Richtung. Als gehörte mein Körper nicht mehr mir, ließ ich es wortlos geschehen.
KAPITEL DREI
Ich wusste nicht mehr, wie ich an den Tisch im Pavillon gekommen war. Quinn und Eno saßen mir gegenüber. In meinen Händen hielt ich ein Glas mit einem rosa Getränk. Es fühlte sich schon ganz warm an. Der schwere Liliengeruch machte es mir fast unmöglich, meine Gedanken zu sortieren. Cube-Musik dröhnte aus den Lautsprechern. Aus den Augenwinkeln sah ich Leute auf der Bühne dazu tanzen. Unsere Schuldirektorin war sich nicht zu blöd, mit Counselor Killari einen Seventytwo zu tanzen. Alle hatten so bescheuert gute Laune. Nur Ropex und Amali hockten niedergeschlagen am Tisch gegenüber. Amalis Gesicht war verschmiert. Ihre ganze Gothic-Schminke war verlaufen. Ich mochte Amali und Ropex trotzdem nicht. Die beiden hatten nie zu uns gehört.
„Kalana! Hörst du mich?“, rief Eno und stupste mich in die Seite.
Ich nickte.
„Seit einer Stunde sitzt du hier, glotzt nur vor dich hin und sagst kein einziges Wort.“
Ich hob meine Schultern und senkte sie. „Was soll ich schon sagen? Herzlichen Glückwunsch! Du hast es geschafft“, seufzte ich. „Du bekommst deinen Traumjob. Aber Quinn und ich müssen raus. Weißt du, was das heißt? Unser Leben wurde gerade mal ein paar Jahrzehnte vorgespult.“
Eno schüttelte unsicher den Kopf. Ohne mich anzusehen murmelte er: „Ich werde alles tun, damit die Luft dort draußen besser wird. Du weißt, es gibt Möglichkeiten den Schadstoffausstoß zu verringern und bessere Filter einzusetzen. Die Luftqualität in den Industrie-Ringen ist eines der drängendsten Probleme unserer Gesellschaft.“
„Du glaubst doch selbst nicht, dass die Regierung dafür Geld ausgibt“, fuhr ich ihn an. Eno redete schon wie diese Leute aus dem Ministerium, dass eben jeder für eine begrenzte Übergangszeit seinen Tribut leisten müsse. „Quinn und ich müssen raus, bekommen noch nur giftigen Dreck zu atmen. Das fühlt sich verdammt beschissen an!“
„Kalana, es wird alles gut werden“, mischte sich Quinn ein. „Spätestens in ein, zwei Jahren lassen sie uns zurück nach Jaikong. Wenn wir hart arbeiten, haben wir eine echte Chance.“
Ich nickte kraftlos. Wie sollten wir uns in den zweiten Industrie-Ring hocharbeiten, dann in den ersten und schließlich zurück nach Jaikong? Das war nicht zu schaffen.
„Außerdem dürfen wir jeden Monat zur Luftkur nach Jaikong“, sagte Quinn.
„Zwei Stunden, du Idiot! Sie stecken dich in eine Kurzelle und Aeronauten richten die ganze Zeit Egalisierer auf dich, nur damit du nicht zu viel frischen Sauerstoff einatmest. Ach entschuldige, ich vergaß, du wärst am liebsten selbst ein Aeronaut geworden.“
„Kalana, du hast es immer noch nicht verstanden. Aeronauten kümmern sich um die Einhaltung der Luftvorschriften. Jeder erhält so viel saubere Luft, wie ihm zusteht. Aeronauten sorgen für die Einhaltung der Gesetze, für Gerechtigkeit. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Zusteht! Phh! Gerechtigkeit! Es ist Scheiße, dass manche Menschen dreckige Luft atmen müssen. Dir ging es immer nur um dein bescheuertes Vincoon und da hätten die Aeronauten eine bequeme Gelegenheit geboten. Wann übernimmst du endlich Verantwortung, Quinn?“
„Hört auf zu streiten“, sagte Eno.
„Ganz genau, lasst uns den Abend genießen.“ Quinn sprang auf und strahlte mich an.
Ich konnte Quinns Unbekümmertheit, oder sollte ich sie besser Dummheit nennen, nicht verstehen.
Da erklangen aus den Lautsprechern die ersten Töne von ForevAir. Mein Herz machte einen Satz. Warum spielten sie mein Lied? Heute wollte ich es ganz bestimmt nicht hören.
Schon hatte mich Quinn an der Hand gepackt und hochgezogen. „Dein Lieblingssong. Komm, Kalana! Wir tanzen.“
Ich wollte nicht tanzen – nicht jetzt. Aber ich hatte keine Kraft, mich zu wehren. Ich ließ mich von Quinn auf die Bühne ziehen, stolperte hinter ihm her. Unsere Direktorin und der Counselor staksten an uns vorbei. Rhythmus schien nicht ihr Ding zu sein. Die anderen aus unserem Abschlussjahrgang taten, als würden sie uns nicht sehen. Sie behandelten uns schon jetzt wie Aussätzige, nur weil wir dem Dritten zugeteilt worden waren. Gestern noch hatten sich die meisten um Quinn bemüht. Viele Mädchen standen auf ihn. Klar, ich mochte Quinn auch und fand ihn süß, aber sagen würde ich ihm das nie im Leben.
