Manu Brandt

Seelenblau


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Sie legte ihre Arme fest um mich. »Mia, Liebes. Ich kann dir jetzt noch nicht alles erzählen. Bitte lass es auf dich zukommen. Es wird dir nichts passieren. Das schwöre ich. Bitte vertrau mir. Hab ein wenig Geduld.« Sie lockerte ihren Griff und nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände. »Ich habe dir versprochen, dass es ein wunderbarer Urlaub sein wird. Und dieses Versprechen werde ich halten. Mensch Mia! Du bist in den Rocky Mountains. Genieß es doch endlich! Die Natur hier ist einfach atemberaubend.«

      Sie hatte recht. Ich befand mich in einer neuen Welt und hatte nichts Besseres zu tun, als nur das Schlechte darin zu sehen. Jeder andere Mensch hätte sich gefreut, einem Bären oder einem Hirsch zu begegnen und hätte ein paar Erinnerungsfotos geschossen. Ich hingehen bekam Panik. Ich löste die Arme von meinem Bauch, damit sich mein Atem beruhigen konnte.

      »Alles ok?«, fragte Lisa.

      Ich nickte. »Zu Hause war einfach zu viel Chaos in letzter Zeit. Dann der lange Flug, der Hirsch, den du fast überfahren hättest und der Bär. So was kenne ich nur aus dem Zoo.«

      Lisa wuschelte mir durch die Haare und lachte. »Na, dann wird es Zeit, dass du die Tiere mal in der freien Natur kennenlernst. Wer weiß, vielleicht verliebst du dich ja in sie.«

      »In die Bären?«

      »In die Natur.«

      Ich lachte. Die Anspannung ließ nach und ich hatte beinahe meine alte Lisa zurück. »Ein Bär wäre eh nicht mein Typ. So pummelig und so …«

      »Kuschelig wie ein Teddybär?« Lisa kicherte. »Welches Tier wäre denn dein Typ?« Neugierig linste sie zu mir herüber und gab endlich wieder Gas. Wir schaukelten weiter über die Straße, an hohen Bäumen entlang und entfernten uns vom Zaun.

      »Ich weiß nicht. Bei jedem Tier mit Fell hätte ich immer Haare im Mund beim Knutschen.«

      Lisa bekam einen Lachanfall, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Angesteckt von ihr musste ich mitlachen. Wir machten unsere Späße, indem wir uns Tiere in der Menschenwelt vorstellen. Wir steckten einen Gorilla in Herrn Riedbergs Hemd und seine Sekretärin verglichen wir mit einer Ziege, die mit Minirock und High Heels herumstolzierte. Manche Prominente tauschten wir gegen Pferde und Papageien aus und so verging die Zeit recht schnell, bis ich zwischen den Bäumen Lichter erkennen konnte.

      Sie blitzten wie goldene Glühwürmchen auf und verschwanden wieder. Je näher wir kamen, desto mehr Glühwürmchen tauchten auf. Gespannt spähte ich in die Dunkelheit vor uns, um etwas erkennen zu können. Wir fuhren einen kleinen Hügel hinauf und blickten von oben herab auf ein winziges Dörfchen. Es bestand aus wenigen Holzhütten, die u-förmig angeordnet waren. An jeder Seite standen acht Hütten. An der Stirnseite befanden sich die größten von ihnen. Vor jeder Hütte brannte eine kleine Laterne. Das gelbe Licht war nicht sehr hell, aber alle Laternen zusammen konnten den Platz in der Mitte ein wenig ausleuchten. Es gab also Strom.

      An der offenen Seite des Dorfes parkten ein paar Jeeps. Genau wie unser Mietwagen sahen sie nicht gerade neu aus. Auch diese Jeeps waren zerbeult und der Lack splitterte an einigen Stellen ab.

      Ganz außen fiel mir jedoch ein anderer Geländewagen auf. Er besaß eine offene Ladefläche und sah nagelneu aus. Er war riesig im Gegensatz zu den Jeeps.

      »Das gehört nicht alles deinem Bruder, oder?«, fragte ich Lisa. In meinem Kopf hämmerte der Sektengedanke wieder an meine Schädeldecke.

      »Nein. Mein Bruder ist ein Teil davon.«

      Ich konnte mich nicht mehr zurück halten. Diese Ungewissheit, was mit mir passieren würde, trieb mich sonst in den Wahnsinn. »Du bringst mich doch nicht etwa in eine Sekte?«

      »Quatsch. Du nun wieder mit deinen Hirngespinsten!« Lisa schnaubte. »Sieht das nicht total romantisch aus?«

      Mir fielen zentnerschwere Steine vom Herzen. Ich ärgerte mich, dass ich überhaupt auf diesen unmöglichen Gedanken gekommen war. Lisa war meine Freundin. Wäre sie in seiner Sekte gewesen, hätte ich das doch gemerkt oder sie hätte es in den Jahren, in denen wir uns kannten, wenigstens mal erwähnt.

