nicht nur wilde Tiere waren eine Gefahr, auch die Mari-Pflanze machte Kyla das Erlangen von Nahrung schwer, denn mit ihren dicken Ranken umschlang sie ausgerechnet die nahrhaftesten und verträglichsten Pilze, die der Wald zu bieten hatte. Einmal von diesen Pflanzen in Besitz genommen, verdorrten die Pilze, und mit ihnen alles im gesamten Umkreis, bis der Boden wie verbrannt aussah. Kyla hatte gelernt, mit scharfkantigen Steinen die widerspenstigen Ranken zu entfernen, doch die Mari-Pflanze ließ sich trotz großer Anstrengungen oft nur unzureichend beseitigen. Wenn Kyla die Pilze dennoch aß, fühlte sich ihr Bauch danach selbst so an, als würden Ranken darin ihr Unwesen treiben. Aber auch das war immer noch besser, als zu verhungern. Doch nun, da sie in diesem Käfig saß und anderen Chyrrta ausgeliefert war, beschloss Kyla, dass es an der Zeit war, zu sterben. Denn wenn es ihr gelänge, ihrem Leben auf diese Art selbst ein Ende zu setzen, würde man sie nicht quälen können.
Der Tod schreckte sie nicht. Immerhin verging alles, was gelebt hatte, irgendwann – die Tiere und die Pflanzen. Auch genügend Chyrrta hatte Kyla schon sterben sehen, um zu wissen, dass ihre eigene Gattung keine Ausnahme bildete. Irgendwann hatte sie damit begonnen, sich in die Siedlungen zu schleichen und das Leben der anderen Chyrrta zu beobachten. Über viele Jahreszeiten hinweg hatte sie sie immer wieder heimlich beobachtet, um ihre Neugier zu befriedigen und ihnen zugehört, um ihre Sprache zu erlernen. Viele Handlungsweisen waren ihr zuerst völlig fremd gewesen, doch mit der Zeit hatte sie begriffen, was sie zu bedeuten hatten. Staunend hatte sie zugesehen, wie die Bewohner neue Häuser bauten und sie instand hielten. Sie hatte beobachtet, wie sie miteinander umgingen und ihresgleichen in verschiedenen Situationen behandelten. Streit, Versöhnung, Lachen, Weinen, Hass und Liebe – im Laufe der Zeit hatte sie die Wörter zu den Beobachtungen begriffen und alles, was dazugehörte. Vieles war seltsam gewesen – körperliche Vereinigungen, die mal friedlich, oft genug jedoch auch wie ein Kampf aussahen. Kyla hatte begriffen, dass sie nicht immer freiwillig stattfanden – ebenso wenig wie viele der anderen Dinge, zu denen manche Chyrrta gezwungen wurde. Vor allem die Frauen hatten keine Wahl, was Kyla erzürnte, da sie inzwischen begriffen hatte, dass ihr Körper diesen benachteiligten Chyrrta glich. Das Wort Sklavin fiel mehrfach und Kyla wünschte sich, sie hätte es niemals gehört, denn es bereitete ihr größtes Unbehagen. Lieber würde sie sterben, als so leben zu müssen, wie diese Sklavinnen! Nun stand sie kurz davor, eine zu werden, da war sie sich sicher, und daher war sie bereit für den Tod – ihr Körper schien ihrem Bestreben zuzustimmen, denn erneut verlor sie das Bewusstsein.
Kylas Augenlider flackerten. War sie tot oder lebendig? Als sie kurze Zeit später vollends erwachte, wurde sie angestarrt. Ein Paar Augen blickte sie aus der Dunkelheit an – bösartig und blutunterlaufen. Erst glaubte sie, ein wildes Tier würde sie taxieren, doch dann erkannte Kyla, dass es ein Chyrrta war, der vor ihrem Käfig stand. Sein stinkender Atem drang in ihre Nase. Und nun furzte ihr Beobachter auch noch – schlagartig war Kyla sich ziemlich sicher, dass sie nicht tot war.
»Du mageres Gerippe! Du bist es nicht mal wert, dass die Tokals dich fressen. Zu viel Dreck für zu wenig Futter«, spie ihr Beobachter ihr entgegen. Kyla versuchte, ihre Stimme furchtlos klingen zu lassen. »Wer bist du? Warum bin ich in einem Käfig?«
Ihre erste Frage wurde ignoriert. »Warum ich dich in einen Käfig gesteckt habe, willst du also wissen. Damit du nicht abhauen kannst, das ist ja wohl klar! Ich habe dich niedergeschlagen, als du fliehen wolltest, und nun bist du mein gesetzmäßiges Eigentum. Ein schönes Eigentum – nichts als Ärger wirst du mir bringen! Ich denke, ich werde dich ersäufen wie einen streunenden Tokal. Vermutlich hast du genauso viel Ungeziefer an dir. Was denkst du? Ich könnte dich in den Fluss werfen.« Kyla nickte. Der Mann stutzte und spuckte auf den Boden. Er gab erneut ein geräuschvolles Furzen von sich, ehe er mit seiner Pranke gegen den Käfig schlug, sodass dieser heftig in Bewegung geriet. Kyla schrie erschreckt auf, als die Umgebung sich zu drehen schien.
»Du dummes Gör hast gekotzt! Es stinkt erbärmlich!«, schrie ihr Peiniger. Kyla sammelte allen Mut, der ihr noch geblieben war.
