Holger Töllner

Das geschenkte Leben


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ich fort, “ich erwarte, dass du mich eines hoffentlich noch sehr fernen Tages einmal beerdigen wirst, weil Kinder eben nun mal ihre Eltern zu Grabe tragen sollten und nicht andersherum.“

      Max erkennt die Folgerichtigkeit meiner Forderung. Ich sehe es in seinen Augen. Auch Anna und Annika nicken ernst. Ich habe das Gefühl, die Familie ist jetzt geeint, und wir stehen gemeinsam durch, was auch immer kommen wird.

      Ich entschließe mich nach dieser positiven Erfahrung zu einer allgemein offensiven Kommunikationspolitik. Es wird nichts geheim gehalten. Meine Eltern, meine Brüder, der Rest der Familie, sie alle müssen es ebenso erfahren wie mein Arbeitgeber und meine Freunde.

      Alles andere könnte ich gar nicht durchhalten. Ich verstehe die Leute nicht, die monatelang nicht damit herausrücken, was sie genau haben. Denen wird immer unterstellt, sie simulierten oder litten an irgendwas Peinlichem wie Drogensucht, Geschlechtskrankheiten oder sie hätten eine Schraube locker.

      Als wäre Krankheit etwas, für das man sich schämen müsste.

      Aber ich darf gar nicht schimpfen. Schließlich bin ich selbst genauso. Wer hat denn seine scheinbaren Hämorrhoiden so lange ignoriert, bis er alle vierzig Minuten und öfter aufs Klo musste? Eben.

      Am folgenden Tag mache ich die wichtigsten Anrufe und verbreite Optimismus. Meinem Chef erkläre ich, ich sei in ein paar Wochen ohne jeden Zweifel wieder an Deck.

      Er entgegnet, ich soll mich ordentlich behandeln lassen und erst wiederkommen, wenn ich komplett geheilt bin. Im Übrigen soll ich mir über die Arbeit keine Sorgen machen, die Gesundheit komme zuerst.

      Das sieht ihm ähnlich. Er ist eben ein Unternehmer vom alten Schlag, für den das Beschäftigungsverhältnis über die Schreibtischkante weit hinausgeht. Ich bin sehr froh, dass ich mir wenigstens um meinen Job vorerst keine Sorgen machen muss. Ich organisiere in den verbleibenden Tagen bis zum Besprechungstermin in der Klinik meine Abwesenheit auf unbestimmte Zeit, richte eine automatische Antwort auf eingehende Mails ein und stelle das Telefon um.

      Endlich kommt der Tag der Wahrheit. Ich werde pünktlich ins Besprechungszimmer des Professors gerufen, Doktor M alias Marc Greene ist auch dabei. Diesen beiden und dem Anästhesisten vor allem werde ich in ein paar Tagen mein Leben anvertrauen. Anvertrauen ist gut. Was für eine Wahl habe ich denn? Ich muss mich ständig zur Ordnung rufen. Wenn das mit meinen inneren Monologen und der Fantasie so weitergeht, bekomme ich womöglich doch noch vor der OP einen Rappel. Aber ich kann mir eben alle Abläufe hier in der Klinik, im Operationssaal, im Aufwachraum, auf Station bis ins Detail vorstellen. Schließlich habe ich meine Zivildienstzeit und mein halbes Studium als Rettungssanitäter verbracht.

      Das ist gut und schlecht zugleich. Einerseits weiß ich ziemlich genau, wovon die Ärzte reden, auch wenn sie ihr Fachvokabular verwenden. Ich habe etliche Arztbriefe gelesen und hatte in ungezählten Nachtschichten stundenlang Zeit, jedes Krankheitsbild und alle interessanten Diagnosen nachzuschlagen.

      Das ist natürlich jetzt gut, denn ich verstehe den ganzen Betrieb hier. Andererseits weiß ich aber auch genau, was alles schiefgehen kann und wie schlampig mitunter gearbeitet wird.

      Das ist schlecht, weil ich dadurch weiß, dass man bei ernsten Erkrankungen immer auch Glück braucht.

      Werde ich Glück haben? Ich hoffe es. Der wichtigste Schritt war, einen richtig guten, erfahrenen Chirurgen für meine Operation zu finden. Nach allem, was ich bisher gehört und gesehen habe, scheint das gelungen zu sein, wenn auch durch reinen Zufall. Denn nach dem Operateur hatte ich nicht explizit gesucht. Und da sitze ich nun vor ihm, dem großen Medicus und seiner rechten Hand, Doktor Marc Greene aus Emergency Room. Es gibt sicherlich Patienten, die ungünstiger gestartet sind.

      Die Ärzte empfangen mich mit Handschlag und eröffnen mir die Vorschläge des Tumorboards. An einer baldigen Operation führt kein Weg vorbei. Das ist nach allem, was ich nun bereits weiß, keine Überraschung mehr.

