Lillie F. Leitner

RUNNING


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auch ihre guten Seiten. Jedenfalls ist Karl vor einigen Wochen aus irgendeinem Grund im Krankenhaus gelandet, und von da aus hat sie ihn zu sich nach Hause geholt. Man sagt, sie kümmere sich rührend um ihn.“

      „Das kann man von einer Schwester ja wohl auch verlangen! – Und? Hat sich Karls Zustand jetzt gebessert?“

      Manfred zuckt die Schultern.

      „Keine Ahnung. Man erzählt, dass er jetzt wenigstens wieder drinnen schläft und nicht mehr umherirrt. Und dass er sauber gekleidet ist. Ich glaube, ich werde ihn mal anrufen.“

      „Wie willst du mit jemandem telefonieren, der nicht spricht?“

      „Auch wieder wahr.“

      Max guckt auf die Uhr und springt auf.

      „Meine Güte, ich muss los! Fred, es war schön, dich zu sehen! Lass uns in den nächsten Tagen mal telefonieren, ja!“

      Manfred nickt.

      „Du kannst das Tablett stehen lassen, wenn du‘s eilig hast, ich räum‘ es weg. Viel Erfolg!“

      „Fred, auf dich ist Verlass. Danke! Ist dir schon mal aufgefallen, dass auf die Dicken immer Verlass ist?“

      Spricht‘s, während sie sich ihre Sachen unter den Arm klemmt, rennt los, bringt fast einen Hungrigen, der vorsichtig ein voll beladenes Tablett vor sich her trägt, zu Fall, und verschwindet mit Schwung aus der Tür.

      Manfred sieht ihr kopfschüttelnd nach.

      „Auf die Dicken ist immer dann Verlass, wenn‘s was zu essen gibt“, murmelt er, und macht sich über Max‘ unbeachtet stehen gebliebenen Nachtisch her.

      Es ist sehr früher Morgen, lange bevor das Leben im Haus erwacht. Auf dem Rückweg vom Bad in sein Zimmer fällt Karl auf, dass die Tür zu Michaelas und Davids Schlafzimmer, schräg gegenüber von seinem, ein Stück offen steht. Das ist ungewöhnlich.

      Dies ist ein ordentliches Haus, in dem alle Türen stets ordentlich geschlossen sind. Unwillkürlich beugt er sich etwas zur Seite, um einen Blick hinein und auf das Bett zu werfen – erstaunlich: leer. Das Bett gemacht und mit einer Tagesdecke zugedeckt, wie zu Omas Zeiten. Das ist merkwürdig, Nachtschicht arbeiten die beiden doch üblicherweise nicht.

      Karl zieht sich an und geht im Dämmerlicht leise die Treppe hinunter. Auch unten findet er alles halbdunkel und leer. Straßenlaternenlicht fällt durch Fenster und beleuchtet die eine oder andere Ecke. Kein Mensch da.

      Er steigt die nächste Treppe hinab in den Keller, späht dort in jeden Raum. Hier unten ist der Waschkeller, wo auch Davids Bügelbrett steht. David bügelt seine Hemden immer selbst; Michaela hat sich schon oft darüber lustig gemacht, dass kein anderer ihm das ordentlich genug machen kann.

      Karl betrachtet das Bügelbrett und das daneben stehende Sammelsurium an ‚Wundermitteln‘: verschiedene Sprühstärkedosen, farblose Flüssigkeiten in Sprühflaschen, die akkurat mit Begriffen beschriftet sind, die Karl noch nie gehört hat.

      Das ist schon einer, der David. Aber hier ist er jetzt nicht, und auch nicht in einem der anderen Räume.

      Als Karl die Treppe wieder hinaufsteigt, bleibt er plötzlich stehen. Hat er das richtig gesehen?

      Ein weiterer Blick in den Kellerraum zeigt es: Die Kartons sind weg! Alle! – Wie viele waren es gewesen, vielleicht 30 Stück, oder 40? Alle weg. Was ging hier vor?

      Karl schleicht wieder hinauf und klopft an eine weitere Tür, an die von Davids Büro. Keine Antwort. Er macht den Versuch, wohl wissend, dass David hier immer abschließt: Jetzt ist die Tür offen. Das Zimmer ist leer. Er guckt sich um, diesen Raum hat er bisher nur kurz und flüchtig durch den Türspalt gesehen. Da hatte David an seinem Schreibtisch gesessen, den Rücken zur Tür, tief gebeugt, hoch konzentriert auf irgendetwas.

      Die Rollläden sind im ganzen Haus nicht herunter gelassen. Auch das ist außergewöhnlich. Draußen wird es langsam hell, die Straßenlaternen brennen noch. Ihr Licht fällt auch hier herein, projiziert das Muster der Gardinen an Wände und Decke – Quadrate? Tatsächlich: In diesem Raum haben die Gardinen ein quadratisches Muster.

