Enre Wielem

Die Sonnenstrahlenkinder


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fragte sie.

      “Genau, was wollt ihr von uns?”, fasste sich auch der Junge ein Herz.

      “Gute Frage. Was, William?”, sagte Jack und grinste.

      “Gute Frage, Jack”, antwortete William. “Die Antwort haben wir wohl hier!”

      Er hatte wieder die Krücke erhoben und zielte damit nach dem Gürtel des Sonnenstrahlenjungen. Ganz gemächlich, ohne Hast, wie einer, der sich seiner Sache gänzlich sicher ist, zupfte er mit der Krücke das Hemd des Jungen aus dem Gürtel und schob es nach oben.

      Im Gürtelbund steckte der Reisekatalog, den der Sonnenstrahlenjunge auf der Sonne heimlich eingesteckt hatte.

      “Ei, was haben wir denn da”, machte Jack belustigt.

      Er trat einen Schritt auf den Jungen zu und zog den Katalog aus dem Gürtelbund.

      “Nanu”, sagte Jack und tat erstaunt. “Sieht aus wie ein Katalog. Ich dachte, den hättet ihr auf der Sonne abgegeben.”

      Das Sonnenstrahlenmädchen warf dem Jungen einen vorwurfsvollen Blick zu.

      “Ich hab doch gleich gewusst: Das gibt Ärger”, zischte sie den Jungen an.

      Der stand mit gesenkten Kopf da und zupfte umständlich an einem Hemdzipfel herum.

      “Ich wollte doch nur ...”, fing er an.

      Jack schlug den Katalog auf und studierte das Inhaltsverzeichnis. William stand daneben und stützte sich ächzend auf beide Krücken, bis er wieder den richtigen Halt gefunden hatte.

      “Gut gemacht, junger Mann”, unterbrach er den Sonnenstrahlenjungen.

      Die beiden Sonnenstrahlenopas schienen sehr zufrieden mit dem Diebstahl des Katalogs zu sein.

      Der Junge schaute zuerst ihn verdattert an. Dann Jack, der die Nase in den Katalog steckte. Dann blickte er zu seiner Begleiterin, die ratlos mit den Schultern zuckte.

      William hatte noch mehr zu sagen: “Tja, das ist schon ein Glücksfall. So ein Katalog ist fern der Sonne schwer zu kriegen. Jedes Sonnenstrahlenkind muss seinen Katalog schließlich abgeben. Ihr wisst ja, wie streng die Drohnen sind.“

      William wandte den Blick zu dem Sonnenstrahlenjungen.

      “Um so besser, dass du einen Katalog bei dir hast. Er wird euch helfen, ein gefährliches Abenteuer zu bestehen”, fuhr er fort.

      Die Augen des Jungen blitzten, als er das hörte. Ein Abenteuer und noch dazu ein gefährliches - das hatte er sich so gewünscht.

      “Eine interessante Geschichte über die Erde findet sich in dem Katalog”, redete William weiter.

      Er musste husten. Er kränkelte jetzt schon seit geraumer Zeit. Das Alter - in der Tat - es machte ihm zu schaffen.

      “Jack und ich - wir waren auch mal Kinder und haben damals auf der Sonne aufmerksam den Katalog gelesen. Jack, die alte Leseratte, schmökerte in einer ganz grässlichen Geschichte. Sie handelte auf der Erde. Und ich kann euch sagen, sie hat uns einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Fürchterliches Unheil, gierige Menschen, Finsternis. Aber wir lasen auch von einem tapferen Mädchen und einem tapferen Jungen. Zwei Sonnenstrahlenkinder, die das Unglück verhindern helfen. Ich spreche von euch beiden.“

      Er machte eine kurze Pause zum Luft holen, dann fuhr er fort: “Tja, wir waren ganz vertieft. Aber wir konnten nicht zu Ende lesen, denn plötzlich standen die Drohnen vor uns. Ihr kennt das inzwischen ... Eine Drohne schiebt die Schubkarre und die andere Drohne nimmt dir deinen Katalog weg.“

      Die beiden Sonnenstrahlenkinder nickten. Ja, so war es bei ihnen auch gewesen.

      “So wussten wir zwar von dem Unglück, aber nicht, wie es zu verhindern ist”, grummelte William. “Nun, jetzt haben wir ja den Katalog. Der wird uns sagen, was zu tun ist, um das Abenteuer zu bestehen.”