»Du stinkst doch selbst! Sogar schlimmer als das eklige Flusswasser!« Der Mann starrte sie entgeistert an, dann lachte er. Kyla bekam eine Gänsehaut, denn es steckte eine Boshaftigkeit in seinem Gelächter, die sie das Fürchten lehrte. Doch schließlich zündete er eine Kerze an und stellte sie auf einen Felsvorsprung, um die Höhle in mehr Licht zu tauchen. Dann öffnete er den Käfig, zerrte Kyla hinaus und schubste sie zu einem Rinnsal Wasser, das an der Höhlenwand neben der Kerze hinablief.
»Zieh dich aus und wasch dich!« Sie tat nichts dergleichen. Er grunzte, wandte sich ab und stapfte in Richtung des Ausgangs der Höhle davon. Kyla stand da – zitternd, hungrig und schwach. Sie berührte die Kleidungsstücke, die sie aus Blättern und dünnen Zweigen selbst gefertigt hatte, um ihre Blöße zu bedecken, wie sie es bei Mädchen in den Dörfern gesehen hatte. Es war anfangs ungewohnt gewesen, sich zu bekleiden, doch nun fühlte sie sich unsicher, weil sie die schützenden Blätter ablegen sollte.
Kyla lauschte. Die Höhle schien zu atmen – ein fauliger, keuchender Atem, der rhythmisch über ihren Körper strich und ihr trotz der feuchten Wärme eine Gänsehaut bescherte. Die Wände der Höhle waren schwarz-grün, modrige Flechten hingen von der Decke. Links von ihr verlor sich der Blick in undurchdringlicher Schwärze. In diesem Teil der Höhle konnte sich alles Mögliche verstecken, das sie aus der Finsternis beäugte. Vielleicht eine Kreatur, die bereits darauf lauerte, sie zu ihrer Beute zu machen. Oder der feiste Kerl war, von ihr unbemerkt, durch einen Seitentunnel dorthin gelangt, um zu beobachten, was sie nun tun würde. Er hätte natürlich ebenso gut einfach neben ihr stehen bleiben und sie mit Gewalt zwingen können, sich zu entkleiden. Doch vielleicht liebte er das Versteckspiel und wollte auskosten, dass sie sich sicher fühlte, um dann zuzuschlagen und sie so noch mehr in Angst und Schrecken zu versetzen. Kyla kannte solche Geschichten aus Erzählungen junger Chyrrta-Frauen, die sie belauscht hatte. Sie waren zu Sklavinnen gemacht worden. Kyla hatte schnell begriffen, dass sie nicht frei waren und tun mussten, was jemand anderer ihnen befahl – es hatte sie zutiefst angewidert. Also hatte sie sich weiterhin versteckt vor der Welt, die sie offensichtlich schon früh vergessen hatte. Das Mädchen wusste weder woher es stammte, noch, warum es niemanden hatte, der bei ihm war. Mutter und Vater – das waren nur zwei Wörter, denen sie nicht mehr Bedeutung zumessen konnte, als jedem anderen beliebigen Wort, das sie bei ihrem Herumschleichen in den Dörfern gelernt hatte. Bislang hatte sie es immer geschafft, sich zu verstecken, ohne erwischt zu werden, doch das Blatt hatte sich nun eindeutig gewendet.
Kyla sah in den dunkelsten Teil der Höhle. Normalerweise hätte sie diesen Weg bevorzugt, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass das diesmal ein tödlicher Fehler sein könnte – denn was auch immer sich dort verbarg, sie würde ihm mit großer Sicherheit nicht entfliehen können. Sie blickte in die andere Richtung. Der Ausgang der Höhle lag in einiger Entfernung, aber Kyla konnte schnell rennen und war sich sicher, dass sie es in kurzer Zeit schaffen konnte, die Höhle zu verlassen. Doch was mochte dort auf sie warten? Sie war nicht so einfältig, zu glauben, ihr Besitzer würde sie entkommen lassen. Nun hatte das Schicksal auch sie ereilt, dem sie jahrelang durch das Verstecken in den Wäldern hatte entkommen können: Sie war zu einer Sklavin geworden.
Als sie plötzlich ein unheimliches Heulen aus der Finsternis zu ihrer Linken hörte, entschied sich Kyla doch für einen Fluchtversuch. Was sollte ihr draußen schon Schlimmeres passieren als hier drin, wo sie den Feind nicht einmal sehen konnte, bevor es zu spät war? Mit zittrigen Beinen lief sie los. Ihre nackten Füße wurden vom felsigen Untergrund aufgerissen, aber Kyla lief noch schneller. Eine Kante im Boden brachte sie zu Fall. Der Schmerz in den Knien war stark, aber Kyla sprang sofort wieder auf die Füße und rannte dem Sonnenlicht entgegen.
Die Luft wurde besser, das Atmen fiel ihr leichter und sie gewann noch einmal an Geschwindigkeit – nur um dann, kurz vor dem Ausgang, von einer Faust niedergestreckt zu werden. Kyla fiel, ihr Kopf schien nicht mehr auf ihrem Hals zu sitzen. Die gerade noch so tröstliche Helligkeit und Wärme waren verschwunden und machten einer weiteren Ohnmacht Platz.
Als Kyla das Bewusstsein wiedererlangte, sah sie das Gesicht einer Frau über sich. Diese sprach leise auf sie ein – es waren beruhigende Worte. Kaum, dass Kyla versuchte, sich aufzurichten, wurde die Frau fortgezogen. Es war der feiste Kerl – ihr Besitzer, der das Mädchen nun rücksichtslos auf