S. N. Stone

Hinter der Lüge


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brauche Ihre Hilfe“, hauchte sie atemlos.

      „Was ist los?“

      „Jemand war in meinem Haus.“

      Er runzelte die Stirn.

      „Meine Eingangstür war nicht mehr abgeschlossen, als ich eben nach Hause kam, nur zugezogen“, erklärte sie.

      „Gibt es im Inneren Anzeichen dafür, dass jemand eingebrochen ist?“

      „Ich war gar nicht drinnen, ich bin sofort zu Ihnen herüber gekommen.“

      Jan ging ein paar Schritte auf sie zu.

      „Könntest du es vergessen haben, als du heute Morgen gegangen bist?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.

      „Nein, ich vergesse das nie, ich schließe immer zwei Mal rum.“

      „Sicher?“

      „Ganz sicher, immer, ich vergesse das nie. Vielleicht ist da noch jemand.“

      Jan wusste, dass sie durchaus recht haben könnte. Er ging an ihr vorbei, herüber zu ihrem Haus. Sie folgte ihm.

      Er spähte erst durch die Fenster des Erdgeschosses ins Innere, es war nichts zu sehen und auch nichts zu hören. Dann ging er zur Tür. Sie ließ sich von außen mit dem Drehknopf einfach öffnen. Er spürte Anne in seinem Rücken. Jan öffnete die Tür und schaute in den Flur und lauschte, nichts. Er ging hinein, sie hinterher. Sie drückte sich an ihn, hielt sich an seinem Shirt fest und er konnte ihre Angst spüren, sie zitterte. Er hätte seine Waffe mitnehmen sollen, dachte er, aber die lag drüben.

      Jan ging durch alle Räume, Anne mit ihm, dicht hinter ihm. Er schaute unters Bett, in die Schränke in das Badezimmer, das Gäste-WC, die Speisekammer, nichts. Im kleinen Garten war niemand, auch nicht auf der Terrasse, das hätten sie von außen ja gesehen.

      Es war niemand in dem Haus.

      „Fehlt irgendetwas?“, fragte er Anne, die sich immer noch ängstlich an ihn drückte.

      „Nein, soweit ich sehen konnte, ist alles da.“

      „Könntest du es vielleicht doch vergessen haben, heute Morgen?“

      Anne überlegte. „Ich weiß nicht, ich denke immer daran, ich schließe immer ab.“

      Er schaute sie prüfend an.

      „Vielleicht habe ich wirklich nicht abgeschlossen“, fügte sie dann leise hinzu.

      Jan hatte sie gar nicht dazu bringen wollen zuzugeben sich eventuell geirrt zu haben. Er nahm das ziemlich ernst. Er würde wachsamer sein, aber er konnte nicht 24 Stunden sie und das Haus beobachten und noch seinen Bedürfnissen nachkommen. Hoffentlich hatte sie es wirklich einfach nur vergessen.

      Sie gingen gemeinsam in den Flur.

      „Kann ich dich alleine lassen?“, fragte er.

      „Ja natürlich. Wahrscheinlich war es ja eh nur falscher Alarm.“ Sie lächelte gezwungen. „Danke.“

      „Gern geschehen, pass auf dich auf.“

      Er ging zur Tür hinaus und hörte, wie sie hinter ihm abschloss.

      Es hatte sie ganz schön Überwindung gekostet ihren Nachbarn um Hilfe zu bitten, aber sie hatte nicht gewusst, was sie sonst hätte tun sollen. Insgeheim war sie froh, dass er so bereitwillig mit ihr gekommen war, sie ernst genommen und nicht ausgelacht hatte. Obwohl er alles überprüft hatte, war ihr mulmig zumute, als sie sich ins Bett legte.

      ***

      Die letzten vier Tage waren ereignislos geblieben. Jan hatte seine Möbel zusammengebaut und in den Wohnbereich gestellt. Es sah nicht so richtig gut aus, aber er hatte nun eine einigermaßen vernünftige Sitzgelegenheit. Der alte Gartenstuhl stand jetzt auf der Veranda.

      Anne Svenson war zur Arbeit gefahren, zum Einkaufen und hatte sich ansonsten in ihrem Haus verschanzt. Kurz hatte er sie einmal auf der Terrasse gesehen. Ihm war langweilig und sie tat ihm leid. Er wusste von ihr, dass sie sehr speziell war, hatte es ja selber zu spüren bekommen. Er wusste aber auch, dass sie vor der Drohung von Alexej Sacharow nicht so zurückgezogen gelebt hatte wie jetzt.

