Lillie F. Leitner

RUNNING


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auf den Tisch legen, und gut wäre es? Da würde man schon eine Regelung finden.

      Karl versteht nur Bahnhof. Er hat wenig Lust, sich das unsortierte Gequatsche weiter anzuhören.

      Abrupt steht er auf und schiebt den Stuhl zurück.

      Michaela hat gerade erneut Luft geholt, um weiter zu reden, macht jetzt den Mund wieder zu.

      Karl greift sich einen umherliegenden Kassenzettel von irgendeinem Einkauf, holt einen Stift vom Küchenschrank und schreibt auf: „5.000 Euro.“ Darunter schreibt er das Wort ‚WANN‘, malt ein Fragezeichen dahinter und unterstreicht es zwei Mal. Den Zettel schiebt er Michaela hin.

      Sie schluckt, nickt, erwidert leise: „Morgen. Morgen Abend?“, fügt sie mit fragendem Unterton hinzu.

      Karl nickt, brummt zustimmend.

      Er dreht sich um und verlässt den Raum, zieht seine alten, abgetragenen Schuhe an, greift nach seinem alten Parka, den er trotz Michaelas Protesten seit einigen Tagen wieder trägt, und schnappt sich den Schlüssel. Durch den Türspalt wirft er einen Blick zurück, sieht Michaela dort in der Küche zusammengesunken am Tisch sitzen. Sie hat ihre Brille abgenommen und vor sich hingelegt; den Kopf hat sie in die eine Hand gestützt, während sie mit einem Finger der anderen die Muster der Tischdecke nachzeichnet.

      Fast tut sie ihm leid, so als Häufchen Elend, wie sie da kauert. Aber – pfffff! − soll sie sich mal nicht so anstellen! Schließlich verlangt er nur, was ihm gehört. Sie hätte die Verwaltung seines Geldes ja nicht übernehmen müssen, wenn es ihr zu viel war.

      Karl verlässt das Haus.

      Unterschiedlichste Emotionen bewegen ihn, unterlegt von dem sicheren Gefühl, dass hier etwas schief gelaufen war. Wie war das denn noch damals, in dem Amt zusammen mit dem Rechtspfleger und − ja, was waren das noch für Leute gewesen? Er kann sich nicht genau erinnern. Hat er was unterschrieben? Bestimmt – aber was? Oder hat er nicht? Er weiß es nicht mehr.

      Aus alter Gewohnheit läuft Karl aus der Stadt hinaus, Schritt für Schritt gegen all seine Gefühle und Erinnerungen an. Die regelmäßigen Bewegungen beruhigen ihn und versetzen ihn in einen tranceartigen Zustand; kaum nimmt er wahr, wo genau er sich befindet. Er läuft und läuft, Stunde um Stunde, instinktiv biegt er hier ab, dann dort, schlägt eine andere Richtung ein, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Würde er im Kreis laufen, es wäre ihm auch egal − vielleicht tut er ja genau das.

      Es muss ungefähr halb fünf sein, als es heller wird. Die Sonne geht auf. Karl läuft am Zoo vorbei bis hinunter zum Aasee. Er setzt sich auf eine Bank und sieht den Schwänen beim Gleiten zu. Alles ist still, bis auf die Dieselmotoren der Müllfahrzeuge, mit denen die Müllsammler rund um den See unterwegs sind. Der Aasee ist sommers wie winters Münsters beliebtester Erholungsort. Hier ziehen Jogger ihre Runden, alte Menschen spazieren genauso gern am Ufer entlang wie junge Leute; im Sommer hinterlassen hunderte von Besuchern täglich die Reste ihrer Grillvergnügen auf Wiesen und Wege verteilt.

      Spätabends, wenn die meisten schon gegangen sind, kommen die ‚Abräumer‘. Das sind die, die mit zahlreichen Plastiktüten auf Einkaufskorbwagen und Fahrradanhängern Pfandflaschen und -dosen einsammeln, um sie an der nächsten Tankstelle gegen eine Flasche Fusel oder Zigaretten einzutauschen. Das, was liegen bleibt, heben morgens die Müllwerker auf; sie leeren auch die überquellenden Abfallkörbe.

      Karl ist überhaupt nicht müde. Er befindet sich in einem Schwebezustand, lässt Geist und Seele über das vom Wind leicht gekräuselte Wasser gleiten.

