Lillie F. Leitner

RUNNING


Скачать книгу

      Verkündet Herr Chang und steht aus seinem Sessel auf.

      Bevor Max noch etwas erwidern kann, ist er mit seinem Geschwader schon an der Tür.

      Max hat sich ebenfalls erhoben.

      „Dann mal alles Gute, Herr Chang“, ruft sie ihm nach, während die Tür zuklappt, und kehrt kopfschüttelnd an ihren Schreibtisch zurück.

      Das wird ein interessanter Tag, wenn es so weiter geht.

      Schade. Gern hätte sie den Boss der chinesischen Unterwelt in Münster verteidigt, das hätte ihr bestimmt gute Publicity eingebracht. Andererseits: Die Strafe würde saftig ausfallen, von einem Freispruch gar nicht zu reden. Sie hatte den Mann nur unter erhöhten Auflagen vorübergehend frei bekommen. Für einen schlechten Prozessausgang würde sie vielleicht auf andere Weise büßen müssen – man konnte nie wissen, was diesen Leuten alles einfiel. Deswegen konnte man auch nicht genau sagen, ob es gut oder schlecht war, ein Mandat zu verlieren. Und wenn der Mandant sich erst mal entschieden hatte, den Verteidiger als Feind statt als Freund zu betrachten, war sowieso nicht mehr viel möglich.

      Max sagt sich, dass dies eine positive Wendung sei, und wer weiß, was ihr erspart bleibt. Denn egal, wie sie es findet: Es ist sowieso nicht zu ändern. Sie tippt eine Anweisung für ihren Sekretär ins iPad: „Rechnung für Herrn Chang fertig machen, die üblichen Gebühren, das volle Honorar bis heute berechnen und noch 500 € hinzuaddieren.“

      Die Rechnung nicht zu bezahlen, würde er sich wahrscheinlich nicht erlauben.

      Karl öffnet die Augen. Zimmerdecke und Wände bewegen sich.

      Genauer betrachtet, sind es die Schatten der Gardinen, mit denen seine Schwester das Haus im Allgemeinen und dieses Zimmer im Besonderen ausgestattet hat. Sie bauschen sich im Luftzug, der durch das geöffnete Fenster kommt. Jedes Mal, wenn ein Windstoß hereinweht, tanzen Kringel an der Wand.

      Während Karl das lautlose Gleiten dort oben beobachtet, steigt ein schüchternes Wohlgefühl in ihm auf. Nicht schlecht, in einem Bett zu liegen, das nach frisch gewaschenen Laken riecht und aus dem einen keiner vertreibt, in einem Haus, das frühmorgens nicht geräumt werden muss.

      Irgendwie ist es auch merkwürdig: Erwachen im Jugendzimmer seines Neffen, der, hier längst ausgezogen, das Zimmer einer Wohngemeinschaft in derselben Stadt bewohnt. Der legt jetzt wohl keinen Wert mehr auf Übernachtungsmöglichkeiten im Hause seiner Eltern. Dieser Umstand kommt ihm, Karl, zugute. Ob das eine glückliche Fügung ist – man weiß es nicht.

      Karl kämpft sich hoch, versucht, den schrillen Schmerz in seinem Kopf zu ignorieren. Wie spät es wohl ist? Er sieht an sich herunter, entdeckt sich im gestreiften Pyjama mit viel zu kurzen Ärmeln und Beinen – der gehört bestimmt seinem Neffen. Oder seinem Schwager? Egal. Karl schaut sich um. Wo zur Hölle sind seine Sachen?

      Nichts davon in Sichtweite – bestimmt hat seine sauberkeitsfanatische Schwester sie erst mal zum Desinfizieren gegeben. Nun gut. Dann muss es auch ohne gehen.

      Als er die Treppe herunter kommt, sieht er durch eine halb geöffnete Tür den braunen Haarschopf seiner Schwester neben ihrem Mann am Frühstückstisch sitzen.

      Ihn bemerkend, springt sie auf und äußert ein schrilles Geräusch, das in seinem Schädel grässlich widerhallt.

      „Oh, nein! Du solltest doch liegen bleiben!“, intoniert sie durchdringend.

      Karl verzieht das Gesicht. Hat sie schon immer diesen hoch keifenden Tonfall gehabt?

      „Ich hätte dir dein Frühstück schon noch gebracht ... Ich war bloß noch nicht so weit ...“, rechtfertigt sie sich und springt auf.

      Er brummt, in der Hoffnung, sie werde endlich schweigen. Diese Stimme ist mehr, als er glaubt, seinem Schädel in dieser morgendlichen Verfassung zumuten zu können.

