Regina Raaf

Kyla – Kriegerin der grünen Wasser


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musst du keinen Hunger leiden, solange Zygal und ich es nicht selbst müssen. Wir werden nun in die Küche gehen, um etwas zu essen. Dreh deinen Kopf herum und blicke zur Wand.« Kyla sah sie verwirrt an, dann begriff sie. Olha hielt einen Schlüssel in der Hand, um das Schloss von Kylas Fesseln zu öffnen. Da sie sich dazu bücken musste, hatte sie vermutlich Angst, dass Kyla ihr unmittelbar danach einen Schlag auf den Kopf versetzen könnte. Damit Kyla nicht wusste, wann genau das Schloss geöffnet wurde, sollte sie also den Blick abwenden. Zögerlich kam sie der Aufforderung nach.

      »Ich sage dir, wenn du dich wieder umwenden darfst. Gehorche mir, Kyla, sonst wirst du den ganzen Tag in Fesseln verbringen!« Olha klang strenger, als Kyla es erwartet hatte. Sie glaubte dennoch, dass es leichter wäre, ihr zu entkommen, als Zygal – oder gar beiden gemeinsam. Als die Kette klirrend von ihr abfiel, verspürte Kyla eine unendliche Erleichterung. Der ganze Tag lag vor ihr, und sie würde ihn nutzen, um auf sicherem Wege zu entkommen. Doch zuerst wollte sie das genießen, was Olha ihr anbot – ein Frühstück, ohne dafür erst jagen oder sammeln zu müssen. Gemeinsam gingen sie in die Küche.

      »Setz dich auf diesen Stuhl!«, wies Olha sie an. »Wenn du aufstehen willst, fragst du mich zuvor um Erlaubnis. Ich werde ein paar Eier braten, die unsere neuen Hühner gelegt haben. Es sind gute Tiere – nicht mal durch den holperigen Transport haben sie sich schrecken lassen.« Sie lächelte, und das sah so glücklich aus, dass Kyla einen kurzen Stich verspürte, weil sie vorhatte, ihr Ärger zu bereiten. Frisches Brot stand auf dem Tisch, daneben mehrere kleine Stückchen Butter. Kyla lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte mal etwas Butter auf dem Markt gestohlen und sie gierig verzehrt. Danach war ihr etwas schlecht gewesen, aber sie hatte sich auch wunderbar wohlig gefühlt. Sie freute sich darauf, dieses Gefühl erneut zu erleben. Das bratende Ei verströmte einen angenehmen Geruch. Kylas Magen knurrte vernehmlich.

      »Ist gleich fertig, dann können wir zusammen essen.« Olha war ganz auf ihr Tun am Herd konzentriert und Kyla wusste, dass sie jetzt zwar fliehen könnte, aber ohne die Gegend zuvor ausgekundschaftet zu haben, würde sie ohnehin nicht weit kommen – abgesehen davon hielt das verlockende Frühstück sie fester an Ort und Stelle, als jede Kette es vermocht hätte. Olha verteilte das Ei auf zwei Tellern und stellte einen davon vor Kyla, den zweiten ihr gegenüber. Dann setzte sie sich davor und wies auf das Brot und die Butter.

      »Bediene dich! Wenn du mir heute keinen Ärger machst, darfst du morgen von der Marmelade probieren, die ich eingemacht habe. Sie ist so süß und fruchtig, dass deine Sinne vor Freude tanzen werden.« Sie lächelte wieder, und es sah verschwörerisch aus. Ganz so, als würde sie mit Kyla ein Geheimnis teilen. Nun wurde es Kyla noch mulmiger, weil sie vorhatte, Olha Ärger zu bereiten. Sie rief sich zur Ordnung. Was nutzte es ihr, dass ihre Besitzerin freundlich war? Solange sie nicht hingehen durfte, wo sie wollte, würde sie fliehen müssen. Aber die Sache mit der Marmelade klang wirklich verlockend, und Kyla hatte noch nie welche gegessen, was ihre Neugier umso größer machte. Sie griff zum Brot und brach etwas davon ab. Dann nahm sie mit den Fingern ein Stück Butter auf und schob es sich in den Mund. Olha sah ihr zu. Dann griff sie zu einem Gegenstand aus Metall, nahm damit geschickt ein wenig von der Butter auf und verteilte sie auf einer Scheibe Brot. Sie hielt den Gegenstand hoch und sagte: »Das ist ein Messer für den Gebrauch bei Tisch. Du kannst damit Brote bestreichen oder Fleisch klein schneiden. Du hast auch eines. Probiere es doch mal aus!«

      Kyla bemerkte erst jetzt, dass neben ihrem Teller ebenfalls ein solcher Gegenstand lag. Sie hob ihn hoch und betrachtete ihn.

      »Es ist nicht sehr scharf. Aber es gibt auch welche, die haben eine Klinge an der du dich schneiden kannst. Sie werden als Waffen benutzt. Zygal wird sie dir zeigen«, erläuterte Olha. Kyla war über die Ankündigung erstaunt. Einmal hatte sie ein solches Messer gesehen – bei einem Wachmann, der auf dem Markt nach dem Rechten gesehen hatte. Er hatte den scharfen Gegenstand kurz aus seiner Tasche gezogen und dann wieder weggesteckt. Kyla hatte dem Mann lange nachgesehen, aber er hatte das Messer nicht wieder berührt, und sie war ein wenig enttäuscht darüber gewesen.

