fiel.
»Du überschätzt dich! Dürres Gerippe! Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir entkommen? Du schaffst es doch nicht einmal bis zur Brücke, die für dich ohnehin gesperrt ist. Und versuche besser nicht, den grünen Fluss zu durchqueren – du würdest auf der Stelle von den Parasiten zerfressen werden. Ein äußerst schmerzhafter Tod. Und den willst du doch wohl nicht erleiden, oder?«
Kyla wusste nicht, ob die Drohung oder die Warnung in seiner Stimme überwog. Sie versuchte es herauszufinden, indem sie ihm in die Augen sah, doch sie konnte es immer noch nicht ergründen. Er schnaubte wütend, als er ihren forschenden Blick bemerkte. »Glotz mich nicht so an, verdammtes Balg! Du bist ein Klotz an meinem Bein. Ich weiß, du wirst mir noch Unglück bringen.«
Kyla wollte nicht warten, bis er sie wieder schlug. Sie sprang auf und lief zur Brücke, die in einiger Entfernung über die tosenden Fluten führte. Das Mädchen lief, so schnell es konnte, trotz der Schmerzen und der neuerlichen Schwärze, die sie umfangen wollten. Kyla wusste, dies war ihre letzte Chance, dem Schicksal als Sklavin zu entkommen. Nur am Rande nahm sie wahr, dass niemand ihr folgte.
Der Dicke hatte davon gesprochen, dass die Brücke gesperrt wäre, doch das war sie nicht! Er hatte sie doch nur von ihrer Flucht abhalten wollen und es behauptet, weil er wusste, dass er sie aufgrund seiner Schwerfälligkeit niemals würde einholen können. Kyla fühlte die Angst von sich abfallen, als sie ihren ersten Fuß auf das hölzerne Konstrukt setzte. Sie rannte noch einige Schritte, als plötzlich in der Mitte der Brücke ein schweres Eisengitter zu Boden krachte. Kyla wollte es nicht glauben. Sie lief dorthin und blickte panisch zu den Seiten. Das Gitter reichte bis weit um die Brücke herum und war mit messerscharfen Widerhaken versehen. Kyla sah nach oben – dort warteten im Sonnenlicht funkelnde Reihen von Pfeilspitzen nur darauf, einen Körper zu durchlöchern.
»Bist du dummes Gör etwa taub? Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht entkommen kannst!« Kyla wirbelte herum. Hinter ihr hatte ihr Besitzer die Brücke betreten und kam langsam auf sie zu. Kyla drängte sich nah ans Gitter und blickte ins Wasser. Strudel und scharfkantige Felsen erstreckten sich, soweit sie sehen konnte. Einen Sprung würde sie nicht überleben. Aber selbst wenn, würden letztendlich die Parasiten ihren Mut doch mit einem qualvollen Tode bestrafen. Es galt nun, eine Entscheidung zu treffen. Entweder beendete sie ihr erst kurz währendes Leben, oder sie gab sich geschlagen, um auf eine bessere Möglichkeit zur Flucht zu warten. Der Dicke war stehen geblieben. Er breitete die Arme aus. Es war eine seltsame Geste; selbstherrlich und resigniert zugleich.
»Siehst du, es gibt keinen Weg für dich. Aber wenn du sterben willst, dann entscheide dich nun, denn ich habe heute noch Wichtigeres zu tun, als mich mit dir zu beschäftigen.«
Kyla starrte ihn an. Machte er sich etwa lustig über sie? Über ihre Wunden? Über ihre Angst? Über ihre Gefangenschaft? Erneut sah sie in den Fluss. Es würde schnell gehen, wenn sie jetzt den Mut aufbrachte, sich hineinzustürzen.
»Na los, spring! Tu es! Niemand will dich hässliches Ding!«, herrschte der Dicke sie an. Kyla traten die Tränen in die Augen. Er zuckte mit den Schultern. »Aber wenn du nicht springen willst, dann komm jetzt von der Brücke herunter und geh zu Olha! Sie wird deine Wunden versorgen und dir etwas zu essen geben.« Damit wandte er sich ab und ging davon. Kyla stand da wie festgewachsen. Ihren Plan, sich in den Fluss zu stürzen, hatte sie inzwischen aufgegeben, dennoch war sie unfähig, sich zu bewegen. Die Frau namens Olha – die sich zuvor schon über Kyla gebeugt hatte – wartete geduldig, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Kyla konnte sich nicht überwinden, zurückzukehren. Sie setzte sich auf die Brücke und Olha tat es ihr an Land gleich. So verging eine ganze Weile, in der sie sich nur stumm gegenseitig beäugten. Als Kylas Kehle immer trockener wurde, weil sie den Sonnenstrahlen nicht entkommen konnte, stand sie auf und ging mit langsamen Schritten zurück.