      „Wir sind bereit, wenn sie es sind. An ihrer Stelle würde ich allerdings nicht mehr sehr lange mit der Operation warten“, sagt Professor X.

      Ich weiß schon, der drohende Darmverschluss. Er erklärt noch einmal, dass ich ein Rektumkarzinom habe.

      „Das bedeutet, wir müssen tief unten in Ihrem Becken operieren. Momentan sieht es so aus, als könnten wir Ihren Schließmuskel erhalten, dann benötigen Sie den künstlichen Darmausgang nicht dauerhaft.“

      Er lächelt mich leutselig an und lässt seine Sätze in Ruhe wirken. Mir ist, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen.

      Künstlicher Darmausgang? Wahrscheinlich kann mein Schließmuskel erhalten werden? Was, wenn nicht? Dann behalte ich einen künstlichen Darmausgang und kacke bis an mein Lebensende in einen Plastikbeutel? Oh Gott nein, bloß das nicht! Ich bringe vor lauter Schreck statt einer Antwort nur heiseres Gestammel heraus.

      Die Ärzte irritiert das keineswegs. Anscheinend sind sie an dergleichen gewöhnt. Sie sind aber auch nicht zu beneiden, wenn sie tagtäglich armen Schweinen wie mir den voraussichtlichen Grad ihrer Verstümmelung eröffnen müssen. Die beiden Herren fahren unbeirrt fort und erklären mir die zu planende Operation. Sie soll endoskopisch, also quasi durchs Schlüsselloch, durchgeführt werden.

      Statt des traditionellen sogenannten Kulissenschnitts sei diese Operationsmethode zwar zeitaufwändiger und handwerklich anspruchsvoller, aber viel weniger invasiv als die konventionelle Methode, bei der man den gesamten Bauchinhalt herausholt, repariert und danach wieder hineinstopft. Der Kulissenschnitt trage seinen Namen übrigens, weil dabei die Bauchdecke vom Rippenbogen bis zum Schambein aufgesäbelt und somit wie im Theater ein Blick hinter die Kulissen möglich werde, erklärt mein Operateur voller Begeisterung. Im Gegensatz dazu spreche man bei der endoskopischen Methode auch von Schlüssellochchirurgie.

      „Ach,“ mache ich unsicher. Es erinnert entfernt an einen Loriot-Dialog, zumindest wenn ich mir die aufkeimende Übelkeit wegdenke.

      Damit der Darm nach der OP in Ruhe heilen kann, klemmt man ihn im unteren Bereich vom übrigen System ab und leitet die Exkremente durch ein Loch in der Bauchdecke nach außen ab. Dafür wird das obere Ende des Darms an der Bauchdecke festgenäht. Auf der anderen Seite fängt später ein Klebebeutel den ganzen Segen auf.

      „Das ist heutzutage für den Patienten alles recht komfortabel,“ betont Professor X.

      „Aha,“ sage ich, kein bisschen weniger beunruhigt.

      Komfortabel? Ein künstlicher Darmausgang mit einem Klebebeutel? Eigenartige Sichtweise, finde ich. Aber allmählich gewöhne ich mich an den Gedanken, dass wir über keine Blindarmentfernung oder anderen Routine-Pipifax, sondern über eine ausgewachsene Darmkrebsoperation reden. Was habe ich denn erwartet? Fencheltee und ein paar Tage Bettruhe, dann ist alles wieder gut?

      No Sir! Hier muss jetzt mit dem kompletten Waffenarsenal, das die moderne Chirurgie zu bieten hat, ohne Rücksicht auf Verluste schnell und hart zugeschlagen werden. Das schließt die gesammelten erwähnten und vielleicht auch ein paar unerwähnte Unannehmlichkeiten mit ein.

      Jetzt heißt es, kaltschnäuzig bleiben. Augen zu und durch. Ich reiße mich also zusammen, während die beiden Ärzte im Plauderton erklären, was sie im Detail mit mir vorhaben.

      Nun sind wir beim Thema Operationsvorbereitung. Die medizinischen Leitlinien sehen für meine Art Tumor standardmäßig eine Bestrahlung vor. Ich soll mich deswegen noch heute bei den Strahlentherapeuten vorstellen und beraten lassen. Unter anderem davon ob und wie lange ich mich freiwillig radioaktiver Strahlung aussetze, hängt der Operationstermin ab. Ich soll deswegen jetzt für ein Gespräch zur Oberärztin der Nuklearmedizin gehen.

      Was wird denn noch alles kommen? Etwa auch noch Chemotherapie? Ich kapiere immer besser, dass ich wirklich und wahrhaftig und ernstlich krank bin.

      Deswegen frage ich nun mit zunehmend flatternden Nerven, „Sagen Sie mal, reden wir hier eigentlich über Leben und Tod? Also, soll ich meine Angelegenheiten ordnen und mich so langsam verabschieden?“

      „Aber Herr Töööllner,“ dröhnt der Professor mit ausgebreiteten Armen und einem jovialen Lächeln auf den Lippen,