Hubert Wiest

Rußatem


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dünnes Mädchen stand auf. In ihrem gerüschten Ballkleid sah sie ein wenig verloren aus. Ich kannte Mara nur vom Sehen. Wir hatten keinen einzigen Kurs zusammen gehabt. Unsicher trippelte Mara nach vorne. Bestimmt trug sie die hohen Schuhe heute zum ersten Mal. Zwei Lehrer halfen ihr die Stufen zur Bühne hinauf. Unsicher blieb Mara dort oben stehen.

      „Komm ruhig näher! Du musst keine Angst haben“, sagte Counselor Killari mit einer Stimme, die er wohl für freundlich hielt. Mir machte er damit höchstens Angst. Unsere Direktorin stand dümmlich grinsend daneben.

      „Mara, du hast einen ganz ausgezeichneten Abschluss gemacht. Mit einer hervorragenden 1,2 erhältst du wie gewünscht eine Zuweisung zum Medizinstudium und die Wohnberechtigung für Jaikong. Du darfst weiterhin unter der Kuppel leben.“

      Mara stand reglos da. Ihr Gesicht glühte rot. Im Publikum jubelte ein älteres Paar. Das mussten ihre Eltern sein. Counselor Killari überreichte Mara eine Urkunde. Mit einem Knicks verabschiedete sich Mara und stolperte zurück auf ihren Platz. Hundert neidische Blicke folgten ihr. Mara hatte es geschafft!

      „Acanto, Eno“, hallte Killaris Stimme aus den Lautsprechern.

      „Viel Glück!“, zischte ich Eno zu.

      Eno ging nach vorne. Unsicher betrat er die Bühne. Ich fühlte mich alleine gelassen. Die ganze Schulzeit war Eno für mich da gewesen, wenn ich ihn brauchte. Nie hatte er sich in den Vordergrund gedrängt und immer konnte ich mich auf ihn verlassen.

      Counselor Killari schüttelte ungläubig den Kopf. „Also das hat es schon seit sieben Jahren nicht mehr gegeben.“

      Eno knetete seine Hände.

      „Eine glatte 0,75. Du hast jede einzelne Prüfungsaufgabe mit der Höchstnote abgeschlossen. Deine Abschlussarbeit zur intelligenten Drohnensteuerung hat Aufsehen bis hinauf ins Forschungsministerium erregt.“

      Ich musste schmunzeln. Schon als Viertklässler hatte Eno heimlich diese Flugdinger gebaut. Als er damit für Quinn und mich die Mathearbeit aus der Wohnung unserer Lehrerin klauen wollte, war die Drohne in einen Topf Kartoffelsuppe gestürzt. Das gab eine riesengroße Sauerei. Aber erwischt hatten sie ihn nie.

      „Eno, für dich beginnt heute ein neues, aufregendes Leben. Du erhältst einen Platz am Ghilbi-Institut, unserer renommiertesten Forschungseinrichtung für Luftverbesserung. Dein Wohnort bleibt selbstverständlich unser herrliches Jaikong. Ich bitte um Applaus für den Jahrgangsbesten.“

      Alle klatschten. Ich freute mich ehrlich für Eno. Er hatte es wirklich verdient.

      Nach und nach wurden die anderen unseres Jahrgangs aufgerufen. Ich war es gewohnt, dass Quinn und ich zum Schluss an die Reihe kamen. Alle durften in Jaikong bleiben. Nur Ropex nicht und Amali, seine Freundin. Ich weiß nicht, wie oft die beiden im letzten Jahr die Schule geschwänzt hatten. Es wunderte mich ehrlich gesagt nicht, dass sie die Abschlussprüfungen vergeigt hatten. Sie mussten in den dritten Industrie-Ring. Lebenserwartung 40 Jahre. Obwohl ich sie nicht mochte, taten mir die beiden echt leid.

      „Woodburn, Quinn!“

      Quinn stieß mich mit dem Ellenbogen sanft in die Seite und lächelte mir zu. „Heute Abend feiern wir“, sagte er.

      Ich nickte. Mein Mund fühlte sich trocken an, als wäre er voller Sand.

      Auf der Treppe zur Bühne nahm Quinn immer zwei Stufen auf einmal.

      „Quinn, du bist ein hervorragender Sportler“, begann Counselor Killari. „Ja, ich war in der Vincoon- Schulmannschaft und habe in der letzten Saison 3725 Punkte geholt.“

      Der Mann vom Ministerium nickte. Dann sagte er mit einem Bedauern in der Stimme: „Aber in den anderen Unterrichtsfächern konntest du nicht punkten.“

      Quinn stutzte. „Ja, schon, aber …“ Dann verstummte er.

