Holger Töllner

Das geschenkte Leben


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nicht so schnell wie früher,“ und grient mich an.

      Ich bin ihm für seinen Humor aufrichtig dankbar und muss nun selbst lachen. Die Engländer sagen Comic Relief dazu, wenn sich eine angestaute Spannung in einem Witz löst.

      Auf einen Schlag begreife ich, wie befreiend so ein Lacher ist und erkenne, dass dies für mich fortan die einzig praktikable Art des Umgangs mit meiner Krankheit sein wird. Ich werde den verdammten Krebs einfach so lange kleinreden und lächerlich machen, bis er wieder weg ist. Na ja, oder eben ungünstigstenfalls, bis ich weg bin.

      Ich bedanke mich artig und verspreche, sofort nach dem Termin wieder zurückzukommen, um alles Weitere zu bereden. Jetzt, da ich anscheinend nicht mehr zu den unmittelbar Todgeweihten zähle, fühlt sich mein Leben gleich viel lebenswerter an.

      In der Abteilung Nuklearmedizin treffe ich eine sehr freundliche Oberärztin, die mir ans Herz legt, meinen Tumor operationsvorbereitend ein wenig mit Gammastrahlen zu traktieren. Ich frage, was das bewirkt. Sie klärt mich umfangreich über Wirkungen und Nebenwirkungen auf. Besonders gruselig finde ich die Aussicht auf irreversible Schäden an meinem Fortpflanzungsapparat. Und damit meine ich nicht so sehr die Beschädigung von Samenzellen, auf die ich nach abgeschlossener Familienplanung meinetwegen noch verzichten könnte. Viel übler hört sich an, dass die kleinen Blutgefäße im Becken, die meinen Penis mit Blut versorgen und die Nerven, die für die Erektion verantwortlich sind, durch die Bestrahlung kaputt gehen könnten.

      Ohje, vorzeitige Impotenz ist keine schöne Aussicht. Ich sehe mich schon als alten Perversling, der selbst keinen mehr hochkriegt auf einem Stuhl sitzen, während ein junger, muskulöser Schwarzer es vor meinen Augen meiner Frau besorgt. Ich habe sowas mal in einem Film gesehen, ‚Der Zuschauer‘ oder so. Verdammtes Kopfkino, ich kann es einfach nicht abschalten.

      Von meinem inneren Monolog leicht irritiert frage ich nach, welchen Nutzen ich von der Bestrahlung erwarten darf. Die Oberärztin sagt, sie könne das Risiko eines Rezidivs, also dass der Krebs nach erfolgreicher Operation wieder am selben Ort zurückkommt, um rund fünfzig Prozent senken.

      Das hört sich allerdings gut an.

      Ich frage, „Wie groß ist denn bei mir überhaupt das Rezidivrisiko?“

      Über Risiken und Chancen hatte ich mit den Chirurgen noch gar nicht geredet. Die Oberärztin schätzt, fünf Prozent.

      „Das ist ja nun relativ wenig“, sage ich.

      Sie antwortet, „Ja, das ist im Prinzip richtig. Nur gibt es für Sie aber keine fünf oder zweieinhalb Prozent. Sie haben es oder Sie haben es eben nicht, also nur null oder hudert Prozent.“

      Da hat sie leider vollkommen Recht.

      Ich frage, „Würden Sie sich selbst unter diesen Umständen bestrahlen lassen?“

      „Ja“, sagt sie, „auf jeden Fall.“

      Ich bedanke mich und verspreche, dass ich nach dem Gespräch mit Professor X wegen der Bestrahlung Bescheid geben lasse und laufe zurück in Richtung seines Büros.

      Unterwegs begegne ich einer weinenden Frau. Sie ist schätzungsweise Anfang sechzig. Sie presst eine Hand vor den Mund, als sie mich sieht. Sie schämt sich ihrer Tränen. Ob sie ihren Mann besucht hat? Ob er hier operiert wurde? Ob er schon im Sterben liegt? Ob er Schmerzen hat? Ich gehe zögernd auf sie zu, weil ich an ihr vorbeimuss. Ich will es lieber gar nicht wissen. Nicht dass mein Karma sich noch verschlechtert, wenn ich dem Tod nahekomme. Nicht dass Gevatter Hein Witterung zum mir aufnimmt und mich doch ganz plötzlich holen will. Selbstverständlich bin ich kein bisschen abergläubisch. Aber in meiner Situation geht man besser kein Risiko ein. Also schnell weiter zu meiner Verabredung.

      Nach einer Weile im Wartezimmer des Professors werde ich aufgerufen zur zweiten Runde.

      „Na, wie war’s bei den Strahlentherapeuten?“, fragt er. Doktor Greene ist inzwischen weg.

