Lillie F. Leitner

RUNNING


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war der Möbelberg da noch doppelt so groß. Alles neue Sachen. Jetze is nur noch der ganze Müll übrig.“

      Beide beobachten, wie der Mann mit dem leeren Handkarren zurückkommt und einen kleinen Schrank und eine Stehlampe auflädt. Mit lautem Quietschen rollt er seine Beute davon.

      „Un‘ rechts dane’em“, David weist mit dem Kopf hinüber, „rechts dane’em wohnen de Russen. Oder de Polen, weeß nisch jenau. Der sitzt den ganzen Tag im Garten un‘ poliert de Blumentöppe. Hat wohl nüscht zu tun, der Mann.“

      Karl nickt.

      „Un‘ weeßte, was das Komischste is. Die ham de tollsten Holzgartenmöbel uff de Terrasse stähn. Jedes Frühjahr wer’n se neu lackiert. Aber immer n Schutzbezug aus Plastik drüber. Sitzn tün se üff de Füßbonk. Zum Roochen.“

      Ein Sperrmüllwagen fährt vor, Sperrmüllmänner laden Sachen ein. Wenn genug eingeladen ist, drückt einer auf einen Knopf, und das Mahlwerk mahlt alles klein.

      „Uuuuuh! Das klingt wie Knochenknacken, wie? Unangenähm.“

      Karl nickt langsam. Dreht sich um und geht.

      David steht am Fenster und schaut.

      Karl lebt ohne Zeit, eine Uhr besitzt er nicht. Er orientiert sich an den Geräuschen im Haus. Morgendliches Wasserrauschen bedeutet, es ist ungefähr 6 Uhr – David duscht. Nachfolgendes Geklapper aus der Küche und weiteres Wasserrauschen – es ist 6.30 Uhr: Michaela duscht, während David das Frühstück zubereitet. Auf abendliches Wasserrauschen ist hingegen kein Verlass, abends sind die Duschzeiten variabel.

      Küchengeräusche und Dunstabzugshaube am Nachmittag heißt 17.30 Uhr: Einer von beiden bereitet das Abendbrot. Auf- und Zuklappen der Zimmertür nebenan: entweder 19 oder 21 Uhr, denn nebenan ist Davids Büro, in das er sich allabendlich zurückzieht. David macht sich nichts aus Fernsehen.

      Wenn morgens mit leisem Sirren das elektrische Garagentor hochfährt, ist es 7.30 Uhr. Michaela steigt auf ihr Fahrrad, David setzt sich in seinen auf Hochglanz polierten Mercedes und fährt davon. Automatisch schließt das Garagentor mit dem gleichen Sirren.

      Anschließend ist Ruhe im Haus, Karl entspannt sich. Oft schläft er dann erst richtig fest ein. Heute Morgen jedoch ist er wach. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und starrt an die Decke, wo Kreise tanzen – das herein flutende Sonnenlicht wirft Schatten des Gardinenmusters. Frische Luft strömt durch das gekippte Fenster. Karl bemerkt zum ersten Mal seit Wochen, wie gut das riecht, es riecht nach Sommer.

      Von der Straße her hört Karl leise Geräusche, und von ganz weit her das Dröhnen eines Rasenmähermotors. Da ist jemand früh draußen aktiv.

      Karl hört auch, wie der Müllwagen in die Straße einbiegt und anhält, das Brummen der Hebeautomatik und das Klappern der Tonnen, die zur Entleerung gekippt werden. Karls Blick fällt auf seine neuen Sachen, die Michaela ihm zum Anziehen gekauft hat. Gestern Abend hat er sie ordentlich gefaltet und auf den Stuhl gegenüber seinem Bett gelegt, die Hose über die Lehne gehängt. Unter dem Stuhl stehen akkurat nebeneinander die neuen Schuhe. Die sind bequem und passen wie angegossen, sehen jedoch mit ihrer obenauf umlaufenden Naht scheußlich aus.

      So ist Michaela: Praktisch und gut, aber ohne Geschmack und Feingefühl.

      Karl springt aus dem Bett und läuft so wie er ist – ungewaschen und ungekämmt mit wilder Haarmähne, nur mit dem gestreiften Pyjama bekleidet – die Treppe hinunter und aus dem Haus. Sorgfältig achtet er darauf, dass die Tür nicht hinter ihm zufallen kann; schon steht er barfuß an der Straße bei den Mülltonnen.

      In der grauen Tonne findet er seine Sachen, die Michaela ohne Zögern und ohne zu fragen entsorgt hat. Er zieht seine braune Cordhose heraus, seinen Parka und das Sweatshirt. Für seine Schuhe muss er tiefer schaufeln; er findet sie unter allerhand Hausmüll begraben. Sein zugegebenermaßen löchriges T-Shirt stopft er zusammen mit dem anderen Müll, der ihm entgegengekommen ist, wieder in die Tonne hinein. Rasch trägt er seine Beute zurück ins Haus, schließt die Tür hinter sich.

