S. N. Stone

Hinter der Lüge


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musste gerade jetzt der ganze Ort und alle Touristen hier einkaufen? Anne kurvte zum x-ten Mal durch die Reihen. Sie hatte es eilig, in einer halben Stunde hatte sie einen Termin mit einem Kunden, der so lange dauern würde, dass sie anschließend keine Gelegenheit mehr haben würde noch etwas einzukaufen. Heute Abend hatte sie eine Freundin zum Essen eingeladen und sie brauchte unbedingt noch ein paar Dinge.

      Da, da war eine Lücke. Anne setzte an, gab ein wenig Gas, blinkte und wollte einparken, als ein anderer Wagen an ihr vorbeischoss und sich in eben diese Parklücke stellte. Sie trat auf die Bremse. So eine Unverschämtheit! Der Fahrer musste doch gesehen haben, dass sie da rein wollte. Er hatte ihr ganz dreist den Platz geklaut. Anne ließ die Seitenscheibe herunter und steckte den Kopf hinaus. „Hallo?!“, rief sie.

      Sie konnte einen Mann hinter dem Steuer erkennen, der sich abschnallte.

      „Hallo?!“, versuchte sie erneut auf sich aufmerksam zu machen.

      Der Mann stieg aus und schloss seinen Wagen ab. Unglaublich! Der Parkplatzdieb war ihr neuer Nachbar und er reagierte gar nicht auf sie, sondern ging einfach in Richtung Supermarkt. Anne schnallte sich ab und sprang aus dem Auto.

      „Hallo Sie“, rief sie noch einmal, „ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass ich hier gerade einparken wollte? Sie haben mir meinen Parkplatz weggenommen!“

      Sie war richtig wütend.

      Er blieb nicht stehen, sondern drehte sich im Gehen um und rief ihr zu: „Tschuldigung“, und grinste dabei.

      Anne fand sein Verhalten unerhört.

      Endlich hatte sie alles, was sie benötigte. Beim Bäcker holte sie sich noch schnell einen Coffee to go. Sie musste sich beeilen zu ihrem Termin zu kommen. Anne balancierte ihre Einkäufe und den Becher mit dem Kaffee und suchte gleichzeitig in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. Plötzlich prallte sie gegen jemanden. Der Kaffee schwappte aus dem Pappbecher und ergoss sich über das Shirt des anderen. Ach du großer Gott! Erschrocken blickte sie auf und starrte in die bernsteinfarbenen Augen mit dem leichten Silberblick. Sie hatte den Mund eigentlich schon für eine Entschuldigung geöffnet, brachte aber nun keinen Ton heraus. Sie glaubte er würde schimpfen, sie hätte es zumindest getan, stattdessen schaute er sie nur völlig erstaunt an, dann blickte er an sich herab und wieder zu ihr. Seine Hand fuhr an seine Brust. Der Kaffee war sicher ziemlich heiß gewesen.

      „Entschuldigung“, murmelte Anne und huschte an ihm vorbei, hinaus aus dem Laden und zu ihrem Auto.

      Der Termin hatte sogar noch länger gedauert, als sie gedacht hatte. Müde und kaputt, schmiss sie ihren Hausschlüssel in die Schale in der Diele, zog ihre Schuhe aus und ihre Jacke und verstaute beides ordentlich im Garderobenschrank. Schnell ging sie nach oben ins Schlafzimmer und zog sich etwas Bequemes über. Ihre Haare steckte sie zu einem Knoten zusammen. Anne ging wieder hinunter, um in der Küche die Vorbereitungen für das Abendessen zu treffen, sie hatte nicht mehr all zu viel Zeit.

      Sie begann das Gemüse zu waschen und zu schneiden. Während sie die Aubergine bearbeitete, schaute sie zum Küchenfenster hinaus. Sie konnte sowohl vom Wohnzimmer als auch von der Küche aus den Eingang zum Haus ihres Nachbarn sehen. Er saß auf den Stufen, die hinauf auf eine kleine Veranda führten, und trank ein Bier. Es tat ihr immer noch leid, dass sie ihm den heißen Kaffee über den Körper geschüttet hatte und gleichzeitig machte er sie so wütend, dieser ungehobelte Kerl!

      Die Sonne tauchte bereits alles in ein warmes, rotes Licht, aber es war noch warm. Kurz überlegte sie, ob sie das Essen auf der Terrasse einnehmen sollten, verwarf den Gedanken aber wieder, weil sie nicht wollte, dass sie für ihn auf dem Präsentierteller saßen. Würde sie auch nach der Verhandlung ganz hier bleiben, würde sie wohl eine Hecke an der Grundstücksgrenze setzen lassen müssen.

      Ob sie wusste, dass er sie sehen konnte? Die Frau saß in der Küche, hatte das Licht an und aß zu Abend. Jan nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und trat sie aus. Er hatte nicht viel Lust in das Haus zu gehen, da war nichts. Nicki hatte immer dafür gesorgt, dass ihr Heim gemütlich war. Sie und die Kinder hatten es lebendig gemacht. Wenn er dann mal nach Hause kommen konnte, war es ihm beinahe schon kitschig und übertrieben erschienen, jetzt wünschte er sich nur ein ganz kleines Stück dieser „Friede, Freude, Eierkuchen“ Dekoration. Aber es war vorbei und wahrscheinlich war es auch gut so. Sie hatten ihm viel bedeutet, Nicki und ihre beiden Kinder, aber sie waren sein Hafen gewesen, nicht sein Leben und das hatte Nicki gewusst.

