Holger Töllner

Das geschenkte Leben


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freie Wohnung in einer Jugendstilvilla im Göttinger Ostviertel aufmerksam wurden. Es handelte sich um eine Liegenschaft, die das Studentenwerk ursprünglich zum Verkauf vorgesehen hatte, nun aber mit neuen Mietern belegen wollte. Darum gab es für das Haus auch keine Warteliste. Wer sich meldete, konnte sofort einziehen. Frei war allerdings bloß noch die ehemalige Hausmeisterwohnung, wegen der Größe jedoch nur für zwei Mieter. Wir überlegten ein paar Minuten und füllten kurzentschlossen den Antrag aus, weil wir beide in winzigen Wohnheimzimmern hausten, die einzeln mehr kosteten als die große Wohnung geteilt durch zwei. So kam es, dass wir mit einem Mal zusammenwohnten, noch bevor wir ein richtiges Paar wurden. In unserer romantischen Villen-WG wuchs ganz allmählich unserer Liebe.

      Fachlich war Anna dagegen überhaupt nicht glücklich, weil sie im Zoologischen Institut von einigen anderen Doktoranden gemobbt wurde. Dabei war sie die Einzige, die bereits als Diplomandin eine echte wissenschaftliche Entdeckung auf dem Konto hatte. Anna forschte nämlich an Heuschrecken, die sie und ihre Kollegen in der Umgebung Göttingens und andernorts einfingen, um die Funktionsweise ihrer Gehirne zu erforschen. Das Ganze lief unter der Überschrift ‚Erforschung neuronaler Netze‘.

      Anna hatte bereits im Rahmen ihrer Diplomarbeit den Botenstoff identifiziert, der Heuschrecken zum Singen bringt. Sie hatte dafür die Substanz, die man für gesangsauslösend hielt, einer Heuschreckenart ins Hirn gespritzt, die in der Natur niemals sang und sie mit dem eingesetzten Botenstoff unter Laborbedingungen zum Zirpen gebracht. Die damit verbundenen Erkenntnisse reichten locker für eine Doktorarbeit, sodass Anna sich nicht sonderlich anstrengen musste.

      Ein paar ihrer Kollegen machte das offenbar neidisch und die drangsalierten sie, wo es nur ging. Eines Tages besuchte Anna einen Neurobiologenkongress, wo ihr ein befreundeter Wissenschaftler das perfekte Jobangebot machte. Ein Pharmaunternehmen suchte osteuropäische Muttersprachler mit naturwissenschaftlichem Hintergrund für die Durchführung klinischer Studien in Polen, Tschechien, Russland und so weiter. Anna überlegte nicht lange und nahm an.

      Leider hatte sie in der großen Freude nicht bedacht, dass ihre Arbeitserlaubnis und auch ihre Aufenthaltserlaubnis sich nur auf die Arbeit als Doktorandin an der Göttinger Uni bezogen. Als sie das erkannte, war es bereits zu spät: Der Arbeitsvertrag war unterschrieben, die Doktorandenstelle gekündigt, Ihr Doktorvater war stinkwütend auf sie. Ihr Arbeitsvertrag war aber ohne Arbeitserlaubnis wertlos. Und ohne Job würde umgekehrt ihre Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert werden, weil Polen damals noch kein Mitglied der Europäischen Union war.

      Als sie mir davon erzählte, regte ich mich zunächst furchtbar auf. Volkswirtschaftlich war es doch totaler Irrsinn, auf fremde Kosten bestens ausgebildeten jungen Fachkräften zu verbieten, gut bezahlte Jobs in Deutschland anzunehmen. Im Gegensatz zu den meisten damals massenweise legal einwandernden deutschstämmigen Aussiedlern aus Osteuropa sprach Anna nahezu perfektes Deutsch, würde vom ersten Tag an in die Sozialkassen einzahlen und brachte zudem noch nicht einmal ihre Familie mit. Gar nicht davon zu reden, dass den Job ja ohnehin nur jemand machen konnte, der gar nicht in Deutschland aufgewachsen war.

      „Ich muss wieder zurück nach Warschau gehen“, sagte Anna.

      „Auf keinen Fall!“, antwortete ich.

      Es war zum Haareraufen.

      „Lass uns heiraten. Dadurch sind alle Probleme auf einen Schlag erledigt: Als meine Ehefrau bekommst Du automatisch eine Aufenthaltserlaubnis. Damit verbunden ist selbstverständlich eine unbeschränkte Arbeitserlaubnis, denn wer sich rechtmäßig und unbefristet in Deutschland aufhalten darf, hat auch das Recht, sich eine Arbeit zu suchen.“

      „Und was ist, wenn es mit uns nicht funktioniert?“, fragte Anna.