      Im Parka und in den Hosentaschen sind noch all seine Schätze verborgen – Michaela hat alles achtlos weggeworfen. Karl legt seine Sachen auf den Esstisch: Seine Haarbürste, der Nagelknipser, Taschenmesser, einige Gummibänder, und weitere Dinge, die er stets bei sich hatte. In der Innentasche des Parkas findet er sogar noch einen zusammengefalteten 20-Euro-Schein – wenn das Michaela wüsste, würde sie sich im Nachhinein noch ärgern, dass sie ihn nicht gefunden hat, geizig wie sie ist.

      Nachdem Karl alles ausgebreitet, sortiert und angesehen hat, bündelt er seine Kleidungsstücke zu einem Knäuel zusammen, bringt sie in den Keller und stopft sie in die Waschmaschine. Er füllt Waschmittel ein und setzt mit wenigen Handgriffen die Maschine in Gang.

      Während die Waschmaschine ihre Arbeit tut, widmet sich Karl seinen Schuhen. Er findet Schuhcreme und bearbeitet gründlich das Leder. Dadurch treten die geborstenen Stellen nur noch deutlicher hervor.

      Als die Maschine fertig ist, gibt Karl seine Sachen in den Trockner und schaltet ihn ein. Danach setzt er sich an den Esstisch, wo das Frühstücksgedeck für ihn noch steht, und schenkt sich Kaffee aus der Thermoskanne ein. Er frühstückt und, betrachtet er zufrieden seine Sachen, die vor ihm auf dem Tisch liegen. Gerettet.

      Endlich ist auch der Trockner abgelaufen. Karl holt seine alten Kleidungsstücke ans Licht. Sie erscheinen ihm jetzt sauberer. Wenigstens riechen sie besser, wenn sie auch reichlich abgetragen sind. Karl findet sie trotzdem um einiges schöner als die Sachen, die er jetzt tragen soll.

      Während er seine Habseligkeiten zurück in die Taschen räumt, genießt er das Gefühl, dass er – wenn er nur will – diese Sachen wieder anziehen und dieses Haus für immer verlassen kann. Fast fühlt er sich glücklich.

      Zunächst mal faltet er die Kleidungsstücke jedoch ordentlich zusammen. Aus einer Schublade holt er zwei alte, knittrige Plastiktüten; seine Schuhe packt er in die kleinere, die Kleidung in die größere Tüte. Im Keller sucht er und entdeckt auch eine abgelegene Ecke, wo er seine Sachen hinter mehreren Kartons versteckt. Lächelnd geht er die Treppe hinauf, als ihm plötzlich etwas auffällt. Er dreht um, läuft wieder hinunter und betritt erneut den Kellerraum. Was sind denn das eigentlich für Kartons?

      Es mochte ja sein, dass Leute ihre Sachen in Kartons im Keller aufbewahrten – aber dann waren die Kartons nicht so klein, identisch und gleichförmig aufeinandergestapelt.

      Karl schaut die Kartonreihe entlang. Ohne Aufdruck. Selbst das Klebeband, das sie zusammenhält, ist neutral. Und sie sind alle zugeklebt.

      Am Ende sind das Waren aus der Firma, in der David arbeitet – aber das erscheint Karl eher unwahrscheinlich. Ob er mal einen öffnen soll?

      Schon hält er sein Taschenmesser in der Hand. Er setzt es am Packband des ersten Kartons an, der vor ihm steht, sticht hinein – zieht das Messer wieder heraus und lässt es sinken. Was macht er da eigentlich?

      Karl fühlt sich wie ein Einbrecher. Die beiden vertrauen ihm, und er schnüffelt hier herum. Was geht es ihn an, was die zwei in ihrem Keller unterbringen? – Außerdem gibt es bestimmt einen guten Grund und ein logische Erklärung für das, was immer es auch sein mag.

      Kopfschüttelnd verstaut Karl sein Messer. Seine Sachen holt er wieder hinter den Kartons hervor; er wird sie in der Garage unterbringen. Er löscht das Licht und macht die Tür zu.

      Oben räumt er den Frühstückstisch ab, geht in sein Zimmer und legt sich noch mal ins Bett. Über all das möchte er nicht nachdenken. Weil er gut um Verdrängen ist, gelingt es ihm: Er schläft ein.

      Die Handschellen schnappen zu. Während der Angeklagte von den Justizvollzugsbeamten aus dem Gerichtssaal geführt wird, stopft Max eilig ihre Unterlagen in den Aktenkoffer. Es ist Verhandlungspause. Der Magen hängt ihr in den Kniekehlen; sie hat nicht gefrühstückt, und nun geht es auf 13 Uhr zu.

      So schnell wie möglich verlässt sie den Gerichtssaal. Sie setzt