Holzgerippe. Draußen, jenseits der Bucht, sah sie die kugeligen Köpfe der Robben in der Dünung tanzen. Immer wieder verschwand einer, um eine Weile später an anderer Stelle aufzutauchen. Darüber zogen kreischende Möwen ihre Kreise. Vielleicht war das Leben hier im Norden doch erträglicher, als sie befürchtet hatte. Wenn nur die alte Hexe nicht wäre.
Nach einer guten halben Stunde erreichte sie die von Eòghann bezeichnete Weide. Doch die Ruhe währte nicht lange. Plötzlich vernahm sie hinter sich Hufgetrappel. Sie fuhr herum. Ein einzelner Reiter auf einem der flinken piktischen Ponys galoppierte den Pfad entlang, der von Westen nach Pert führte. Ängstlich blickte sie um sich. Sollte sie versuchen sich hinter den niedrigen Büschen zu verstecken? Doch der Reiter hatte sie sicher schon bemerkt.
Dann atmete sie auf. Es war Carney, der aus einer etwas südlicher gelegenen Siedlung kam. Vor einigen Monaten war er häufig in ihrem Hause zu Gast gewesen, um Kilian, Naras Sohn, den die alte Hexe über alles vergötterte, zu besuchen. Kilian selbst und er zogen dann irgendwann fort, zum fernen Königssitz in Forteviot. Denn der Prinz der Uerturio hatte die Männer der nördlichen Stämme aufgefordert gemeinsam mit ihm gegen die Britannier zu ziehen. Álainn hatte den Königssitz selbst natürlich noch nie gesehen, aber Forteviot galt bei allen piktischen Stämmen als der reichste und vornehmste Ort im Norden. Es hieß, Prinz Koloman, für den selbst die Mädchen in Pert Acaiseid zur Sonnenwendfeier eine Unzahl Blumenkränze gebunden hatten, sei mit vielen tausend Männern aus allen Stämmen nach Süden gezogen, um Beute zu machen.
Jedenfalls hatte Nara, seit ihr geliebter Sohn fortgezogen war, begonnen, Álainn immer häufiger zu schlagen. Zum Glück war Eòghann selbst nicht mit den Uerturio nach Süden gezogen, sonst wäre sie der Alten völlig schutzlos ausgeliefert gewesen. Eòghann war ja bereits früher im Jahr mit ihrem eigenen Häuptling, der sich zwar nicht König nannte, aber doch völlig unabhängig über seine Sippe und die Sturminseln herrschte, zu einem bescheideneren Raubzug an die britannische Küste gefolgt. Álainn hatte es am eigenen Leib erfahren.
Inzwischen war Carney, von einer Staubwolke umhüllt, bis zu ihr herangekommen. Pferd und Reiter schwitzten stark in der Sonne. Álainn hob die Hand zum Gruß, während die Schafe erschrocken auseinanderstoben, als der Fremde sein Pferd dicht vor ihr zügelte.
„Was bringst du für Nachricht?“, fragte sie neugierig.
„Großes Unheil, Gruagach straft uns fürchterlich. Die Britannier haben eine Rasse von grausamen Riesen zu Hilfe gerufen. Unser Heer ist geschlagen, der Prinz gefallen!“, rief er ihr zu und trieb sein Pferd gleich wieder im scharfen Trab voran.
Álainn war wie vom Donner gerührt. Was hatte das zu bedeuten? Riesen, Britannier? Was war geschehen? Sollte ihr Volk endlich die Kraft gefunden haben, sich der Pikten zu erwehren? Und dürfte sie nun auf Befreiung hoffen? Aber nein, Pert Acaiseid war so weit im Norden, so weit entfernt von Britannien, und sie war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt über Land oder nur mit den schnellen Booten der Pikten zu erreichen war.
Am Abend trieb Álainn die Schafe zur Burg zurück. Eine düstere Stimmung lag über den eng um den alten Broch gedrängten Rundhäusern. Leises Wehklagen drang aus mehreren Ecken und Winkeln an ihr Ohr. Sie sperrte die Schafe in den Pferch und trat leise in Eòghanns Haus. Der Hausherr saß in Gedanken versunken an dem niedrigen Torffeuer in der Mitte des Raumes und drehte ihr den Rücken zu. Seine Gattin Gwen hockte ihm mit rotgeweinten Augen gegenüber. Ängstlich spähte Álainn nach Nara, doch die lag wimmernd und völlig besoffen in ihrer Nische des Rundhauses. Álainn atmete auf, jedoch ein wenig zu laut, denn Gwens Kopf ruckte nach oben und sie sah Álainn hasserfüllt an.
„Du freust dich wohl, Britannierin?“
Aber Eòghann wehrte ab. „Sie hat den ganzen Tag gearbeitet, was man von deiner Mutter da drüben nicht sagen kann. Also lass sie etwas zu Essen zu sich nehmen und in Frieden schlafen.“
Gwen sah ihr finster nach, als Álainn sich etwas Hafergrütze und Trockenfisch nahm und schüchtern in ihren eigenen Winkel des kleinen Radspeichenhauses zurückzog.