Olha erhob sich, als Kyla bei ihr angekommen war, sagte sie: »Geh zurück in die Höhle und wasch dich! Das Wasser ist klar und bringt keine Krankheiten. Es ist die einzige Quelle hier, der du vertrauen darfst. Auch wenn die anderen Wasser dich locken, denke immer daran, dass darin Parasiten leben, die dich von innen heraus auffressen. Lass dich von den Geräuschen in der Höhle nicht schrecken. Es ist der Wind, der sich durch die engen Spalten drängt und wie gepeinigte Tiere klingt. Wenn du fertig bist, tritt vor die Höhle, damit ich deine Wunden verbinden und dich ins Haus bringen kann.«
Kyla schluckte schwer. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn auch wenn die Frau nicht unfreundlich war, war Kyla doch klar, dass sie verloren hatte. Auch Sklavinnen wurden genährt, damit sie ihre Dienste verrichten konnten. Es war also nur logisch, dass man sich auf diese Art um sie kümmerte, und es bedeutete keineswegs, dass sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen durfte. Wie zugeschnürt war ihre Kehle, als sie zum Eingang der Höhle ging – zurück an den Ort, an dem ihre aussichtslose Flucht begonnen hatte.
»Mädchen, sag mir deinen Namen!«, forderte Olha. Kyla blieb stehen, drehte sich um und reckte stolz das Kinn in die Höhe, obwohl ihr in Wahrheit unendlich elend war.
»Ich heiße Kyla!« Sie hatte diesen Namen für sich selbst ausgesucht, als sie alt genug gewesen war, um zu begreifen, dass jedes Wesen einen brauchte. Sie hatte den Frauen und Mädchen im Dorf zugehört, und eine war dabei gewesen, die den Mut ihrer Tochter gepriesen hatte, die von einem Rudel Lantos angegriffen worden war und noch auf dem Sterbebett geschworen hatte, ihre Mutter als Geist aus der Sklaverei zu befreien. Kyla hatte den Namen des Mädchens für sich selbst gewählt, weil sie ihre Stärke bewundert hatte. Doch nun fragte sie sich, ob der Name wirklich so passend war, denn genau wie ihre Namensgeberin würde auch sie in Unfreiheit sterben. Und Kyla war sich sicher, dass sie über kurz oder lang sterben würde, wenn man sie zwang, Dinge zu tun, die sich nicht tun wollte. Olha schien ihre Gedanken erraten zu können. Sie lächelte ein wenig.
»Wenn du ihn nicht zum Narren hältst, musst du keine Angst haben, dass Zygal dich schlägt. Ohne Grund geschieht dies so gut wie nie. Aber wenn du noch einmal versuchst zu fliehen, kann ich dir nur raten, sofort in den Fluss zu springen, denn er hasst es, jemandem hinterherrennen zu müssen. Und Kyla – ich hasse es auch!«
Damit ließ sie sie stehen und entfernte sich mit einer so aufrechten Haltung, dass es für Kyla einfach nicht zum Bild einer Sklavin passen wollte. Olha verschwand in einem Steinhaus, aus dessen Schornstein eine dünne Rauchfahne in den blauen Himmel stieg. Kyla blickte in die Höhle. Hatte sie sich wirklich vom Heulen des Windes täuschen lassen? Sie ging hinein und lauschte. Ja, das Geräusch war wohl tatsächlich darauf zurückzuführen.
Langsam schritt sie vorwärts. Ihre Füße mochten den steinigen Untergrund nicht, und ihre Knie fühlten sich durch das getrocknete Blut klebrig an. Kyla ging zu dem Wasserrinnsal und hielt die Hände darunter. Wenn dies die einzig sichere Quelle war, mussten Zygal und Olha dankbar sein, dass sie stetig Wasser abgab. Aber vielleicht hatte Olha sie auch angelogen, um sie von diesem kostbaren Gut an anderer Stelle fernzuhalten. Kyla legte vorsichtig die Blätter ab, die ihr als Kleidung dienten, und wusch sich. Immer wieder sammelte sie mit ihren Händen Wasser zusammen, um es dann auf ihrem Körper zu verteilen. Es dauerte lange, bis sie sich sauber genug fühlte, um ihre Blätterkonstrukte wieder anzulegen. Als sie fertig war, wagte sie sich ein Stück weiter in die Dunkelheit vor. Das Heulen wurde lauter, und obwohl es wahrscheinlich war, dass der Wind nur mit ihr spielte, hatte Kyla das Gefühl, tausende Augen würden sie lauernd verfolgen.
»Bist du da drin eingeschlafen?« Es war Olha, die verärgert klang.
»Nein, ich komme!«, rief Kyla zurück und erschrak, weil ihre Stimme sich in der Höhle so seltsam anhörte. Sie beeilte sich, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Olha sah sie von oben bis unten an.
»Dieses Zeug hättest du direkt weglassen können. Hier, zieh das stattdessen an.« Sie reichte ihr Kleidungsstücke aus Stoff, die seitlich mit Lederriemen zusammengehalten wurden. »Mach schon! Beeil dich jetzt.«
Kyla streifte sich nur widerwillig die Blätter ab, dann schlüpfte sie schnell in die ihr dargebotenen Kleidungsstücke. Olha half ihr dabei, sie mit den Lederriemen dicht an ihren Körper anzupassen.
»Weißt du, wie alt du bist?«, fragte Olha. Kyla schüttelte den Kopf.
»Du musst noch