Anblick tiefe Freude bereitete. Sie waren weder Regen noch Sturm, noch den heftigen Blitzen des Himmels nahezu schutzlos ausgeliefert gewesen – und sie waren nicht einsam, sondern sie hatten einander. Mit welchem Recht hatten sie ihr die Freiheit genommen? – das einzige, was Kyla je wirklich besessen hatte!
Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie versuchte, nicht zu schluchzen. Dann hörte sie plötzlich ein Geräusch von nebenan – Zygal stöhnte. Ob er Schmerzen hatte? Hoffentlich hatte er welche und starb noch in dieser Nacht! Olha zu entkommen, würde dann ganz leicht sein. Kyla lauschte abermals. Zygals Schmerzen wurden größer – das Stöhnen lauter. Und dann stöhnte auch Olha. Die Krankheit schien sehr ansteckend zu sein. Angstvoll dachte Kyla, dass vermutlich auch sie bereits dem Tod geweiht war. Doch dann kicherte Olha plötzlich und Zygal keuchte ihren Namen und sagte ihr, wie wunderschön sie sei.
Kyla erinnerte sich an einige Beobachtungen, die sie bei ihren Streifzügen durch die Dörfer gemacht hatte: Männer und Frauen hatte sie durch Fenster gesehen – ihre Körper vereint. Bei den Tieren hatte Kyla so etwas schon öfter beobachtet, und sie wusste, dass die Weibchen schon bald darauf ihresgleichen gebaren. Es bei Chyrrta zu sehen, bereitete Kyla jedoch immer tiefes Unbehagen. Männer und Frauen gaben dabei so seltsame Laute von sich, die ihr Angst machten. Kyla wollte niemals so klingen! Und ein Kind gebären wollte sie schon gar nicht, denn das sah nicht nur furchtbar aus, sondern war offenbar auch über die Maßen schmerzhaft. Als es im Zimmer nebenan schließlich still wurde, war Kyla erleichtert und enttäuscht zugleich. Besser wäre es gewesen, die beiden wären gestorben – doch wer würde dann am nächsten Tag ihre Fesseln lösen?
Kyla erwachte, noch bevor die Sonne aufgegangen war. Der Raum lag im Dunkeln, und aus dem Nebenraum war Schnarchen zu hören. Sie versuchte, ihre Hand durch den eisernen Ring zu bekommen, der das Gelenk umschloss, aber es wollte ihr nicht gelingen. Vielleicht hätte sie die Suppe nicht essen sollen – vielleicht könnte sie ja so lange auf Nahrung verzichten, bis er einfach abfiel. Ihr wurde bewusst, dass sie bis dahin vermutlich längst verhungert sein würde. Möglicherweise konnte sie die Hand irgendwie abtrennen – aber auch das verwarf sie sehr schnell. Kyla wurde sich bewusst, dass sie so früh am Tag offensichtlich noch nicht klar genug denken konnte, um wirklich brauchbare Entscheidungen zu treffen. Als nebenan ein röchelndes Husten zu hören war, zuckte sie zusammen.
»Schlaf weiter, ich werde im Dorf frühstücken«, hörte sie Zygal sagen.
»Aber wäre es nicht gut, wenn ich den Reitern der Herrscherin ein Frühstück zubereite?«, fragte Olha mit müder Stimme.
»Nein, ich möchte nicht, dass du Bahanda begegnest.«
»Du meinst den Reiter mit der Tätowierung, von dem du mir erzählt hast?«
»Ja, ich traue ihm nicht. Bleib im Haus, bis ich mit den Männern fortgeritten bin.«
»Das werde ich. Sei vorsichtig und lass dich auf keine Streitereien ein«, erwiderte Olha.
»Wenn möglich, werde ich ihnen aus dem Weg gehen. Außerdem habe ich anderes zu erledigen. Ich komme zurück, sobald ich kann. Pass auf Kyla auf und lass sie keinen Moment aus den Augen. Falls das nicht möglich ist, kette sie zuvor an. Gib ihr nicht die Möglichkeit, dich überraschend anzugreifen. Denk immer daran, dass du ihr nicht vertrauen kannst.«
Es tat weh, das zu hören – ein seltsames Gefühl, aber schon kurz darauf entschied Kyla, dass es besser war, für gefährlich gehalten zu werden, statt für schwächlich. Zygals verschiedene Meinungen über sie verstand sie trotzdem nicht. Mal war sie in seinen Augen nur ein dürres Gör, dann wieder eine ernst zu nehmende Gefahr – und am Tag zuvor hatte er fast freundlich geklungen, als er ihren Namen sagte. Auch jetzt hatte er ihn wiederholt und Kyla empfand es aus einem Grund, den sie sich selbst nicht erklären konnte, als tröstlich. Sie rief sich zur Ordnung. Was nutzte es schon, wenn man von demjenigen, der einen tötete, zuvor beim Namen genannt worden war? Was sollte daran tröstlich sein? Nein, sie musste aufpassen, diese Chyrrta nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen.
