Hubert Wiest

Rußatem


Скачать книгу

lobte Cassaio ausgerechnet Kirk. „Und was willst du uns sagen, Quinn?“

      Erschrocken fuhr Quinn hoch. Ja, Cassaio meinte ihn. Irgendwie musste er auf diesen verdammten Touchscreen gekommen sein.

      „Also, die Aeronauten müssen auch“, stammelte Quinn, um Zeit zu gewinnen. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte.

      „Ja?“

      Diese zwei Buchstaben brachten Quinns Gehirn fast zum Stillstand. Dahinter verbarg sich keine aufmunternde Frage, es hieß vielmehr „Wenn du jetzt keine vernünftige Antwort lieferst, kannst du auch gleich gehen, wie dieser andere Versager.“ Geschieht dir nur recht, meldete sich jetzt auch noch sein schlechtes Gewissen und Quinn musste an Kalana denken. Kalana, die jetzt irgendwo draußen im dritten Industrie-Ring saß, deren Eltern von den Phunks bei einem Anschlag ermordet wurden. Und plötzlich fiel Quinn die Antwort ganz leicht: „Eine weitere Aufgabe der Aeronauten ist es, Jaikong von Phunks zu säubern, um dauerhaften Frieden zu gewährleisten.“

      „Ja, so könnte man sagen“, meinte Cassaio und nickte wohlwollend. „Die Phunks-Terroristen, oder PT, sind eine ernste Bedrohung für die Ordnung in Jaikong und den Industrie-Ringen. Die PT fordern ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht aller Menschen in Jaikong. Aber das würde zu Jaikongs Zusammenbruch führen. Die Filteranlagen der Kuppel können unmöglich weitere 30 Millionen Menschen mit gesunder Atemluft versorgen. Und warum sollten Menschen, die nicht bereit waren, alles für Jaikong zu geben, den Bewohnern Jaikongs die Lebensgrundlage entziehen? In Jaikong erhält jeder die gleiche Chance. Alle durchlaufen dasselbe Schulsystem. Es ist nur gerecht, wenn die Leistungsträger der Gesellschaft in Jaikong leben dürfen und die anderen ihre Aufgaben in den Industrie-Ringen versehen. Ich möchte betonen, dass es weder Strafe noch Schande ist, in den Industrie-Ringen zu leben. Im ersten Industrie-Ring ist das Leben kaum schlechter als in Jaikong. In engster Nachbarschaft zur großen Kuppel sind noch viele positive Lufteffekte wahrzunehmen. Und selbst weiter draußen im vierten oder fünften Industrie-Ring ist Leben noch lebenswert. Kein Mensch muss verhungern oder verdursten. Die Anforderungen sind geringer und bieten ein ansprechendes Umfeld für Minderleister. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, sich durch persönlichen Einsatz nach oben zu arbeiten. Auch Arbeitern aus dem Fünften ist es schon gelungen, sich bis nach Jaikong hochzudienen. Das kommt nicht einmal so selten vor.“

      Diese Worte beruhigten Quinn ungemein. Wenn es sogar Menschen aus dem Fünften schaffen, wäre es für Kalana gar kein Problem. Und die Lebensqualität im Dritten war gar nicht so schlecht. Es kam nur darauf an, was man daraus machte.

      KAPITEL SECHS

      Die Transportkapsel schoss über die Schienen. Wehmütig blickte ich ein letztes Mal zurück auf das Meer glitzernder Hochhäuser. Ich vermisste schon jetzt die nie enden wollende Hektik der schlaflosen Stadt, die mir immer Geborgenheit gegeben hatte. Ich liebte es, in der Anonymität der Masse unterzutauchen und mich darin treiben zu lassen. Ich liebte es, Menschen zu beobachten. Ich studierte ihre Bewegungen, die gleich und doch so unterschiedlich waren. Alle jagten nur einem Ziel hinterher: Ihr Leben in Jaikong zu bewahren, abzusichern.

      Amali schluchzte immer noch. Sie hing an Ropex’ Arm. Sie war wenigstens mit ihrem Märchenprinzen zusammen. Was machte es da schon aus, im Dritten leben zu müssen. Immer hatte ich die beiden Gothic-Punks belächelt, mit ihren an der Seite rasierten Haaren, den fingerbreiten Lidstrichen und den schwarzen Klamotten mit lächerlich klimpernden Schnallen. Aber jetzt war ich neidisch auf ihr Glück.

      Ich zog meine Mundwinkel nach oben. Frau Alenkowa hatte einmal gesagt: Eine gute Schauspielerin lebt ihre Rolle, jeden Augenblick. Wenn du lachst, sei wirklich glücklich. Wenn du weinst, sei wirklich traurig. Und es klappte meistens. Wenn ich ein Lächeln auf meine Lippen zwang, fühlte ich ein wenig Glück durch meine Adern fließen. Doch heute wollte es nicht funktionieren, so sehr ich auch die Mundwinkel nach oben zog. Mir war zum Heulen zumute.