      Jack stieß ihn plötzlich von der Seite an.

      “Hier ist es. Ich erinnere mich genau”, sagte er und zeigte William den aufgeschlagenen Katalog.

      William las kurz, dann nickte er.

      “Bis zum heutigen Tage haben wir gewartet“, spann Jack den Faden weiter, “damit wir zum rechten Zeitpunkt hier sind, um euch zu treffen und zu helfen.”

      “Fürs Erste läuft alles nach Plan, aber wer weiß ...”, murmelte William.

      “Was steht denn in dem Katalog”, fragte das Mädchen, dem langsam mulmig wurde. Anders als der Junge hielt sie von gefährlichen Abenteuern nicht eben viel.

      “Nun”, antwortete Jack, “zum Beispiel steht hier etwas von einem Lichtdieb. Wisst ihr, was ein Lichtdieb ist?”

      Der Junge überlegte.

      Das Mädchen aber wusste wohl die Antwort. Genau dieses Wort hatte sie auf der Sonne im Katalog auch gelesen.

      “Er ist rund und an den Seiten etwas eckig und vor allem düster”, wiederholte sie, was sie im Gedächtnis behalten hatte. “Er hat mir Angst gemacht - ich hab’s schnell wieder weg geblättert.”

      “Sie weiß Bescheid, was”, sagte Jack und zwinkerte William zu. “Weißt du auch, was das ist?“

      Er spitzte die Lippen, pfiff eine kurze Melodie und klatschte mit den Händen dazu.

      Das Sonnenstrahlenmädchen schaute ihn verständnislos an. So etwas hatte zuvor weder gesehen, noch gehört.

      Jack grinste. “Das nennt sich Musik. Jazz, verstehst du! Auf der Erde wird so etwas in der Musik-Bar gespielt”, erklärte Jack. “Schätze, William und ich werden da mal das Tanzbein schwingen. Was, William?“

      William guckte ihn böse an.

      “Das ist doch jetzt unwichtig”, sagte er grantig. „Lies aus dem Katalog!“

      “Musik ist niemals unwichtig”, sagte Jack in belehrendem Ton. “Aber gut! Der Katalog weiß von diesem Lichtdieb einiges mehr zu berichten. Hättest weiter lesen sollen, junge Dame ...”

      Der Junge kicherte dazwischen.

      “Hihi! Junge Dame nennt er dich!”

      Er kannte die Anrede nicht und fand sie deshalb komisch.

      “Ich bin keine junge Dame, sondern noch klein. Ich muss das Lesen erst noch üben”, verteidigte sich das Mädchen und machte einen Schmollmund.

      Jack schmunzelte und warf dem Mädchen einen aufmunternden Blick zu. Er wartete, bis der Junge ausgekichert hatte.

      Dann schien er es eilig zu haben, denn er drängte: “Genug gekichert! Der Tag bricht bald an. Hier ist der Eintrag im Katalog ...“

      ***

      “Auf der Erde gab es einen Winkel, in den nie ein Sonnenstrahl drang. Ein unheimliches Gewölbe. Düster duckte es sich zwischen all den Dingen und Wesen, die sich am Tageslicht erfreuten - und blieb den neugierigen Sonnenstrahlen so gänzlich verborgen und unbemerkt.

      Mit seinen wuchtigen, alten Mauern, den fest gefügten Steinen, der unerbittlichen, eisenbeschlagenen Tür, die es fest verschloss, vermochte sich nichts ohne die Hilfe von Menschenhand Zutritt in dieses Gewölbe zu verschaffen. Außer das faulende Grundwasser, dass durch den erdenen Boden aus der Tiefe drang. Und nichts gelangte ohne fremdes Zutun aus dem Gewölbe heraus.

      Gerade in diesem Gewölbe wurde bei Anbruch eines gewöhnlichen Erdentages ein Lachen geboren. Es war ein angstvolles Lachen. Freudlos, hastig und voller Schuld. Ein verzweifeltes Lachen.

      Niemand hörte das Lachen. So laut es auch war und so lange es währte, es erstarb ungehört in dem von einem elektrischen Licht düster beleuchteten Raum.

      Das Lachen suchte einen Weg hinaus, um gehört zu werden. Aber es hallte zurück von den hohen, nasstriefenden Ziegelmauern. Es wand sich auf einen Spalt hoffend hinauf an die Decke. Es fand auch dort keinen Ausweg