      „Dann lassen wir uns eben wieder scheiden. Aber ich werde mir von den Behörden nicht vorschreiben lassen, mit wem ich wie lange zusammenleben darf.“

      Wir begriffen schnell, dass es für einen Deutschen gar nicht so leicht war, eine Ausländerin zu heiraten. Man stellt sich das wesentlich unkomplizierter vor, als es in Wahrheit ist. Wir benötigten ein Ehefähigkeitszeugnis nach Paragraf 1 Ehegesetz. Wir lernten, dass das erforderliche Dokument in Polen nur ausgestellt werden konnte, wenn wir zuvor ein Ehefähigkeitszeugnis von einem deutschen Standesamt vorlegen würden. Aber wenn es möglich gewesen wäre, das Dokument in Deutschland zu beantragen, hätten wir es ja gar nicht in Polen beschaffen müssen. Nach etlichem Hin und Her mit deutschen und polnischen Bürokraten gab ich schließlich auf. Ein Freund hatte mir geraten, doch ganz einfach in Dänemark zu heiraten, weil das wesentlich einfacher sei. Er musste es wissen, denn er hatte vergangenes Jahr eine Nicaraguanerin geehelicht.

      In Dänemark brauche man lediglich einen Personalausweis und eine Meldebescheinigung. Ich rief sofort im Städtchen Tönder an, wo der Freund geheiratet hatte, doch in der Gemeinde waren gerade Sommerferien. Da es damals noch kaum Internet gab, ließ ich mir bei der internationalen Telefonauskunft einfach das Standesamt der nächsten Ortsvorwahl geben. Der Zufall wollte es, dass ich in der Gemeinde Hadsund anrief, wo man mir innerhalb weniger Tage tatsächlich einen Termin zur standesamtlichen Trauung gab. Ich hatte eilig ein paar dünne Ringe aus dreihundertdreiunddreißiger Gold beschafft. Die konnte ich mir gerade so eben leisten und ließ unsere Namen sowie ‚Juli 1997‘ eingravieren. Das genaue Datum unserer Eheschließung wusste ich zum Zeitpunkt des Erwerbs der Ringe nämlich noch gar nicht.

      Wegen des Arbeitsvertrages hatten wir es sehr eilig und entdeckten erst in der Nähe von Flensburg, dass Hadsund gar keine Nachbargemeinde von Tönder war, sondern am nördlichen Ende von Dänemark lag. Es gab damals noch keine Navigationssysteme. Stattdessen hatte man einen Autoatlas an Bord. Da ich den Weg bis nach Flensburg kannte, konsultierten wir den Autoatlas aber erst, als die Grenze längst hinter uns lag und erkannten meinen Fehler bei der Wahl des Standesamtes so spät, dass wir nichts mehr dagegen tun konnten.

      So kamen wir statt wie gedacht am frühen Abend erst nachts um drei Uhr bei unserem Ziel an. Alle Hotels waren geschlossen, und wir mussten die Nacht vor unserer Hochzeit im Auto auf einem Supermarktparkplatz verbringen. Den ‚Polterabend‘ feierten wir mit widerlich warmem Sekt und schliefen nach dem langen Tag schnell ein.

      Am nächsten Tag verheiratete uns ein irritierter Bürgermeister, nachdem er uns genervt zuerst zwei Trauzeugen aus nahegelegenen Büros besorgt hatte.

      Fast hätte er das nicht getan.

      Denn vor der Zeremonie hatte er gesagt „Ich muss Euch fragen, ob Ihr aus wirtschaftlichem Gründen heiratet?“

      Er meinte natürlich, ob wir eine Scheinehe planten.

      Wie aus der Pistole geschossen antwortete Anna „Ja, ausschließlich wirtschaftliche Gründe! Wir heiraten wegen der Arbeitserlaubnis.“

      Ich brauchte dann fast eine halbe Stunde, um den Mann davon zu überzeugen, dass wir zwar vordergründig tatsächlich wegen der Arbeitserlaubnis heirateten, uns aber wirklich und ernsthaft liebten und auch zusammenbleiben wollten. Erst nachdem ich ihm die komplette Geschichte samt Mobbing im Zoologischen Institut, Neurobiologenkongress, Jobangebot tutto completti erzählt hatte, willigte er schließlich ein, uns zu trauen.

      Wenn er doch nur wüsste, dass wir nun schon fast zwanzig Jahre miteinander verbracht haben. Wie viele mehr werden es wohl noch? Oder endet unsere Ehe, weil mein Leben endet? Ich nehme mir vor, nach Hadsund zu fahren und den Bürgermeister von damals zu besuchen, sollte ich das hier überleben.

      Kommunikationstechnisch kommt nun der härteste Brocken. Ich muss es den Kindern beibringen, hilft ja nichts. Zum Glück sind die beiden nicht mehr ganz so klein.

      Max ist beim Eishockeytraining, deswegen ist zuerst die vierzehnjährige Annika dran. Sie ist in ihrem Zimmer. Ich klopfe und gehe entschlossen rein.

      Sie ist erschrocken und weint, als ich ihr erzähle, was los ist. Zum Glück hat sie meinen Grundoptimismus geerbt. Schon nach ein paar weiteren Sätzen glaubt sie ganz fest daran, dass ich wieder vollständig gesund werde. Was auch sonst!

      Gemeinsam holen wir Max vom Training ab. Wir gehen ein paar Schritte hinter die Eishalle.

      Max weint auch und sagt entschlossen „Wenn du stirbst, bringe ich mich um!“

      Ich