      Jan setzte seine Brille auf, er verzichtete auf die obligatorischen Kontaktlinsen und setzte sich vor den Fernseher. Er zappte sich durch die Programme, es gab nichts. Genervt schaltete er ihn wieder aus und warf die Fernbedienung auf den Tisch. Wie ein eingesperrtes Tier lief er durchs Haus. Dann zog er sich seine Schuhe an, griff den Autoschlüssel und verließ seine Bleibe. Jan ging rüber zu Anne.

      Anne schaute vorsichtig durch das kleine Fenster neben der Haustür. Sie erwartete keinen Besuch und war ziemlich erschrocken, als es geklingelt hatte. Es war ihr Nachbar. Sie öffnete ihm.

      „Zieh dich an, nimm deine Tasche und komm mit mir mit!“

      Sie runzelte die Stirn, wie bitte? Er trug eine Brille, fiel ihr auf.

      „Was erlauben Sie sich?“, fragte sie brüskiert.

      „Ich will dich hier raus holen. Offensichtlich vergräbst du dich. Wir haben Sommer, der Abend ist schön, ich fahre ans Wasser und du kommst mit!“

      Nein! Warum sollte sie?

      „Keine Widerworte.“

      Er drängelte sich an ihr vorbei und griff ihre Hand. Anne schaffte es gerade noch die Tür zu schließen, dann zog er sie auch schon mit, die Treppe hinauf, in ihr Schlafzimmer. Dort ließ er sie los und öffnete ihren Kleiderschrank.

      „Hey, was soll das?“

      Er schaute ihre Anziehsachen durch, schob einen Kleiderbügel nach dem anderen zur Seite, bis er offensichtlich gefunden hatte, wonach er suchte. Ihr Nachbar zog ein geblümtes Sommerkleid heraus.

      „Das, das passt. Zieh dich um“, sagte er und wollte den Raum verlassen.

      „Halt“, befahl sie, „was fällt Ihnen ein?“

      „Ich habe doch gesagt ich nehme dich mit.“

      „Und wenn ich gar nicht will?“ Sie war fassungslos.

      „Du willst“, antwortete er bestimmt, ging und machte die Tür zu.

      Anne stand vor dem Bett, auf das er das Kleid gelegt hatte, und starrte es an. Wollte sie? Sie betrachtete sich im Spiegel ihres Kleiderschrankes. Graue Jogginghose, T-Shirt, Pferdeschwanz, blass. Anne atmete tief ein. Dann zog sie das Shirt und die Hose aus und streifte sich das Kleid über. Sie löste den Zopf und betrachtete sich noch einmal. Besser. Ein paar flache Sandalen dazu und die Haare gebürstet und sie sah viel frischer aus als noch vor ein paar Minuten. Er war so frech und sehr von sich überzeugt.

      Jan hatte unten, an der Treppe, auf sie gewartet und war ziemlich sprachlos, als er sie herunterkommen sah. Hey, sie war echt hübsch, dachte er. Ihr goldblondes Haar trug sie offen und das Kleid war kurz und zeigte ihre hübschen Beine. Bisher hatte er sie nur in Kostümen oder Jogginganzug gesehen. Er musste sie wohl ein wenig zu lange angestarrt haben, denn sie reagierte mit einem bösen Blick.

      „So, dann lass uns los“, versuchte er die Situation zu überspielen und warf noch einen Blick auf ihr Dekolleté.

      Sie saßen nebeneinander auf dem Boden und ließen die Beine über den Rand der Landungsbrücke hängen.

      „Ich bin als Kind gerne hergekommen“, sagte Anne. „Ich habe immer gedacht, man könnte mich morgens hier absetzen und mich abends abholen und ich hätte den schönsten Tag meines Lebens gehabt.“

      „Ich war letztens schon hier und ich fands auch echt cool.“

      Sie schwiegen und Anne schloss die Augen und atmete die klare, reine, salzige Seeluft ein. Es wurde schon dunkel und trotzdem die Strandpromenade gut besucht war, waren sie hier ganz alleine. Später würden sich hier die verliebten Pärchen niederlassen, eng umschlungen, mit Blick auf das Wasser, in dem sich die Sterne und der Mond spiegelten, aber jetzt gehörte dieser Platz ihnen.