      Ausgepowert von seinem langen Marsch ist sein Willen nicht mehr sehr widerstandsfähig, mehr und mehr breitet sich eine merkwürdige Schwere in ihm aus. Er weiß nicht genau, wie ihm geschieht. Heisere Wärme steigt in ihm empor; plötzlich hört er krächzende, gurgelnde Laute. Er versteht nicht − erst, als er innerlich verkrampft und sein Körper zu schütteln beginnt, merkt er, dass diese Geräusche von ihm selbst kommen. Er kann seinen Körper nicht beherrschen, krächzt und schluchzt, am liebsten würde er schreien, bringt aber keinen Ton heraus. Er will aufspringen und laufen, aber seine Knie sind weich und folgen dem Impuls nicht. Karl zieht die Beine nach oben auf die Bank und umschlingt sie mit den Armen, rollt sich zu einer Kugel. Wie ein Kind fühlt er sich, hemmungslos schluchzend.

      Erst als das Schütteln abebbt und sein Körper nach einer gefühlten Ewigkeit allmählich zur Ruhe kommt, bemerkt er, dass sein Gesicht und Bart tränennass sind. Mit dem Ärmel fährt er darüber, reibt mit dem T-Shirt seinen Bart trocken.

      „Na, kannste nich schlafen?“ Jemand setzt sich zu ihm auf die Bank.

      Langsam kehrt Karl zurück in die Gegenwart. Die Schwäne gleiten nicht mehr, sie schäkern miteinander. Die Müllwerker haben ihre Arbeit für heute beendet und sind verschwunden; erste Jogger drehen ihre Morgenrunde.

      „Lange nich gesehen! Man munkelt ja, du wohnst jetzt wieder feste?“

      Mit einem kurzen Seitenblick hat Karl seinen Sitznachbar identifiziert, danach schaut er wieder geradeaus aufs Wasser. Er sagt nichts.

      „Mann, kannste nich mal ‘n Wort sagen? − Ach nee, kannste nich. Kannste nich oder willste nich?“

      Karl schüttelt leicht den Kopf, ein halbes Lächeln auf dem Gesicht. Er mag Bernhard gern. Trotzdem will er jetzt keinen weiteren Sprechversuch unternehmen. Kurz kommt ihm der Gedanke, dass Bernhard an jenem Abend ja auch da war, an dem Abend, als Finch umgebracht wurde. Aber weiter denkt Karl nicht.

      „Isses denn wahr? Wohnste jetz in ‘nem Haus?“

      Karl nickt kurz und steht auf. Er sieht Bernhard an, nicht unfreundlich. Nickt nochmals, geht davon. Er kann spüren, dass Bernhard seine Schritte mit Blicken verfolgt; bestimmt holt er jetzt den Flachmann aus seiner Jacke und nimmt einen Schluck. Bernhard hat immer einen Schluck für zwischendurch.

      Karl lächelt. In diesem Moment hätte er sein Leben auch gern reduziert auf die einzige Sorge, wo der nächste Schluck her kommt.

      Punks

      Karl und David sitzen friedlich im Wohnzimmer am Esstisch. Beide haben eine Kaffeetasse neben sich, an der sie ab und zu nippen; wie ein altes Ehepaar teilen sie sich eine Zeitung. Es ist fast Abend, ein friedlicher Tagesausklang.

      Draußen dreht sich ein Schlüssel im Schloss. Michaela kommt nach Hause. Durch den Türspalt sieht man, wie sie im Flur ihre Tasche abstellt, und ihre Jacke, die sie wegen der Hitze über den Arm gelegt hatte, auf einen Bügel hängt.

      „Habt ihr schon den Tisch gedeckt?“

      David springt wie elektrisiert auf, rennt in die Küche und verfällt in hektische Aktion. Karl guckt hoch von seiner Zeitung und beobachtet ihn amüsiert.

      Michaela kommt herein, sie öffnet einen Schrank und deckt Teller und Besteck auf, während David in der Küche am Herd hantiert.

      „David, bring doch mal das Wasser mit aus der Küche! Karl, guck mal, da im Schrank sind die Gläser − bist du so lieb?“

      Karl blickt erstaunt auf. Belustigt steht er auf, legt die Zeitung weg, tut, was Michaela verlangt hat.

      Während David Brot, Wein, Wasser und Weiteres auftischt, setzt Michaela sich hin. Sie sieht schlecht aus. Mit dunklen Ringen unter den Augen wirkt sie angestrengt und müde; ihre Stimme klingt heute besonders hoch und keifend.

      David hingegen ist jetzt ganz ruhig geworden, er behandelt sie verständnisvoll.

      Karl beobachtet neugierig.

      „Willst du noch Wein?“, fragt David Karl.

      Der schüttelt verneinend den Kopf.

      Michaela, die sich angesprochen fühlt, schiebt ihr Glas rüber.

      „War‘s anstrengend heute?“ David schenkt Michaela das Glas voll.

      Michaela nickt, sagt dann zu Karl gewandt: „Genieß einfach die Zeit, die du jetzt noch frei hast. Genieß den Sommer, genieß das Leben! Irgendwann wirst du wieder arbeiten, dann bist du drin