      Quinn, dieses Riesenarschloch, hatte mich sitzen lassen. Eigentlich bereute ich die Ohrfeige von gestern kaum noch. Früher hatte ich gedacht, dass Quinn auf liebenswerte Art verplant war. Jetzt wusste ich, dass er ein gnadenloser Egoist war.

      Die Transportkapsel tauchte in den Tunnel, der unter der Kuppel nach draußen führte. Ich lehnte mich zurück und versuchte, einen allerletzten Blick auf den zart grauen Himmel zu erhaschen. Alles vor meinen Augen verschwamm. Stumm ließ ich die Tränen über die Wangen laufen. Ich wollte nicht in das hysterische Schluchzen von Amali einfallen.

      Nur für Sekunden rasten wir zischend durch den Untergrund. Dann schoss die Transportkapsel wieder nach oben. Mein Magen fühlte sich an, als würde er umgestülpt. Das tiefe Schwarz des Tunnels wich einem gelblichen Braun. Willkommen im ersten Industrie-Ring!

      Im Smog links und rechts der Schienen zogen sich fensterlose Hallen scheinbar endlos bis zum Horizont. Kein Architekt hatte sich die Mühe gemacht, den rechteckigen Quadern eine Identität zu geben. Sie waren nur durchnummeriert. Willkommen in deinem neuen Leben, Kalana. Ich spürte einen Hustenreiz, obwohl die Transportkapsel bestimmt über eine ordentliche Filteranlage verfügte. Und im ersten Industrie-Ring musste die Luft fast noch erträglich sein. Hier wurde nichts produziert. Da gab es nur Lager: Warenlager, Bauteillager, Zwischenlager, Umschlaglager, Logistikzentren und so weiter. Der Air Quality Index kletterte selten höher als 1000. Das war ein Wert, den man fast noch als gesund bezeichnen konnte und trotzdem sah alles trist und düster aus. Über den Stand der Sonne konnte man höchstens spekulieren.

      „Wir müssen uns in den ersten Industrie-Ring hocharbeiten. Dort suchen wir uns gemütliche Jobs und genießen das Leben. Gute Clubs soll es hier auch geben“, sagte Ropex. Ich wollte schon etwas antworten, aber natürlich meinte er nicht mich. Er sah Amali tief in die Augen. Sie schniefte. Es klang fast zuversichtlich.

      Je weiter wir fuhren, umso undurchdringlicher wurde die Luft. Die Sichtweite schrumpfte Meter um Meter.

      Schließlich passierten wir die Grenze zum zweiten Industrie-Ring und irgendwann erreichten wir den dritten. Der Air Quality Index lag jetzt bei 2390. Noch nie hatte ich so dreckige Luft gesehen. Es war unmöglich zu erkennen, ob neben der Schienentrasse Hallen lagen oder wir durch eine verwüstete Landschaft fuhren. Undurchdringliches Grau umgab uns wie eine staubige Pferdedecke. Selbst hier drinnen in der Transportkapsel war der Dreck zu riechen. Ich gab dem Hustenreiz nach und wusste, dass dieser mich nicht mehr aus seinen Klauen lassen würde.

      Irgendwann quietschten die Bremsen. Wir wurden langsamer, rollten aus und blieben schließlich stehen. Die Tür öffnete sich. Ropex kletterte als Erster aus der Kapsel und strich seinen Scheitel zurecht, als gäbe es hier draußen nichts Wichtigeres, als gut auszusehen. Amali ließ sich von ihm heraushelfen. Auf dem Bahnsteig bewegten sich ein paar Gestalten. Sie gingen langsam und geduckt. Ich sah nur ihre Umrisse.

      Ich fühlte mich wie in einen Staubsaugerbeutel gesperrt. Das Kratzen in meinem Hals ließ sich nicht weg husten. Es grub sich immer tiefer ein. War hier überhaupt noch Sauerstoff in der Luft?

      Ropex deutete auf seine Atemmaske und setzte sie auf. Meine baumelte noch um den Hals. Ich schob sie über Mund und Nase und zog sie ganz fest. Ich hatte Mühe, genügend Luft durch den Filter zu ziehen und meine Lungen mit Luft zu füllen.

      Amali hing an Ropex’ Arm. Sie sah zu ihm auf. Am liebsten hätte ich ihr für diesen schmachtenden Blick eine gescheuert. Quatsch, ich war nicht eifersüchtig. Die Sache mit Quinn hatte ich selbst verbockt. Dafür konnte doch Amali nichts.

      Die vermummten Gestalten auf dem Bahnsteig waren eilig im Smog verschwunden. Ich konnte niemanden mehr sehen.

      Pfeifend beschleunigte die Transportkapsel in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich blickte ihr sehnsüchtig nach. Im nächsten Augenblick war sie ganz verschwunden.

      „Und jetzt?“, fragte ich unsicher.

      „Amali und ich gehen zur Ringverwaltung“, sagte Ropex.

      „Kannst ja mitkommen“, schlug Amali vor.

      Ich nickte und war froh, nicht ganz alleine zu sein.

      Wir folgten den schwach glimmenden Pfeilen im