      „Quinn Woodburn, ich freue mich, so einen begabten jungen Vincoon-Spieler kennenzulernen. Das hat man nicht alle Tage.“

      „Nur alle zehn Jahre“, murmelte Quinn.

      Killari zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. „Ja, deine Leistung in Sport war hervorragend. Trotzdem ist deine Abschlussnote nur eine 4,1. Das reicht leider nicht für einen Platz bei den Aeronauten. Deine Zuweisung lautet: Dritter Industrie-Ring. Alles Weitere wird sich dort finden.“

      Eine Vier? Das konnte doch nicht wahr sein. Ich hatte meine Ergebnisse noch mit Quinn verglichen. So mies war er bestimmt nicht gewesen.

      Quinn glotzte Counselor Killari an. Sein Mund stand offen und seine Schultern hingen plötzlich vorneüber.

      „Aber …“, stammelte er.

      Counselor Killari deutete mit dem Kopf zu den anderen. Dort sollte sich Quinn hinstellen.

      „Jeder bekommt den Platz in der Gesellschaft, der ihm zusteht. Jeder hat die gleichen Chancen. Es kommt darauf an, sie zu nutzen. Auch in den Industrie-Ringen gibt es Vincoon-Teams und Arbeit, die die Gesellschaft voranbringt.“

      „Aber ich …“, murmelte Quinn. Fassungslos trottete er zu den anderen.

      Nein, sie durften Quinn nicht in den Industrie-Ring schicken. Ich würde Quinn nicht gehen lassen.

      „Zookie, Kalana“, riss mich Counselor Killari aus meiner Erstarrung.

      Ich schreckte hoch und stolperte zur Bühne. Ein ordentlicher Gang war doch das Mindeste, was ich als Schauspielerin zustande bringen sollte. Ich stellte mir einen roten Teppich vor. Ich würde den Preis als beste Hauptdarstellerin in Empfang nehmen. Ein selbstsicherer Gang und doch bescheiden – das war es, was das Publikum von Stars erwartete. Als ich meinen Rücken durchdrückte und würdevoll die Treppe hinaufschreiten wollte, blieb ich irgendwie mit dem bescheuerten Absatz hängen. Ausgerechnet mein ehemaliger Mathelehrer, der rechts von der Bühne stand, fing mich auf.

      Ein paar Idioten im Publikum lachten.

      „Du musst nicht nervös sein, Kalana. Alles wird sich fügen“, murmelte mir der Mathelehrer aufmunternd zu. Dabei hatte ich schon einkalkuliert, dass ich in Mathe eine miese Note bekam. Wenn sogar er mir Mut machte, konnte nichts schiefgegangen sein. Der Mathelehrer schob mich zur Bühne hoch.

      „Kalana, komm bitte ein bisschen näher“, sagte Counselor Killari.

      Ich nickte, statt zu gehen.

      Ein paar aus dem Publikum kicherten.

      „Talent als Schauspielerin hast du bestimmt.“

      „Danke.“

      „Ich kann mir gut vorstellen, dass du Erfolg auf der Bühne haben wirst …“

      Ich deutete einen Knicks an.

      „… wenn du nicht stolperst.“

      Die Trottel im Publikum lachten wieder.

      „Ich könnte mir vorstellen, dass es auch im dritten Industrie-Ring eine vielversprechende Schauspielgruppe gibt.“

      Was redete der da? Dritter Industrie-Ring?

      „Kalana, du hast einen Notendurchschnitt von 3,9 erreicht. Selbst in der Theaterklasse reichte es nur für eine Drei. Ich denke, der dritte Industrie-Ring ist eine passende Umgebung für dich. Du wirst dich dort wohlfühlen, wo der Leistungsdruck nicht ganz so hoch ist.“

      In den dritten Industrie-Ring? In der Theaterklasse nur eine Drei? Das konnte nicht sein.

      „Ich bedanke mich im Namen des Ministeriums für die überragenden Leistungen in der Abschlussprüfung. Ihr seid wirklich ein ganz außergewöhnlicher Jahrgang. Und nun ist es an der Zeit, gemeinsam zu feiern. Morgen werdet ihr getrennte Wege gehen und eure Kindheit und Jugend für immer hinter euch lassen. Hiermit eröffne ich den Abschlussball.“

      Musik wurde eingespielt. Bassläufe brummten aus den Lautsprechern. Die ersten bewegten sich im Rhythmus dazu.

      Ich stand einfach nur da, reglos wie eine Statue. Ich konnte nicht einmal weinen. Alles um mich herum