, zog ein Streichholz über die Tischplatte seines schicken Wohnzimmertischchens aus Akazienholz und steckte die Zigarette an. Waterstone rümpfte die Nase, während ich mein Gesicht in den Rauch des ersten Zuges hüllte. Erst jetzt schlug mein Herz in normalem Tempo weiter.
»Hat jemand …«, setzte ich an, als ich die nächste Seite von Williams Tagebuch im Spalt zwischen den Sofapolstern entdeckte. Ich zog sie heraus und fing an zu lesen:
35. Blätterfall 1713, Lohntag …
»Ich bin eigentlich hier, um mich mit euch zu unterhalten«, sagte Waterstone bissig. Ich hob den Blick und nahm die Zigarette aus dem Mund.
»Was gibt’s?«
»Wir müssen ein paar Regeln klarstellen«, sagte der Professor händeringend. »Ihr seid erst seit zwei Nächten hier und habt schon die Hälfte der Vorräte aufgebraucht.« Seit zwei Nächten? Ich musste über vierundzwanzig Stunden geschlafen haben.
»Die Hälfte der Vorräte?«, fragte ich und sah zu Jasper. Ich hatte nichts davon gegessen, wie mein knurrender Magen mich in diesem Moment erinnerte, und ich glaubte kaum, dass Rocío die Übeltäterin war.
Der Izzianer hob abwehrend die Hände. »Sieh mich nicht so an. Ich esse normal viel.« Ich hob die Brauen. »Na schön, vielleicht ein bisschen mehr als gewöhnlich. Verzeiht mir, wenn mich der Genuss des Essens etwas überwältigt, nachdem ich viertellang auf der anderen Seite ohne habe durchstehen müssen. Um dich zu retten, wohlgemerkt«, fügte er hinzu. Wenn er glaubte, dass ich mich ihm gegenüber deshalb verpflichtet fühlte, irrte er sich gründlich.
»Aber musst du dich unbedingt an meinem guten Wein vergreifen?«, fuhr Waterstone ihn an. Sein perfekt gerader Schnurrbart erzitterte vor Wut. »Wenn du dich unbedingt besaufen musst, dann schicke ich June los, damit sie dir Fusel aus dem Hafen besorgt.«
»Meinetwegen«, erwiderte Jasper gelangweilt.
»Und das hier«, fuhr Waterstone, dem der Zorn offenbar Mut verlieh, an mich gewandt fort und pflückte mir die Zigarette aus den Fingern, »… ist ebenfalls nicht erwünscht.« Kurz schien es, als wolle er sie auf seinem Akazientischchen ausdrücken. Dann besann er sich eines Besseren und ging zum Fenster, riss es auf und schnippte sie auf die Straße.
Ich unterdrückte den Impuls, mir die nächste Zigarette anzustecken, und hob in beschwichtigender Geste die Hände. »Einverstanden«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Ich rauche nicht hier drin, und Jasper hält sich zurück.«
»Sagt wer?«, fragte der Izzianer. Ich erwiderte seinen herausfordernden Blick mit kühler Miene. Es war offensichtlich, worauf er hinauswollte: Er hatte seine Schuld mir gegenüber beglichen. Ich hatte ihm nichts mehr zu sagen.
»Der Mann, dessen Gastfreundschaft du in Anspruch nimmst«, erwiderte ich. »Andernfalls geh und erkläre dem Konstabler, was du im Universitätsviertel zu suchen hast. Wenn sie dich nicht einbuchten, schmeißen sie dich raus. Damon wird sich freuen, dich wiederzusehen.« Bevor ich Jaspers Leben verschont hatte, war er einer von Damons Gardisten gewesen. Der Banditenanführer war einer der wenigen, die sein Gesicht kannten, das er zu vermummen gepflegt hatte.
Jasper lächelte breit. »War nur Spaß, Mann.«
Ich musterte ihn aufmerksam. Die Zeit hinter den Spiegeln hatte ihn verändert. Das war ein anderer Jasper, der die Ideen von Ehre, die ihm ein Orden aus Izzian – die Honoren – einst beigebracht hatte, in den schwarzen Nebeln der Spiegelwelt