      Ja, es sah sehr romantisch aus. Die kleinen Hütten strahlten etwas Uriges und Gemütliches aus. Zum Glück konnte ich nirgends Plumpsklos entdecken.

      »Ich fühle mich hier immer zu Hause. Du wirst es lieben.« Lisa hielt in einer Lücke zwischen den parkenden Autos an – direkt neben dem riesigen Geländewagen. Unser Jeep war wirklich winzig dagegen.

      Ich öffnete die Tür und rutschte vom Sitz. Endlich stehen. Wieder streckte ich mich, während ich das schwarze Monster neben mir betrachtete. Der Lack glänzte. Die Lichter der Hütten spiegelten sich darin wie kleine Sterne. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um in das Fenster gucken zu können. Im Inneren des Jeeps sah alles neu aus. Im Fußraum des Beifahrers lag eine kleine Decke. Die Ladefläche war vollkommen leer. Ich schlich um den Wagen herum, bis ich vor ihm stand. Er hatte eine bullige Front und die Scheinwerfer schauten mich böse an. Ich stemmte die Hände in die Seiten und ließ den Anblick auf mich wirken. Nun hatte ich also nach dem größten Flugzeug auch das größte Auto meines bisherigen Lebens gesehen.

      »Was für ein Schiff«, murmelte ich und schüttelte den Kopf.

      Lisa stellte sich neben mich. »Oh Mann.«

      »Riesig, was?«

      »Schwanzverlängerung«, erwiderte Lisa trocken.

      »Dann scheinst du den Besitzer ja genau zu kennen.« Ich zwinkerte Lisa zu und boxte ihr leicht in die Seite, um sie zu necken.

      »Er war letztes Jahr kurz hier, als ich Jan besucht habe. Im Sommer ist er meistens in Clearwater.«

      Es wunderte mich, dass Lisa bei diesem Thema so sachlich blieb. Normalerweise biss sie gleich an, wenn ich anfing, über so etwas Späße zu machen. »Und? Muss da was verlängert werden?«

      »Keine Ahnung. Ich habe selten mit ihm gesprochen, geschweige denn das Verhältnis zu ihm vertieft. Aber warum sonst sollte Mann sich hier solch ein Auto kaufen?«

      »Du hast selten mit ihm gesprochen? So viele Menschen scheint es hier nicht zu geben, dass man sich aus dem Weg gehen könnte.«

      »Er geht nicht viel unter Menschen. Wir haben hier ein Gemeinschaftshaus. Dort habe ich ihn noch nie gesehen. Er schlich jeden Tag um die Hütten herum, verschwand im Wald und kam abends wieder. Ein komischer Kerl. Aber jetzt komm! Ich habe Hunger und will endlich ins Bett.«

      Ich ließ es gut sein, obwohl ich doch ein wenig neugierig war, was für ein Typ der Fahrer dieses Monstrums war. Wir holten unsere Koffer aus dem Jeep und gingen zu einer der letzten Hütten vor der Stirnseite. Als wir den Platz überquerten, fiel mir der große Stamm auf, der in der Mitte aufgestellt war. Es waren Figuren hineingeschnitzt. Ich konnte leider nicht viel erkennen, da das Licht sehr schummrig war. Nur den Vogel, der ganz oben auf dem Stamm thronte, konnte ich erahnen.

      »Der Marterpfahl?«, fragte ich und griff mir als Scherz an den Hals, als ob ich mich erwürgen würde.

      »Der Pfahl des glücklichen Mannes«, antwortete Lisa streng.

      Ich grinste. »Also ein Phallussymbol?«

      Lisa drehte sich zu mir um. »Ein Symbol für den Mann, der glücklich ist!« Ihre Stimme klang hart, fast verärgert.

      Mir lag schon ein weiterer Spruch auf der Zunge, aber bevor ich ihn los werden konnte, kam jemand mit ausgebreiteten Armen auf uns zugelaufen.

      »Lisa! Endlich seid ihr da. Wir haben uns Sorgen gemacht. Es ist schon spät. Warum hat das so lange gedauert? Hatte der Flieger Verspätung?«

      Der Mann rannte Lisa fast um, als er sie in seine Arme nahm. Er hatte die gleiche Haarfarbe und auch die Locken ähnelten sich. Seine Haare waren nicht so lang wie Lisas, aber lang genug, dass er sie zu einem kleinen Zopf zusammenbinden konnte. Er trug ein blaues Hemd und eine khakifarbene Hose. Die Klamotten waren etwas zu weit, aber von der Länge her passten sie. Er hatte wohl die gleichen Probleme wie Lisa, etwas Passendes zu finden mit seiner schlanken, sehr hochgewachsenen Figur. Er überragte sie sogar noch um einen Kopf. Das war wohl Jan.