      Doch aus der benachbarten Küche tönt es weiter:

      „Du sollst aber noch nicht aufstehen, der Doktor hat gesagt, du sollst mindestens noch drei Tage im Bett bleiben ...“ Sie verstummt, da er sich einen Stuhl greift, um sich mit an den Tisch zu setzen. Schon kommt sie mit einem weiteren Gedeck herbeigeeilt.

      „Dü host sischer Hüngor“, knödelt der sächsische Großvater, den Michaela geehelicht hat. Mann – der Dialekt kann einem glatt die Schuhe ausziehen! Wenn man denn welche hätte.

      „Kreif zü!“, fordert der Sachse ihn auf und haut ihm wohlwollend auf die Schulter.

      Obwohl ihm ein scharfer Schmerz durch den Kopf schießt, nickt Karl, während er versucht, sich den sächsischen Sprachgebrauch in eine normal erträgliche Umgangsform umzudenken. Das ist nicht einfach. Karl greift nach der Kaffeekanne. Hunger hat er nicht, aber heißer Kaffee wird ihm gut tun.

      „Hast du schon überlegt, wie es weitergehen soll mit dir?“, geht Michaela gleich in die Vollen.

      „Nü moch obor mol ´n Pünkt!“, kommandiert zügig der Sachse, „er ist doch gerode erst wach gewor‘n. Erst mal ‘n gütes Frühstück, dann sieht de Welt schön gonz onders aüs“, wendet er sich Karl wieder zu.

      Karl seufzt. ‚De‘ Welt. Sein Gehirn gewöhnt sich schön langsam an die Simultan-Übersetzungsleistung.

      Karl schlürft langsam den Kaffee. Laut.

      Seine Schwester holt Luft um ihn dafür zu rügen, anscheinend aber hat der Sachse ihr vors Schienbein getreten. Sie klappt den Mund wieder zu.

      Der Sachse eröffnet ein lockeres Gespräch mit seiner Frau über den zu erwartenden Tagesverlauf, wer wann was einkaufen werde und vor allem wo, und wann er wieder nach Hause komme.

      Karl – dankbar, in Ruhe gelassen zu werden – nimmt seine Umgebung in gründlicheren Augenschein. Gott, was ist das alles so niedlich hier! Schon die Tisch-Deko mit Rüschen und Schleifen und auch sonst allerhand Tüdelü. Offensichtlich geht seine Schwester nicht mehr arbeiten und hat reichlich Zeit, um rosafarbene Blumen in selbst bemalte Blumentöpfe zu pflanzen – nun ja, das ist Geschmacksache.

      Oups – ein Irrtum: Gerade spricht sie davon, dass sie pünktlich im Büro sein müsse, und beginnt, den Tisch abzuräumen.

      „Du kommst doch klar?“, wendet sie sich an ihn. „Am besten, du legst dich wieder hin. Musst ja erst mal ganz gesund werden“, versucht sie, ihren Fauxpas von vorhin wieder auszubügeln.

      Er nickt.

      Tatsächlich hat er keine Idee, was er anderes tun soll. Und tatsächlich fühlt sich sein Kopf so an, als täte Ruhe ihm gut. Wo soll er auch hin ohne Klamotten.

      Er will gerade an sich herunter zeigen und ein fragendes Gesicht aufsetzen, als er spürt, wie der Kaffee sich langsam seinen Weg zurück nach oben bahnt. Keine Zeit für Rücksichtnahme, er springt auf, rast mangels näherer Ortskenntnisse in die Küche, die er durch eine offen stehende Tür entdeckt, und erbricht sich mit Schwung in die Spüle. Ungeachtet dessen, dass darin noch Geschirr steht – er hat keine Wahl.

      Ein saures Nachbeben kriecht ihm vom Magen her nach oben. Mit der Entkrampfung breitet sich ein träger werdendes Gefühl in seinem Bauch aus.

      Er erspart sich den weiteren Anblick und damit die Reaktion der Anwesenden, dreht sich um und wankt mit wackeligen Knien den Weg zurück durchs Esszimmer, vorbei an den großen Augen seiner Verwandtschaft, durch die Tür ins Treppenhaus nach oben.

      Durch die offen gebliebene Tür beobachten Michaela und David stumm die nackten Füße, die über den Teppichläufer nach oben steigen.

      Gott sei Dank hat er die Zimmertür offen gelassen, sodass er jetzt nicht lange überlegen muss, wo das Bett steht. Er schließt die Tür hinter sich und schlüpft einfach in die Laken. Die Trägheit, die jetzt auch seine Beine und den restlichen Körper ergreift, fühlt sich angenehm an: Umgehend schläft er ein und begibt sich – sicherheitshalber – erst einmal auf eine andere Ebene in eine andere Wirklichkeit.

      Michaela