      Ich sage, „Toll! Die waren so nett, dass ich große Lust habe hinzugehen.“

      Der Professor lacht herzhaft.

      „Na das ist ja mal ein Grund!“

      „Ja, aber kein besonders guter. Ich kann fachlich doch gar nicht beurteilen, ob ich mich bestrahlen lassen sollte oder besser nicht.“

      Ich erzähle ihm von der mutmaßlichen fünfzigprozentigen Reduzierung meines Rezidivrisikos. Er fragt, wie hoch man das Risiko bei den Nuklearmedizinern denn schätze. Ich sage es ihm. Er zieht die Augenbrauen hoch, stützt sich mit den Ellbogen auf der Tischplatte ab und sieht mir über den Rand seiner Brille in die Augen.

      Er sagt, „Bei allem Respekt, wenn ich Sie operiere, ist Ihr Rezidivrisiko bei ein bis zwei Prozent.“

      Er lehnt sich lässig in seinen Sessel zurück und zuckt leicht mit den Schultern, als er meinem fragenden Blick begegnet.

      „Das sind meine Zahlen. Die Statistik lügt nicht.“ Sein Lächeln geht jetzt in ein Grinsen über, das selbstgefällig, aber auch stolz aussieht.

      „Überlegen Sie einfach, ob Sie für einen mutmaßlichen therapeutischen Erfolg von nullkommafünf bis ein Prozent einhundert Prozent Nebenwirkungen akzeptieren wollen.“

      Na, sage ich mir, das ist mal ein Arzt. Ich strahle ihn an und antworte „Nein, bestimmt nicht!“

      Also keine Bestrahlung! Er erklärt mir, dass für Fälle wie meinen in den nächsten Monaten wahrscheinlich die Leitlinien geändert und zukünftig ohnehin keine Bestrahlung mehr empfohlen werde.

      „Keine Ahnung, ob die Nuklearmediziner das schon wissen. Aber ich würde mich an Ihrer Stelle auch nicht bestrahlen lassen. Gute Entscheidung.“

      Jetzt will ich noch wissen, ob ich das verlängerte Wochenende in Berlin absagen soll, wo die OP doch so dringend ist.

      Er sagt, „Sie sollten tatsächlich nicht sehr lange damit warten. Aber es spricht nichts dagegen, nächstes Wochenende nochmal nach Berlin zu fahren. Tun Sie das ruhig.“

      Ich frage, „Was ist, wenn ich einen Darmverschluss bekomme?“

      Er antwortet, das glaube er zwar nicht, aber im Notfall bestehe in Berlin doch Aussicht auf ordentliche ärztliche Versorgung. Er grient schon wieder und fragt „Haben Sie schon mal von der Charité gehört?“

      Selbstverständlich habe ich, und er weiß es. Die Charité, das ist der Inbegriff medizinischen Fortschritts. Dort haben die berühmtesten Ärzte aller Zeiten gearbeitet: Rudolf Virchow, Robert Koch, Paul Ehrlich, Emil von Behring, der große Sauerbruch und wer weiß noch alles. Nobelpreisträger hat die Charité hervorgebracht. Klar habe ich von der gehört.

      Professor X sagt, „Wenn Sie tatsächlich einen Darmverschluss kriegen sollten, was ich, wie gesagt, nicht glaube, dann gehen Sie einfach in die Charité. Wir geben Ihnen einen Arztbrief mit, den zeigen Sie dort vor. Dann wird man Sie dort garantiert nicht schlechter als hier in Mannheim operieren.“

      Wir verabreden die Operation für unmittelbar nach dem Berlin-Wochenende und verabschieden uns.

      Als ich im Parkhaus ins Auto steige, fühle ich mich gut. Ich will und werde vorerst leben, jedenfalls aller Wahrscheinlichkeit nach. Die Ängste und die Unsicherheit der letzten Tage sind wie weggeblasen.

      Wie es sich für echte Krieger gehört, machen wir kommendes Wochenende in Berlin nochmal ordentlich einen drauf. Anschließend ziehe ich dann in die Schlacht.

      Kapitel 3: Intermezzo in Berlin

      Wie geplant, sitzen Anna und ich am folgenden Freitag im ICE nach Berlin. Wir haben schon vor Wochen auf Vorschlag meines Chefs ein Sonderangebot in einem Fünf-Sterne-Hotel gebucht. Natürlich tauchte vorher die Frage auf, ob ich unter diesen Umständen überhaupt in der seelischen Verfassung wäre, einen Spaßtrip übers Wochenende zu unternehmen. Das hatte ich mich vorher schon selbst gefragt. Vielleicht würde ich den anderen die Reise total vermiesen, wenn ich Trübsal bliese und mein Schicksal bejammerte. Aber nach kurzem Überlegen sagte ich mir: