war nicht mehr der eines russischen Zaren. Ein erschöpfter alter Mann zog ein letztes Mal in eine nicht zu gewinnende Schlacht. Sein Schwert war aus Holz, das seiner Gegner aus Stahl. Er hatte jedoch keine Wahl. Sein aufgesetztes Lächeln, das uns Kinder ermutigen sollte, war eine offensichtliche Lüge. Angst schnürte mir die Kehle zu. Papa würde uns nicht mehr beschützen können. Das wurde mit klar.
Mama sah mir in die Augen und musterte dann meine Erscheinung. Sie hatte offensichtlich einen Entschluss gefasst. Ein eigenwilliger Funke leuchtete in der Trübnis ihres Blickes auf.
„Geht jetzt bitte!“, forderte sie uns Mädchen auf. Nur den Zarewitsch drückte sie noch fester an sich.
Was sollten wir tun? Wir erhoben uns.
Mama wandte sich unerwartet an mich direkt: „Olga, halte dich bereit. Komm allein in zwei Stunden zu mir. Ich muss noch etwas mit dir zusammen erledigen. Sei pünktlich!“ ...
Als ich nach exakt zwei Stunden zurückkehrte, war sie ganz allein. Auch der Zarewitsch war fort. Im Vorraum standen zehn schwer bewaffnete Kosaken unserer Leibwache mit entschlossenen Gesichtern. Niemand wagte ein Geräusch zu machen. Die Stille war gespenstisch.
Was bedeutete das? Normalerweise hielten sie sich nicht in diesem Teil des Palastes auf.
Ohne ein Wort zu sagen und alle Willenskraft zusammennehmend, erhob Mama sich entschlossen von dem samtenen Sofa, auf dem sie geruht hatte. Ich folgte ihr wortlos. Was sollte ich auch sagen? Die Kosaken eskortierten uns schweigend. Tür für Tür öffnete sich. Wir stiegen tiefer und tiefer. Wohin gingen wir? Noch nie war ich in diesem Teil des Palastes gewesen. Unser Palais war eine der größten Residenzen der Welt.
Zuweilen versuchte eine der dortigen Wachen uns sogar den Weg zu verweigern.
Mama drohte dann: „Ich bin die Zarin! Tritt zur Seite oder du stirbst sofort!“ Unsere Leibwache fasste dann jedes Mal die Gewehre fester. Die Kosaken würden schießen. Man konnte sich auf sie verlassen. Ich stand selbst einem Reiterregiment seit meinem sechzehnten Lebensjahr als Hauptmann vor. Das bereitet mir große Freude und war ein Privileg, welches ich Vater abgetrotzt hatte, nachdem die Besetzung durch die Erkrankung des Zarewitsch vakant war. Zarensöhne erhielten stets ein eigenes Kosakenregiment, um sich als Befehlshaber zu üben. Meine Ernennung war ein Bruch mit der Konvention und zeigte, wie aufgeschlossen mein Vater war. Ich ritt verdammt gern und konnte es inzwischen mit jedem männlichen Rekruten aufnehmen. Einer der Feldwebel trainierte mich sogar in asiatischer Kampfkunst, die er in China erlernt hatte. Vater nahm meine Fortschritte mit Erstaunen zur Kenntnis. Mutter hatte meine militärischen Avancen zuerst abgelehnt, aber bei Ausbruch des Krieges gebilligt. Zumindest kritisierte sie mich nicht mehr.
So drangen wir im Laufe einer Stunde bis in die Gänge unterhalb der sogenannten Schatzkammern vor. Auch hier gab es noch Wachen. Wir kamen zu einem Tunnel, von dessen Existenz wohl nur ganz wenige wussten. Er verlief recht steil nach unten. Wir waren inzwischen so tief, dass ich Furcht hatte, dass die Erdmassen über uns herunterbrechen und uns begraben könnten.
Mama hielt inne und wendete sich der Eskorte zu. „Wenn ihr jemals erzählt, dass ihr hier wart, werden eure Familien sterben!“ So rigoros hatte ich sie nie zuvor erlebt. Für mich war sie immer meine Mama, jetzt war sie die Zarin und zeigte, dass in ihr auch das kämpferische blaue Blut ihrer germanischen Vorfahren pulsierte. Es übernahm in dieser Krisensituation die Regentschaft. Ich musste davon etwas abbekommen haben, gestand ich mir spöttisch ein.
Die Leibwachen zuckten mit keiner Wimper.
Wir kamen nun zu einem Raum, der mit großen Schlössern und einer eisernen Tür verriegelt war. Dort standen erneut zwei bewaffnete Posten.
„Tretet beiseite!“, befahl meine Mutter herrisch und zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche.
„Das dürfen wir nicht!“, beharrte einer der beiden.
„Erschießt sie!“ Die Kosaken senkten die Gewehre, um dem Befehl nachzukommen.
„Nein, wir gehorchen!“, bat der arme Kerl entsetzt mit erschrocken aufgerissenen Augen.
Mama blickte kurz auf unsere Begleiter: „Nehmt ihnen die Waffen, aber verschont sie noch einmal!“
„Widersprich niemals wieder deiner Zarin!“, forderte sie nebenbei.
Der Mann versuchte die Erde zu küssen, die ihre Füße berührt hatten.
„Bitte verzeiht uns!“
Die beiden wurden von unserer Eskorte ihrer Pistolen beraubt. Meine Mutter öffnete den Eingang. Wir traten ein. Alle anderen blieben draußen. Mama schloss sorgsam die Tür hinter uns zu. Was wollten wir hier?
In dem Raum standen vor allem religiöse Utensilien, Ikonen, Leuchter und verstaubte Geschenke von fremden Herrschern aus vergangenen Zeiten. Meine Mutter sah sich um und ging zielstrebig zu einem der Schränke. Sie öffnete diesen, warf die darin enthaltenen Gegenstände achtlos auf den Boden und zog ein geheimes Fach heraus.
„Nur noch zwei! Wo sind die anderen?“ Ihre Stirn kräuselte sich nachdenklich.
„Mama, was ist das?“, fragte ich erschauernd.
Meine Mutter sah mich an.
„Olga, wir werden alle ermordet. Es ist nur eine Frage der Zeit. Rasputin hat sich niemals geirrt. Seine Prophezeiung wird eintreten. Sei bereit! Wenn ich dir dieses Mittel gebe, ist alles verloren. Beiß mit aller Kraft auf diese Kapsel. Sie ist so dünn, dass sie dem Biss nicht standhält.“
Ich verstand gar nichts.
„Mama, du machst mir fürchterliche Angst. Das ist doch alles nur ein böser Traum. Was ist das? Gift?“
„Nein, das Gegenteil davon. Es ist deine einzige Hoffnung auf ein Leben.“
Sie winkte mich ganz dicht heran. Niemand sollte uns hören können. Ihr Mund flüsterte nun in mein Ohr: „Ich sah mit eigenen Augen, dass ein zum Tode Verurteilter, nachdem er erhängt wurde, am nächsten Tag durch diese Medizin erwachte. Man hatte sie ihm zuvor verabreicht. Der Henker musste ihm darauf den Kopf abtrennen und ihn verbrennen, um das Urteil zu vollstrecken.“
„Was ist das für ein Mittel? Was sind das für unglaubliche Geschichten?“
„Sie sind wahr, Olga. Es gibt eben mehr zwischen Himmel und Erde, als wir sehen. Du hast es bei Rasputin und der Heilung des Zarewitsch selbst beobachten können.“
Sie beugte ihren Mund erneut zu meinem Ohr herab und flüsterte so leise, als könnte uns jemand belauschen.
„Es ist das Blut des einzig bekannten russischen Vampirs. Er wurde vor mehreren Hundert Jahren gefangen, hingerichtet und sein Blut aufbewahrt. Da man im Laufe der Zeit immer wieder an der Geschichte zweifelte, testete man es zuweilen an zum Tode verurteilten Verbrechern. Dieses Staatsgeheimnis wurde bis heute bewahrt und von Zar zu Zar weitergegeben. Zuletzt hat man den Rest des verbliebenen Blutes in sieben gläsernen Ampullen versiegelt. Fünf wurden scheinbar schon gestohlen. Ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen.“
„Mama, was verlangst du von mir?“
„Wenn ich dir diese gebe, dann ist alles verloren und wir werden sterben. Zögere in diesem Moment nicht. Vertrau mir! Ich will, dass du lebst. Nimm Rache, dein Vater ist zu schwach dazu! Du bist stark und klug!“
Mama war wohl verrückt geworden. Ich zitterte.
„Was wird Gott dazu sagen?“
„Der?“ Mama lachte blasphemisch. „Er wird es schon verstehen! Der Vampir war doch auch ein Teil seiner Welt!“
Diese neuartige Auslegung unseres Glaubens aus dem Mund meiner Mutter war zutiefst ungewöhnlich. Sie legte ihren Finger auf den Mund – als Zeichen, dass ich schweigen sollte. Die zwei kleinen Kapseln steckte Mama in eine eigens mitgebrachte kleine Tasche. Dann öffnete die Zarin von Russland die Tür.
„Sofern ihr irgendjemanden erzählt, dass ich hier war, sterbt ihr!“, ermahnte sie die verängstigten Wächter. Beide hatten mit ihrem Tod gerechnet.
Wir