Quinn nahm mich an der einen Hand, seinen anderen Arm schlang er um meine Hüfte. Heute war es irgendwie anders. Ich machte einfach die Augen zu. Ich spürte seinen warmen Körper. Sein Aftershave roch nach Zitronengras.
Ich hatte noch nie mit Quinn getanzt, zumindest nicht in echt. Vorgestellt hatte ich es mir oft, wie es wäre, wenn …
Quinn drehte mich zum Refrain. ForevAir, ForevAir, ForevAir!
Warum passierte das ausgerechnet heute? Quinn und ich und Eno waren seit Kindertagen die besten Freunde, aber mehr war da nie gewesen. Ich war immer neidisch auf die anderen Mädchen, die Quinn einfach anschmachten konnten.
Ich drehte mich um Quinn, und meine Gedanken wirbelten in Pirouetten. Ich wagte nicht, meine Augen zu öffnen, wollte den Augenblick nicht zerstören. Er durfte nie enden. ForevAir!
Ich fühlte Quinns Bewegungen ganz nah. Ich spürte seinen Atem und dann etwas Weiches auf meinen Lippen. Mein Herz wollte einfach stehen bleiben oder explodieren oder beides zusammen.
Für den Bruchteil einer Sekunde war ich versucht, seinen Kuss zu erwidern.
Dann wurde mir mit einem Schlag klar: Heute war ganz bestimmt nicht der Tag, eine Sache mit Quinn anzufangen. Wie kam der Idiot überhaupt auf diese Idee? Sie hatten uns gerade in den dritten Industrie-Ring verbannt. Ab jetzt ging es nur noch ums Überleben. Dort draußen wurden Menschen wegen ein paar Kartuschen Sauerstoff ausgeraubt und für ein Visum nach Jaikong wurde gemordet. Quinn bog sich die Wirklichkeit zurecht, wie es ihm passte, und meinte wohl, ich wäre ein Teil seiner Traumwelt. Nein, ganz bestimmt nicht! Ich gehörte nicht ihm. Ich war ich, Kalana Zookie.
Wütend riss ich mich aus Quinns Umarmung und knallte ihm eine – voll ins Gesicht. So fest ich nur konnte. Quinn glotzte mich dämlich an und hielt sich die Wange.
Als hätte ich mit diesem Schlag den Strom ausgeknipst, brach die Musik ab. Das letzte ForevAir fiepte kraftlos aus den knisternden Lautsprechern und verlor sich im Nichts. Einige aus unserer Klasse begannen zu klatschen. Andere lachten unsicher. Quinns Gesicht leuchtete knallrot. Quinn konnte nicht damit umgehen, vor anderen bloßgestellt zu werden.
Heulend stolperte ich von der Bühne. Mir war scheißegal, was die anderen dachten. Ich würde sie sowieso nie wiedersehen.
KAPITEL VIER
Am nächsten Morgen saß ich auf einer Metallbank in einem fensterlosen Gang. Hier drinnen war alles mattgrau gedämpft. Selbst die Lampen an der Decke schienen hellgraues Licht zu verströmen. Unsicher blinzelte ich zur Seite. In einen grauen Overall gesteckt hockte dort Amali. Ihre langen Haare, links über dem Ohr ausrasiert, hatte sie zu einem Zopf gebunden. Ihr ungeschminktes Gesicht sah wächsern aus. Ohne die ganze Gothic-Verkleidung wirkte sie so zerbrechlich, als hätte man sie ihres Schutzschildes beraubt.
Um Amalis Hals hing eine Staubmaske mit dem Luftfilter, der wie eine Cremedose aussah. Draußen in den Industrie-Ringen würde er den gröbsten Dreck aus den Lungen fernhalten, aber mehr auch nicht.
Ich wagte nicht, an mir herabzusehen, aber ich fühlte den rauen Stoff eines Overalls kratzig auf meiner Haut.
Gegenüber saßen Ropex und daneben Quinn. Ich erschrak, als ich sein zugeschwollenes Auge sah. Ich hatte ihn nicht verletzen wollen!
Quinn schien durch mich hindurchzusehen. Sein Overall war blaugrau. Selbst darin sah er irgendwie cool aus. Quinn sah immer gut aus. Ich ärgerte mich über diesen bescheuerten Gedanken. Mein Leben wurde gerade auf der Müllhalde von Jaikong abgeladen und ich Idiotin überlegte, wie Quinn aussah.
„Tut mir leid“,