      Karl tritt zum Schreibtisch, knipst die Schreibtischlampe an. Der Tisch ist übersät mit geöffneten Büchern, Zeitschriften, mit kopierten Zetteln und jeder Menge Kleingedrucktem. Es handelt sich um Schriften und Literatur über Sozialismus und allerhand politisch-philosophisches Zeug, „Die Freiheit in der Gleichheit“ heißt es da, „Kampf dem Klassenfeind“, und Ähnliches mehr.

      Karl nimmt an, dass David versucht, seine Vergangenheit zu sortieren. Neu ist das Zeug jedenfalls nicht. Er macht das Licht wieder aus – und gleich wieder an, um einen Blick auf die Bücher in den Regalen zu werfen.

      Es ist eine ganze Bibliothek, die sich über zwei Wände erstreckt. Dort steht ganz klassisch „Das Kapital“ von Karl Marx, ein Monumentalwerk aus alten Zeiten, vertreten sind auch Hegel, Nietzsche, all die alten Jungs in ebenso alten, reichlich abgegriffenen gebundenen Ausgaben.

      Das zeugt immerhin davon, dass jemand wirklich darin gelesen oder wenigstens das eine oder andere Mal etwas nachgeschlagen hat. Der größte Teil der Sammlung besteht aus alten Bänden ihm größtenteils unbekannter Autoren, nach Karls Schätzung alles aus DDR-Zeiten und ebendort herausgegeben.

      Karl schaltet die Deckenlampe ein, das muss er genauer wissen. Er erkennt die billigen real-sozialistischen Einbände, meist in Klogrün oder Braunbeige, marmoriert oder schmucklos uni gehalten. Einige Stichproben bestätigen seine Annahme: Herausgegeben in Leipzig, 1966 und darum herum, dann ein neueres Werk, 1983, ach Mensch, die gesamte sozialistische Genossenliteratur scheint hier versammelt zu sein.

      Karl greift sich Bücher ihm völlig unbekannter Autoren. Blättert mal hier, mal da – nichts lädt ein zum Weiterlesen, es reiht sich Phrase an Phrase, gespickt mit Schlagwörtern. Er fragt sich ernsthaft, welches vermutlich leidende Hirn das hier nicht allein lesen, sondern dem auch noch einen Sinn entnehmen soll.

      Drei lange Regalbretter sind gefüllt mit Ordnern, sortiert in verschiedenen Farben, mit Bleistift akkurat beschriftet nach Themen: „Sozialismus kontra Kap.mus“, steht da. Oder: „Schriften gegen den Klassenfeind – von E. Winter“. In den Ordnern finden sich umfangreiche Loseblattsammlungen, fein säuberlich nach Tendenz und Erscheinungsdatum sortiert, pingelig kopiert und archiviert. Was will David wohl mit diesen Altpapierstapeln – eine Zweigstelle fürs Museum aufbauen?

      Kopfschüttelnd und unangenehm berührt, löscht Karl erneut das Licht. Er verlässt das Zimmer. Fast hätte er gehustet von dem verstaubten Kram. Womit Menschen sich so beschäftigten ... und auch noch stundenlang! Er muss David bei Gelegenheit mal fragen, was er mit dieser Sammlung anfangen will. Und was es mit den Kartons auf sich hat.

      Es ist wirklich irgendwie komisch, wie wenig er David kennt. Er weiß kaum etwas über ihn, außer dass er als Buchhalter in einer Spedition arbeitet – oder was für ein Laden war es noch? Er sieht Davids Gesicht vor sich – fein geschnittene Züge, große Brille, darüber ein Busch üppiger rötlicher, langsam ergrauender Haare, der – je nach Tageszeit – mehr oder weniger wüst in alle Richtungen absteht. Zu jeder Zeit gut rasiert und gut gepflegt, der Schnäuzer immer in Form, das ist auffällig. Was verbarg sich wohl hinter diesem Gesicht?

      Je länger Karl darüber nachdenkt, desto klarer wird ihm, dass er absolut nichts über seinen Schwager weiß. Und – wenn er ehrlich ist – auch nicht allzu viel über seine Schwester. Wohl kennt er ihre Art, die ihm seit eh und je kräftig auf die Nerven geht. Wer hier im Haus die Hosen an hat, ist jedenfalls klar, hier kriegt der sanfte David keine Schnitte. So ist Michaela nun mal, so war sie immer schon, eine Chance auf Änderung scheint mikroskopisch gering.

      Was sie dachte, sagte sie nicht, und er hatte sich nie die Mühe gemacht, sie zu fragen. Sie war immer seine „kleine“ Schwester gewesen, praktisch veranlagt und geistig flach. Warum hätte er je über sie nachdenken sollen?

      Unten auf dem Küchentisch findet er einen Zettel: „Sind