      »Weißt du, Zygal ist eigentlich Waffenschmied«, erklärte Olha. »Er kümmert sich zwar auch um die Hufeisen, die für die Pferde am Palast benötigt werden, aber vor allem stellt er solche Waffen her – große und kleine. Du solltest immer vorsichtig damit sein, wenn er dir eine anvertraut.«

      »Warum sollte er das tun?«, fragte Kyla erstaunt. Olha lächelte kurz und es sah zu Kylas Verwunderung traurig aus. »Er wird es tun, weil er es tun muss. Frag jetzt nicht weiter danach. Kyla, ich möchte, dass du uns vertraust, denn wir werden auch dir vertrauen müssen.« Stille entstand, dann nickte Kyla, auch wenn sie das alles nicht verstand. Olha seufzte. »Es wird dauern«, sagte sie. Statt etwas zu erwidern, nahm Kyla mit dem Messer ein Stück Butter auf und verteilte es, so wie Olha zuvor, auf ihrem Brot, um sich dieses dann komplett in den Mund zu schieben. Olha beobachtete sie und Kyla bemerkte den Anflug eines Lächelns um ihre Mundwinkel.

      Als sie das Frühstück beendet hatten, räumten sie gemeinsam die Sachen vom Tisch und wuschen das Geschirr ab. Als sie damit fertig waren, sagte Olha: »Ich werde dir andere Kleidung geben, die du zum Arbeiten trägst. Zieh dich um und komm dann vors Haus. Wir werden den Hühnerstall ausmisten und später eine Einzäunung für die Ziegen errichten. Solange müssen die Tiere an einem Pflock angebunden bleiben. Pass auf, dass du keinen der Stricke löst, sonst müssen wir die Tiere wieder einfangen, und das ist ein Arbeitsaufwand, den wir uns wirklich ersparen sollten.«

      Kyla nickte und sah zu, wie Olha Kleidung aus dem Schrank nahm. Sie hielt ein Stück nach dem anderen hoch, um es Kyla zu zeigen. Es waren viele verschiedene Kleidungsstücke, die den Körper so bedecken würden, wie es für eine erwachsene Frau üblich war. Olha traf eine Auswahl und reichte die Kleidung an Kyla. Diese nahm sie an und ging in ihr Zimmer, um sich umzuziehen, während Olha bereits das Haus verließ. Es war ungewohnt, so weiches Material am Körper zu spüren. Es gefiel ihr. In dieser Kleidung konnte man sich gut bewegen, ohne dass die Haut aufgescheuert wurde. Kyla folgte Olha nach draußen. Die Sonne schien, und der Boden um das Haus herum war trocken und staubig. In ein paar Schritten Entfernung ging er in eine ausgetrocknete Wiesenfläche über, die nur stellenweise saftiges Grün aufwies. Kyla vermutete, dass diese Bereiche regelmäßig mit Wasser versorgt worden waren. Das war sicher sehr anstrengend, aber um den Tieren Futter zu bieten, musste man die harte Arbeit nun mal auf sich nehmen.

      Zur rechten Seite standen vereinzelt Bäume, sie alle trugen Früchte. Kyla lief bei dem Anblick das Wasser im Munde zusammen. Hinter den Obstbäumen wurde das Land vom breiten Fluss umsäumt, der eine natürliche Barriere darstellte. Zur Linken des Hauses erstreckte sich eine Felswand, die glatt und steil emporragte und eine Flucht praktisch unmöglich machte. Doch in dieser unüberwindbaren Gesteinswand befand sich die Höhle, die Kyla unbedingt näher erforschen wollte. Was, wenn sie so weit reichte, dass sie hinter den Bergen ins Freie führte? Sicher, wenn sie sich komplett durch diesen massiven Berg erstreckte, musste sie wirklich lang und vermutlich auch sehr gefährlich sein, aber es war immerhin eine Möglichkeit, Olha und Zygal zu entfliehen. Kylas Blick ging zur Brücke. Sie sah so einladend aus – nur ein paar Schritte, um das Stück Land ihrer Besitzer zu verlassen. Doch dass dies unmöglich war, hatte Kyla inzwischen begriffen. Vielleicht würde sie jedoch herausfinden, wie der Mechanismus funktionierte, der das Fallgitter auslöste. Möglicherweise würde sie ihn ja irgendwie blockieren können. Im Laufe ihres Lebens hatte sie gelernt, dass es oft Auswege aus scheinbar aussichtslosen Situationen gab, und das machte Kyla so viel Mut, dass sie lächelte.

      »Es ist ein schöner Tag, nicht wahr? Du wirst sehen, die Arbeit macht Spaß, denn sie sichert unsere Zukunft. Und das ist nun auch deine Zukunft, Kyla. Bei Zygal und mir wird es dir gut gehen.«

      Erneut verspürte Kyla einen Stich, dass sie Olha so enttäuschen würde, aber das hatte diese sich nun mal selbst zuzuschreiben. Wenn sie ein Kind wollte, dann sollte sie sich eins machen lassen – wie es ging, hatten Zygal und sie ja offenbar begriffen, wie sie in der Nacht zuvor festgestellt hatte. Kyla war das Kind von niemandem. Sie gehörte zu keinem und würde sich alleine durchschlagen, weil sie es immer so getan hatte. Ja, ihr Entschluss stand fest. Nun musste sie nur noch auf den richtigen Moment warten.

      Während sie das alte Stroh aus dem Hühnerstall kehrten, liefen die Hühner aufgeregt zwischen ihren Füßen umher. »Nun