Eboracum, Juni 441
Ceretic
Gleich am nächsten Morgen gab Vortigern den Befehl zum Marsch nach Norden. Etwa fünfzig Mann blieben zurück, um die Bestattung der Gefallenen fortzusetzen und die wenigen Verwundeten vor versprengten Pikten zu schützen.
Vortigern ritt an der Spitze des Heerzuges, ihm folgten seine Ratgeber und die sächsischen Söldner. Viele unter ihnen trugen stolz piktische Waffen. Ceretics Augen suchten in ihren Reihen nach Ordulf, doch er erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Der junge Sachse trug ein prächtiges Kettenhemd mit vergoldeten Plättchen auf der Brust. Unter dem Herzen wies es ein gezacktes Loch auf, welches sein neuer Besitzer noch nicht repariert hatte. Als Ceretic sein Pferd neben ihn lenkte, bemerkte er, dass zwischen den eisernen Ringen noch getrocknetes Blut klebte. Doch das schien den jungen Sachsen weniger zu stören.
„Mal sehen, ob die eisernen Ringe wirklich so viel halten, wie man immer sagt“, erklärte er mit säuerlichem Grinsen.
„Mir ist ein fester Schild lieber, aber ich habe keinen mehr übrig.“
Erstaunt bemerkte Ceretic, dass Ordulf recht hatte und viele der Sachsen ohne Schilder marschierten. Eigentlich hätten sie dringend Zeit benötigt, um ihre Wehr in Stand zu setzen.
„Vortigern ist der Ansicht, Schnelligkeit sei wichtiger als Erholung“, antwortete er leicht spöttisch.
„Das habe ich bemerkt“, entgegnete Ordulf immer noch mit schiefem Grinsen. „Aber den Pikten, von dem ich dies hier habe“, dabei zeigte er auf sein neues Kettenhemd, „hat weder der schnelle Anmarsch noch sein Eisenhemd geschützt.“
Aller Sorgen ungeachtet marschierten sie den Tag über eine große Strecke, mal im Regen, mal in Sonne und Staub, immer weiter auf der endlosen Via Erminia Richtung Cair Ebrauc.
Ceretic ritt meist direkt bei Vortigern und den übrigen Ratgebern. Am Straßenrand entdeckte er mehrfach Ruinen und Trümmer verbrannter Gehöfte und Dörfer. Diesen Weg musste auch das piktische Heer gezogen sein, verbittert darüber, von den hohen Mauern Eboracums abgewiesen worden zu sein. Sie marschierten so rasch sie konnten. Obwohl die Männer von der Schlacht am Vortag noch geschwächt sein mussten, ließ Vortigern ihnen nur eine knappe halbe Stunde zur Mittagsrast. Bald schon drängte er weiter. Bis spät in den Abend hinein trieb er das Heer unbarmherzig vorwärts.
„Hier bleiben wir für die Nacht. Morgen bei Sonnenaufgang brechen wir wieder auf“, verkündete Vortigern schließlich, als die Sonne hinter dem westlichen Horizont versank und die ersten Sterne am Himmel erschienen.
Erschöpft ließen sich die Männer neben der Straße fallen. Doch die Unterführer brachten sie wieder auf Trab. Zelte aufstellen, Feuerholz suchen, Wachen einteilen. Eigentlich war es schon viel zu spät, um geordnet zu lagern, und Ceretic vermutete, dass sie auf dem Gewaltmarsch eine nicht unerhebliche Zahl von Ausfällen und Nachzüglern hinter sich gelassen hatten.
„Herr, wenn wir weiter so marschieren, kommt nur die Hälfte von uns in Eboracum an“, wandte er sich daher an den König.
Doch der schüttelte unnachgiebig den Kopf. „Wir müssen Eboracum morgen unbedingt erreichen.“
„Aber weshalb auf einmal diese Eile? Vor der Schlacht nahmen wir uns Zeit, die Toten zu begraben und nun, wo Eboracum keine Gefahr mehr droht, hetzen wir nach Norden?“ Ceretic war verwirrt.
„Er hat recht“, pflichtete ihm zu seinem Erstaunen Vortimer bei, der gemeinsam mit den übrigen Ratsmitgliedern am Feuer saß. „Müssen wir so lange marschieren? Das Heer ist erschöpft und gestern haben wir die Schlacht gewonnen.“
„Und die Sachsen haben sogar gestern und vorgestern gekämpft“, stimmte Ceretic zu.
„So hart kann das wohl nicht gewesen sein, die Pikten sind doch gleich geflohen“, warf Vortimer mit säuerlicher Mine ein.
Hätte mich auch gewundert, wenn er seine Haltung gegenüber den Sachsen grundsätzlich änderte, dachte Ceretic mit so etwas wie Befriedigung.
Doch