Enre Wielem

Die Sonnenstrahlenkinder


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und fragte: "Du hast deinen Katalog wohl schon abgegeben, was!"

      Der Junge nickte langsam.

      Die Drohne brummte etwas Unverständliches und verschwand im Gedränge, um weiter Kataloge einzusammeln. Die Drohne mit der Schubkarre stolperte ihr hinterher.

      Das Sonnenstrahlenmädchen seufzte.

      "Die sind aber streng mit uns!", sagte sie.

      Sie hätte dem Jungen gern noch mehr Bilder gezeigt und vielleicht sogar etwas vorgelesen.

      Der blickte stattdessen einmal kurz nach rechts und einmal kurz nach links. Dann kicherte er fröhlich und lüpfte sein Hemd am Gürtelbund.

      "Schau, was ich habe", gluckste er leise.

      Das Mädchen guckte mit schrägem Hals nach seinem Gürtelbund. Da steckte unter dem Hemd versteckt der Katalog des Sonnenstrahlenjungen. Er hatte ihn einfach behalten.

      Das Sonnenstrahlenmädchen machte große Augen und hielt sich die Hand vor den Mund.

      "Auweia", entfuhr es ihr. "Wenn das die Drohne erfährt, kriegst du Ärger!"

      Der Sonnenstrahlenjunge grinste breit, steckte das Hemd wieder in den Bund zurück und klopfte auf die Stelle, wo der Katalog steckte.

      "Pah, woher soll die Drohne das denn erfahren. Ich mache mich einfach auf die Reise und schon bin ich weg."

      “Oh”, machte das Sonnenstrahlenmädchen verzagt. "Und was ist nun mit der Erde und den Menschen? Vielleicht willst du ja mitkommen?"

      Der Sonnenstrahlenjunge zögerte nicht lange mit der Antwort. Er tänzelte einmal um sie herum und sagte fröhlich: "Du bist in Ordnung! Wenn dich die Erde so sehr interessiert, ist es sicher eine gute Idee.“

      Sie fassten einander an den Händen. Dann atmeten sie noch einmal kurz durch und mit einem leichten Ruck aus ihrem Herzen schwangen sie sich langsam in die Höhe. Entfernten sich immer mehr von den Drohnen, in deren Schubkarren sich die Kataloge häuften. Immer höher schwebten sie. Immer weiter weg von ihrer Mutter Sonne mit all ihren Sonnenstrahlenkindern. Und schon bald waren sie auf dem Weg zur Erde.

       Kapitel 2

      Für einen Menschen ist die Entfernung zwischen Sonne und Erde gewaltig. Für einen Sonnenstrahl ist sie ein Witz. Würde ein Mensch zur Sonne laufen wollen, bräuchte er dafür viele Millionen Jahre. Ein Sonnenstrahl noch nicht mal zehn Minuten. Es dauerte also gar nicht lange, da hatten die beiden Sonnenstrahlenkinder den Erdenhimmel erreicht.

      Sie waren nicht allein. Es herrschte ein Gewühl, wie in einer Wechselstube, wenn der Dollar fällt. Viele Sonnenstrahlenkinder hatten den gleichen Weg gewählt. Und noch mehr Sonnenstrahlen waren aus allen nur erdenklichen, anderen Richtungen aus den Tiefen des Weltalls zur Erde gelangt. Es waren ganz junge Sonnenstrahlen dabei, es waren Sonnenstrahlen in jugendlichem Alter dabei, es waren ernst dreinblickende Erwachsene dabei, die Höflichkeiten austauschten und sich gegenseitig zum Kaffee einluden. Und hier und da tauchte auch einer von jenen Sonnenstrahlen auf, die die Last des Alters auf ihren Schultern trugen.

      Diese Sonnenstrahlenopas waren im halben Universum herumgekommen und einige von ihnen waren tatsächlich so alt wie das Universum selbst. Auch sie hatten einst auf der Sonne in Katalogen geblättert. Hatten den Kopf voller Flausen und Träume und waren schließlich aufgebrochen zu ihrer großen, weiten Reise. Sie hatten das Universum in ihr goldenes Licht getaucht und dabei die fantastischsten Entfernungen zurückgelegt. Tag um Tag, Jahr um Jahr - doch nie hatten sie sich länger als auch nur einen Augenschlag an einem Ort aufgehalten. Kaum angelangt waren sie schon wieder auf und davon, nur noch einen Gedanken entfernt von ihrem nächsten Ziel. In die Jahre gekommen waren sie über die Zeit. Ihr Licht strahlte nicht mehr golden, sondern rot. Ihr Haar glänzte in silbrigem Grau über die vielen Reisen, die sie unternommen hatten. So viel Wissen hatten sie sich angeeignet, dass sie gelegentlich ihr Gedächtnis im Stich ließ. Dann standen sie unschlüssig in den Ecken und überlegten, was sie nun schon wieder nicht wussten. Aber trotz allem hatten ihre Augen nichts von ihrem Glanz verloren. Sie waren hellwach und sprühten vor Tatendrang und Energie. Ganz wie bei den Jüngeren, die diesen alten Veteranen ehrfürchtig Platz machten und sie mit großem Respekt behandelten.

      Die Sonnenstrahlenkinder starrten mit offenen Mündern auf all die vielen Sonnenstrahlen und waren sprachlos. So ein Durcheinander hatten sie auf der Sonne selbst noch nicht einmal gesehen.

      Zwei greise Sonnenstrahlenopas schoben sich ein Stück von ihnen entfernt durch die Menge. Mit Händen und Armen gestikulierend gaben sie einander Zeichen, um sich nicht aus den Augen zu verlieren.

      Einer ging festen Schrittes. Der andere versuchte an Krücken humpelnd mitzuhalten. Der Erste blieb hin und wieder kurz vor einem der vielen Sonnenstrahlenkinder stehen.

      “Mein Name ist Jack”, sagte er dann. “Wer bist du?”

      Dann schaute er dem anderen Sonnenstrahl forschend in die Augen, wechselte kurz ein paar Worte, schob ihn dann aber doch beiseite und stapfte weiter.

      Schließlich entdeckte er das Sonnenstrahlenmädchen und ihren Begleiter.

      “Hey, ihr zwei”, machte sich der Sonnenstrahlenopa an die beiden heran. “Hey, mein Name ist Jack! Ihr seid noch Kinder, was?”

      Das Mädchen und der Junge nickten schüchtern.

      “Hahaha”, lachte der Sonnenstrahlenopa. “Das habe ich mir doch gleich gedacht. Ist eure erste Reise, was?”

      Die beiden Sonnenstrahlenkinder nickten wieder und warfen verstohlene Blicke auf den lachenden Sonnenstrahlenopa.

      Der war aber auch ein Haudegen. Die Füße steckten in schweren Stiefeln, die ausgefransten Hosen wurden von einem breiten Gürtel mit einer glühenden Schnalle gehalten. Das Hemd war bis zur Brust geöffnet. In den Ausschnitt hinein fiel ein feuriges Halstuch, das der Sonnenstrahlenopa im Nacken verknotet hatte. Ein dunkelrotes Stirnband trug der Sonnenstrahlenopa und einen Hut, dessen Krempe er tief ins Gesicht gezogen hatte.

      Die Sonnenstrahlenkinder waren fasziniert von seinem Aussehen, seinen Bewegungen, von seiner rauen Stimme.

      Nur, was wollte dieser Sonnenstrahlenopa von zwei Sonnenstrahlenkindern wie ihnen?

      “Wie heißt ihr zwei?”, fiel es dem Sonnenstrahlenopa ein.

      Die Augen der Sonnenstrahlenkinder wurden noch größer, als sie es ohnehin schon waren. Sie staunten den Sonnenstrahlenopa an.

      “Eure Namen will ich wissen”, drängte der Sonnenstrahlenopa. “Oder habt ihr etwa keine?”

      Das Sonnenstrahlenmädchen schüttelte langsam den Kopf. Der Junge staunte einfach weiter. Nein, Namen hatten sie tatsächlich nicht.

      “Das hatte ich mir fast so gedacht”, sagte der Sonnenstrahlenopa. Kurz seufzte er, dann redete bedächtig weiter.

      “Ich hatte anfangs auch keinen Namen”, bemerkte er. “Aber ihr kommt schon noch dahinter. Denkt euch einfach etwas Hübsches aus, dann habt ihr auch jeder einen Namen. Zum Beispiel ...”

      Er unterbrach sich, denn der zweite Sonnenstrahlenopa hinkte an seinen Krücken hinzu. Er sah genauso abenteuerlich aus wie sein Gefährte, nur hatte das Alter seinen Hüften zugesetzt. Mit dem Laufen wurde es immer beschwerlicher für ihn.

      “Sind sie das, Jack?”, fragte er heiser. Er hob eine seiner Krücken und zeigte mit dem Ende auf die Kinder.

      Jack nickte.

      “Ja, William, das sind sie! Sonnenstrahlenkinder! Kommen geradewegs von Mutter Sonne und haben noch nicht einmal eigene Namen.”

      Die beiden Sonnenstrahlenopas warfen einander einen kurzen Blick zu, dann betrachteten sie mit ernsten Gesichtern die Kinder. Denen brummte inzwischen der Kopf. Hatte der eine Sonnenstrahlenopa schon mächtig Eindruck auf sie gemacht, kam nun noch ein zweiter hinzu und beide benahmen sich merkwürdig. Als ob sie die Kinder