für meinen Teil würde gerne ein bisschen mehr von Londinium sehen“, antwortete er. „In Ypwinesfleet wird im Winter ohnehin nicht viel los sein.“
Halvors Gesichtsausdruck hatte während des Gespräches zwischen Erstaunen und Unglauben geschwankt. „Zu einem heiligen Mann, so wie Tallanus?“, fragte er, als könne er das Gehörte nicht richtig einordnen.
„Ja, ja“, antwortete Ceretic eifrig.
„Genau darüber habe ich in den letzten Wochen nachgesonnen“, behauptete Halvor.
Nun war es an Ordulf und Ceretic, ihn erstaunt anzustarren. Der Ebbingemanne erwiderte ihren Blick ebenso ratlos, sodass Ordulf sich ein Lachen verkneifen musste. „Wie meinst du das, du hättest darüber nachgedacht? Wusstest du etwa, dass Ceretic uns diesen Vorschlag machen würde?“, fragte er spöttisch.
Halvor schüttelte den Kopf. „Tallanus hat mir damals am Abus einiges erzählt. Von seinem Gott und … anderen Dingen.“ Verlegen wandte er den Blick von Ordulf ab. „Jedenfalls habe ich mir sehr gewünscht, noch einmal mit ihm über diese Dinge sprechen zu dürfen. Und nun fragt Ceretic, ob ich nicht den gesamten Winter bei solchen heiligen Männern, wie Tallanus einer ist, verbringen will.“ Langsam verwandelte sich der erstaunte Ausdruck auf seinem Gesicht in ein Grinsen. „Dafür will ich nicht nur Britannisch, sondern auch lesen und schreiben lernen, wenn das nötig ist.“
Nun war es an Ceretic zu lachen. „Das wird wohl fürs Erste nicht notwendig sein. Schreiben tut man in Latein und das kann nicht einmal ich!“
„Wir müssen aber Hengist um Erlaubnis fragen. Schließlich ist er unser Herr und Herzog und muss uns ziehen lassen“, wandte Ordulf ein.
„Das ist richtig, doch bin ich guten Mutes, dass er seine Zustimmung gibt“, nickte Ceretic. „Wer sollte sonst für ihn die Wünsche des Hochkönigs übersetzen, falls mir mal etwas zustößt?“
Am Abend, nachdem sie in Ypwinesfleet die Ladung aus dem Bauch der Heldir in den neuen Scheunen verstaut hatten, unterbreitete Ceretic Hengist seinen Vorschlag.
„Nach Londinium sollen die beiden?“, fragte er zurück. „Warum nicht? Das ist allemal besser als Willerichs Plan. Der will mit seinen Männern nach Keydingen zurückkehren. Als würden wir hier nicht mehr gebraucht!“
„Mein Entschluss steht fest, Hengist“, entgegnete Willerich störrisch. „Wenn du uns brauchst, kommen wir im nächsten Frühjahr wieder, doch nun wird es höchste Zeit, zu Hause die Ernte einzubringen. Nicht jeder hat auf seinem Hof so viele Knechte wie du.“
„Und ich danke dir für deine Treue diesen Sommer. Du wirst nicht mit leeren Händen nach Sachsen heimkehren“, bestätigte der Held.
So waren die Dinge beschlossen. Willerich rüstete seine Selah für die Fahrt nach Sachsen. Die meisten Keydinger und einige der Dithmarscher folgten ihm. Hengist machte zwar ein saures Gesicht, doch verließ ihn niemand, ohne reich aus der piktischen Beute und Hengists Silberhort entlohnt zu werden.
„Ihr sollt in Sachsen nicht mit leeren Händen ankommen. Alle Welt soll erfahren, dass Hengist ein glücklicher und großzügiger Heerführer ist!“, rief er, als die Ruder der Selah bereits den Bug des Schiffes gen Sonnenaufgang wendeten.
Ordulf und Halvor packten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und ließen sich zusammen mit Ceretic nach Regulbium übersetzen. Vor Ordulfs geistigem Auge erschienen die Erinnerungen an seine ersten Tage in diesem neuen Land und ihren Ritt nach Durovernum. Und tatsächlich besorgte Ceretic ihnen in Regulbium wieder drei Pferde. Auf der flachen Römerstraße staunte Ordulf einmal mehr über dieses seltsame Volk, welches all diese Dinge gebaut hatte und dann von der Erdoberfläche verschwunden war.
Pert Acaiseid, November 441
Álainn
Álainn riss sich vom Anblick der wilden grauen See los und eilte zurück. Sie schlüpfte unter dem niedrigen Türstein durch und vorbei an dem schweren schmierigen Ledervorhang, der Regen und Wind notdürftig außerhalb des Hauses hielt. Der beißende Qualm des Torffeuers trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie unterdrückte ein Husten. Jetzt durfte sie bloß keinen Lärm machen, sonst bemerkte die alte Hexe, dass sie schon auf gewesen war. Aber die Hoffnung war vergebens.
„Wo hast du dich wieder rumgetrieben?“, schnarrte die verhasste Stimme hinter ihr.
Sie wandte sich um und noch stechender als der Torfrauch blies ihr der stinkende Atem der Alten ins Gesicht.
„Wo du dich rumgetrieben hast, habe ich gefragt“, fauchte sie.
„Ich wollte nach den Schafen …“, begann Álainn, doch da spürte sie schon einen brennenden Schmerz auf der Wange.
„Lüg mich nicht an. Du hast dich wieder rumgetrieben, um irgendeinen Mann zu bezirzen!“, zischte Nara erbost. „Das werde ich dir noch austreiben!“
Schon wieder durchzuckte Álainn der brennende Schmerz. Sie spürte, wie etwas Warmes an ihrer Wange herablief und wusste nicht, ob es Tränen oder Blutstropfen waren. Sie drehte sich um und rannte wieder hinaus, verfolgt vom Gezeter ihrer Widersacherin.
Álainn wandte sich zum Schafspferch und drückte sich hinein. Die Tiere blökten erschrocken, beruhigten sich aber gleich wieder, als sie ihre Hirtin erkannten. In der vorübergehenden Sicherheit des Schafstalls kauerte sich Álainn hin und weinte hemmungslos. Fürs Erste war sie weiteren Schlägen entronnen, aber sie konnte ja nicht bis in alle Ewigkeit bei den Tieren bleiben. Wenn sie Dinge fallen ließ, beim Weben einen Faden verpasste oder ihr beim Spinnen das Garn riss, dann waren die Schläge vielleicht gerechtfertigt, aber in letzter Zeit wurde es immer schlimmer. Früher, vor dem Tode Kilians und des Prinzen Koloman, hatte Nara auch nie eine Weidenrute benutzt, sondern nur mit der Hand zugeschlagen und ohne Grund eigentlich nur, wenn sie besoffen war. Das kam damals vielleicht ein- oder zweimal in der Woche vor. Nun war sie jeden Tag volltrunken und eben war sie gerade erst aufgestanden und Álainn hatte keine ihrer zahlreichen Pflichten versäumt.
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