Als Zygal das Schlafzimmer verließ und durch ihr Zimmer ging, schloss Kyla schnell die Augen. Sie hörte, dass er stehen blieb – ob er zu ihr herüber sah? Dann entfernte er sich hörbar und Kyla öffnete vorsichtig die Augen. Sie blickte zum angrenzenden Wohnraum. Ein rötlicher Schimmer drang dort zum Fenster hinein und kündigte den neuen Tag an. Wenn Kyla in den Wäldern schlief, war das der Zeitpunkt, an dem sie aufstand, um den Tau noch von den Blättern lecken zu können, bevor die wärmer werdende Sonne ihn verschwinden ließ. Hier gab es jedoch keinen Grund, noch vor dem Sonnenaufgang aufzustehen – und vor allem blieb ihr keine Möglichkeit dazu. Also drehte sie sich noch einmal um, schloss die Lider und dämmerte in einen leichten Schlaf hinüber.
Das Geräusch von Pferdehufen weckte sie wenig später. Kyla hörte Stimmen. Es waren die von Zygal und ein paar Männern, die mit ihm sprachen. Dann hörte sie weitere Geräusche: das Gackern von Hühnern und andere Tierlaute, die sie nicht einordnen konnte. Abermals vernahm sie Stimmen, und Gegenstände wurden offenbar umhergetragen, denn ein paar Männer keuchten vor Anstrengung. Kurz darauf erklang erneut Hufgetrappel, dann wurde es still. Der Schmied schien tatsächlich mit ihnen geritten zu sein.
Kyla fragte sich, was er bei der Herrscherin wollte. Aber im Grunde konnte es ihr egal sein – sie würde ohnehin alles daransetzen, Olha zu entfliehen, denn nun war diese alleine, und sie würde ganz sicher keine Gewalt anwenden, um Kyla an einem Entkommen zu hindern. Mit diesem Gedanken schlief Kyla erneut ein, bis sie schließlich von Olha geweckt wurde.
»Steh auf, mein Kind! Wir haben heute jede Menge zu tun – wie jeden Tag. Es ist ein arbeitsreiches Leben hier auf unserem Landstück. Aber das Gute ist, dass du mir jetzt helfen kannst.«
Kyla sah sich verwirrt um. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Es erstaunte sie, dass sie noch einmal so tief und fest geschlafen hatte. Wie spät es wohl inzwischen sein mochte? Die Sonne schien zumindest schon gleißend hell durch das Fenster im Nebenraum herein. Und nun nahm Olha einen Sonnenschutz aus dicht geflochtenem Stroh von der Wand, woraufhin auch in Kylas Zimmer ein kleines Fenster sichtbar wurde, durch das ebenfalls die Sonne unbarmherzig hereinschien. Kyla blinzelte und blickte sich um. Der Raum war zweckmäßig eingerichtet. Ein Schrank mit zwei Türen, die geschlossen waren, daneben war ein schmales Regal an der Wand angebracht, auf dem eine Bürste aus Wildschweinborsten lag. Der einzige Schmuck bestand aus einem Hufeisen an der Wand, neben dem ein kleiner Strauß getrockneter Blumen hing. Olha deutete zum Fenster. »Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Es ist bereits früher Mittag. Heute haben wir die Morgenstunden verschlafen, weil Zygal es so wollte. Er weiß, wie wichtig der Schlaf für dich ist – und für mich ebenfalls. Für dich, weil du noch wächst und nach deinem Leben in der Wildnis erst einmal zu Kräften kommen musst, und für mich, weil ich vor kurzem erst von einer langen Krankheit genesen bin. Es sah so aus, als würde ich sie nicht überstehen, aber Zygal hat um mich gekämpft wie ein Tarnut. Tagelang ist er nur von meiner Seite gewichen, um die Tiere zu füttern. Er konnte in dieser Zeit nicht schmieden, und das hat uns fast unsere Existenz gekostet. Darum ist es umso wichtiger, dass die Herrscherin ihm heute seinen Lohn zahlt. Wir haben Lebensmittel bekommen, außerdem drei Ziegen und zehn Hühner. Die letzten hatte ein Rudel Tokals geholt. Sie haben die Tiere bis auf ein paar Federn gänzlich aufgefressen – es war ein sehr trauriger Tag für Zygal und mich, der uns viel Kummer bereitet hat. Doch nun, mit dem Geld, das Zygal mitbringen wird, und genügend Tieren, um ein paar davon später eintauschen zu können, sollte unsere Zukunft vorerst gesichert sein. Außerdem haben wir nun genügend Hühner, um nach und nach eins davon zu schlachten. Wir sind also gut versorgt und können dich noch mit durchfüttern.«
Olha lächelte knapp und fuhr dann fort: »Heute müssen wir die Ställe vorbereiten und die Tiere dann dort hinbringen. In den nächsten Tagen werden sie sich an uns gewöhnen. Hast du schon mal ein Tier gehalten?« Kyla, die sich inzwischen erhoben hatte und nun auf ihrem Bett saß, überlegte. »Ich hatte mal einen Hasen. Eins seiner Beine war gebrochen.«
Olha sah sie mitleidig an. »Und? Hast du ihn heilen können?«
»Nein.«
»Das tut mir leid. Dann ist der Hase gestorben?«
»Ich habe