      Jan zündete sich eine weitere Zigarette an und fasste sich mit der Hand an den Rücken. Es würde wohl Regen geben, seine Verletzung machte sich bemerkbar und das tat sie, wenn sich das Wetter änderte.

      Anne räumte das Geschirr in den Geschirrspüler, schmiss den Rest des Essens in den Müll, wischte den Tisch und die Arbeitsflächen gründlich ab und war ziemlich deprimiert. Ihre Freundin hatte kurzfristig abgesagt, es sei etwas dazwischen gekommen, hatte sie gesagt, toll! Etwas anderes war also wichtiger gewesen. Es fiel Anne schwer Kontakte zu knüpfen und sie hatte sich gefreut, als ihre alte Schulfreundin sich mit ihr hatte treffen wollen. So hätte sie hier vielleicht ein wenig Anschluss gefunden.

      Anne löste den Knoten in ihrem Haar und die blonden Locken fielen auf ihre Schultern. Das Band steckte sie in die Hosentasche, öffnete sie die Terrassentür und trat hinaus. Sie schloss kurz die Augen und atmete die kühle, angenehme Luft des Landes ein. Sie glaubte sogar, die nicht weit entfernte See riechen zu können. Eine Welle des Wohlbefindens schwappte durch ihren Körper. Hier war sie zu Hause.

      Das gute Gefühl verflog, als sie die Augen wieder öffnete und mitbekam, dass ihr Nachbar, der immer noch vor seinem Haus saß, zu ihr herüber starrte. Als er bemerkte, dass sie ihn entdeckt hatte, grinste er, mal wieder, und prostete ihr mit seiner Bierflasche zu. Wütend drehte sie sich um und stapfte zurück ins Haus, schloss die Terrassentür und zog die Gardine vor. Er vermieste ihr den schönsten Augenblick, den sie seit langem gehabt hatte.

      ***

      Das Eiscafé am Markt wurde immer noch von demselben italienischen Ehepaar betrieben wie in ihrer Kindheit und Jugend. Anne hatte Paolo, den Inhaber, schon damals als mürrisch empfunden und auch das schien sich nicht geändert zu haben, ebenso wenig wie die Bestuhlung im Außenbereich. Die weißen Plastiktische und Stühle luden eigentlich nicht zum Verweilen ein, aber Paolo hatte das beste original italienische Eis auf der ganzen Welt. So war sie vor ihrem nächsten Termin schnell dort hin, um sich einen Espresso und zwei Kugeln Eis zu gönnen.

      Man musste hier am Tresen bestellen und auch gleich bezahlen, die Sachen wurden an den Tisch gebracht. Das Café war gut besucht und sie suchte sich einen Platz etwas abseits. Ihr Stuhl und auch der Tisch waren noch nass vom Regen, der die Nacht über und auch am Vormittag heruntergegangen war. Anne holte ein paar Tücher aus ihrer Tasche heraus und wischte, mehr notdürftig, alles trocken. Als sie sich setzte, fiel ihr Blick auf einen Mann, der ganz in der Nähe saß, ihr Nachbar. Sie verdrehte die Augen, war er denn überall?

      Übellaunig stellte Paolo ihren Espresso und das Pistazieneis hin, und noch bevor sie ihm danken konnte, war er auch schon weg und räumte einen Tisch weiter das schmutzige Geschirr ab.

      Anne wollte gar nicht zu ihm hinüberschauen, aber sie musste. Ihr Nachbar zog ihren Blick magisch an. Er hatte einen Laptop vor sich stehen und schaute auf den Bildschirm. Sie trank einen Schluck und widmete sich ihrem Eis. Es grauste ihr schon vor dem Kundentermin. Sie mochte so etwas nicht, mochte nicht so gerne auf fremde Menschen treffen von denen sie so gut wie nichts wusste. Das war auch der Grund gewesen, weshalb sie den Job bei Alex angenommen hatte, die Klientel war überschaubar gewesen, nämlich Alex, und die Menschen, mit denen sie zusammenarbeiten musste, ebenso. Dafür waren die Folgen unerfreulich gewesen.

      Paolo ging an den Tisch ihres Nachbarn. Sie unterhielten sich miteinander und der Eiscafébesitzer tat etwas von dem sie dachte, er könne es gar nicht, er lachte herzlich. Das Gespräch war offensichtlich sehr amüsant. Anne löffelte weiter ihr Eis und bemühte sich krampfhaft den Blick nicht von der länglichen, beigen Waffel abzuwenden, die in ihrer Schale lag. Und sie tat es doch. Sie starrte zu dem Mann hinüber, ihre Blicke trafen sich. Er nickte ihr zu und wieder, dieses Grinsen! Anne trank ihren Espresso aus, würgte